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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

alle Leute, die nach einer lustigen Jugend später Rigoristen werden, die
schlechteste Meinung von der Jugend, setzte als selbstverständlich voraus, daß
wir faul wären und die Zeit verbummelten, wenn man uns nicht kurz hielte
und streng beaufsichtigte, und ordnete an, daß wir am Schluß jedes Semesters
einer Prüfung unterworfen würden, von deren Ausfall die Fortgewährung des
Freiquartiers und der halben Kost, die wir genossen, abhängen sollte. Ohnehin
hatten wir am Ende jedes Semesters eine Prüfung bei der Fakultät zu be¬
stehen sür die königlichen Freitische: das Krippenexamen. Professor Stern nun,
der Konviktspräfekt, sagte uns, er betrachte die Anordnung des Fürstbischofs
als eine Beleidigung der Fakultät, deren Mitglied er sei, indem die von dieser
vorgcnommne Prüfung als wertlos behandelt werde, und gab uns zu ver¬
stehen, wir mochten uns weigern, uns exciminiren zu lassen. Am festgesetzten
Tage nun versammelten wir uns im Speisesaale, und als der zweite Exami¬
nator, den der Fürstbischof ernannt hatte, der ihm eng befreundete und am
Dom bepfründete Reinkens, erschien, gab Stern diesem die vorbereitete Erklä¬
rung ab, und wir thaten desgleichen. Reinkens erklärte, das müsse er schwarz
auf weiß haben. Es wurde also ein Protokoll aufgesetzt, das Stern und wir
Konviktoristen unterschrieben. Kurze Zeit nachher kam der Generalvikar Neu-
kirch ins Konvikt, fragte, ob alle ohne Ausnahme unterschrieben hätten, und
erklärte auf unsre bejahende Antwort im Namen des Fürstbischofs das Konvikt
für aufgelöst; am nächsten Tage sollten wirs räumen. Am Nachmittag des¬
selben Tages aber gingen drei von den frömmsten und zum Gehorsam ge¬
neigtesten Konviktoristen zum Fürstbischof und baten im Namen aller um Ver¬
zeihung, obwohl sie uns übrigen nichts gesagt hatten. Natürlich war der
Bischof sehr froh darüber, mit guter Manier aus der Verlegenheit herauszu¬
kommen, in die er sich durch seine Schneidigkeit versetzt hatte, und wir waren
nicht weniger froh, obgleich wir thaten, als wären wir sehr böse, und den
dreien die heftigsten Vorwürfe machten. Am andern Morgen wurden wir
MÄisnÄrmr vsrburn in die Residenz befohlen. Dort hielt uns der Bischof eine
Strafpredigt, die mit der Ankündigung der Verzeihung und dem Widerruf der
Auflösung schloß, und dann meldete sich zu unserm höchsten Erstaunen Kom-
milito W. zum Wort. Das war ein ehrlicher und gescheiter Mensch, aber ein
Sonderling und vou einem Eigensinn, der sich in seiner körperlichen Steif-
nackigkeit so deutlich ausprägte, daß wir ihn den Stangenverschlucker nannten.
Dieser kuriose Kauz nun hielt dem Fürstbischof eine lange Strafpredigt, worin
er alle Mängel der Diözesanverwaltung im allgemeinen und der Konvikts-
verwaltung im besondern rügte. Alle verzweifelten Geberden des Fürstbischofs
vor ihm und all unser Zupfen von hinten half nichts; die steife Figur schnurrte
die wohldurchdachte Rede wie ein Automat herunter, und es blieb nichts
übrig, als sie ausschuurren zu lassen. Draußen kriegten wir dann den Lach-
krampf, und Förster wird ihn drin wohl auch bekommen haben. Mit dem


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

alle Leute, die nach einer lustigen Jugend später Rigoristen werden, die
schlechteste Meinung von der Jugend, setzte als selbstverständlich voraus, daß
wir faul wären und die Zeit verbummelten, wenn man uns nicht kurz hielte
und streng beaufsichtigte, und ordnete an, daß wir am Schluß jedes Semesters
einer Prüfung unterworfen würden, von deren Ausfall die Fortgewährung des
Freiquartiers und der halben Kost, die wir genossen, abhängen sollte. Ohnehin
hatten wir am Ende jedes Semesters eine Prüfung bei der Fakultät zu be¬
stehen sür die königlichen Freitische: das Krippenexamen. Professor Stern nun,
der Konviktspräfekt, sagte uns, er betrachte die Anordnung des Fürstbischofs
als eine Beleidigung der Fakultät, deren Mitglied er sei, indem die von dieser
vorgcnommne Prüfung als wertlos behandelt werde, und gab uns zu ver¬
stehen, wir mochten uns weigern, uns exciminiren zu lassen. Am festgesetzten
Tage nun versammelten wir uns im Speisesaale, und als der zweite Exami¬
nator, den der Fürstbischof ernannt hatte, der ihm eng befreundete und am
Dom bepfründete Reinkens, erschien, gab Stern diesem die vorbereitete Erklä¬
rung ab, und wir thaten desgleichen. Reinkens erklärte, das müsse er schwarz
auf weiß haben. Es wurde also ein Protokoll aufgesetzt, das Stern und wir
Konviktoristen unterschrieben. Kurze Zeit nachher kam der Generalvikar Neu-
kirch ins Konvikt, fragte, ob alle ohne Ausnahme unterschrieben hätten, und
erklärte auf unsre bejahende Antwort im Namen des Fürstbischofs das Konvikt
für aufgelöst; am nächsten Tage sollten wirs räumen. Am Nachmittag des¬
selben Tages aber gingen drei von den frömmsten und zum Gehorsam ge¬
neigtesten Konviktoristen zum Fürstbischof und baten im Namen aller um Ver¬
zeihung, obwohl sie uns übrigen nichts gesagt hatten. Natürlich war der
Bischof sehr froh darüber, mit guter Manier aus der Verlegenheit herauszu¬
kommen, in die er sich durch seine Schneidigkeit versetzt hatte, und wir waren
nicht weniger froh, obgleich wir thaten, als wären wir sehr böse, und den
dreien die heftigsten Vorwürfe machten. Am andern Morgen wurden wir
MÄisnÄrmr vsrburn in die Residenz befohlen. Dort hielt uns der Bischof eine
Strafpredigt, die mit der Ankündigung der Verzeihung und dem Widerruf der
Auflösung schloß, und dann meldete sich zu unserm höchsten Erstaunen Kom-
milito W. zum Wort. Das war ein ehrlicher und gescheiter Mensch, aber ein
Sonderling und vou einem Eigensinn, der sich in seiner körperlichen Steif-
nackigkeit so deutlich ausprägte, daß wir ihn den Stangenverschlucker nannten.
Dieser kuriose Kauz nun hielt dem Fürstbischof eine lange Strafpredigt, worin
er alle Mängel der Diözesanverwaltung im allgemeinen und der Konvikts-
verwaltung im besondern rügte. Alle verzweifelten Geberden des Fürstbischofs
vor ihm und all unser Zupfen von hinten half nichts; die steife Figur schnurrte
die wohldurchdachte Rede wie ein Automat herunter, und es blieb nichts
übrig, als sie ausschuurren zu lassen. Draußen kriegten wir dann den Lach-
krampf, und Förster wird ihn drin wohl auch bekommen haben. Mit dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/536>, abgerufen am 03.07.2024.