Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.Wandlungen des Ich im Zeitenstrome der ich schwamm, nicht würde mitschwimmen können: sür Fanatismus und Ich bin dann nicht mehr in die Sandkirche gegangen, nur den Pfarrer Wandlungen des Ich im Zeitenstrome der ich schwamm, nicht würde mitschwimmen können: sür Fanatismus und Ich bin dann nicht mehr in die Sandkirche gegangen, nur den Pfarrer <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0532" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219534"/> <fw type="header" place="top"> Wandlungen des Ich im Zeitenstrome</fw><lb/> <p xml:id="ID_1577" prev="#ID_1576"> der ich schwamm, nicht würde mitschwimmen können: sür Fanatismus und<lb/> Bigotterie war ich unzugängliche Beide Richtungen des religiösen Lebens<lb/> wurden damals in der Sandkirche gepflegt. Die drei Geistlichen dieser Kirche<lb/> waren in allem, so auch in ihren Geberden exaltirt, und man pflegte ihre<lb/> eigentümlichen Gestikulationen mit dem Sprüche! zu charakterisieren: der erste<lb/> wirfts runter, der zweite sedes auf, und der dritte nagelts an. Den Vertreter<lb/> der Bigotterie, Kuratus Sy., habe ich nur zweimal gehört. Beidemal wurde<lb/> mir übel zum Erbrechen. Das erstemal begrüßte er seine lieben Zuhörer<lb/> und namentlich ZuHörerinnen, von denen er durch kurze Wirksamkeit an einer<lb/> andern Kirche getrennt gewesen war, in einer so geschmacklos überschwäng-<lb/> lichen und süßlichen Weise wieder, daß es sür einen Mann schlechterdings<lb/> nicht zum Anhören war. Die Betschwestern vergötterten den Mann; sie sollen<lb/> des Morgens in Scharen auf den Treppenstufen seiner Wohnung gelegen<lb/> haben, um ihn beim Erscheinen zu begrüßen und den Saum seines Gewandes<lb/> zu berühren. Das zweitemal predigte er über das abgeschmackteste aller<lb/> Dogmen: die unbefleckte Empfängnis. Das heißt, damals war sie noch nicht<lb/> Dogma, aber die Betschwestern der ganzen Welt, die den Papst selber zum<lb/> Bundesgenossen hatten, waren eben daran, dieses Dogma in Rom durchzu¬<lb/> drücken, und benahmen sich dabei gegen ihre Gegner ungefähr so, wie heute<lb/> der Bund der Landwirte gegen die „Feinde der Landwirtschaft." In jener<lb/> Predigt nun wurde der Mann rein toll auf der Kanzel. Er raste förmlich und<lb/> schrie u. a. mit gräßlichen Geberden: „Allmächtiger, heiliger Gott, wie kannst<lb/> du diese Ruchlosen ertragen und auf dem Angesicht der Erde dulden, die deine<lb/> allerheiligste Mutter — sei es auch nur für einige Augenblicke — den Krallen<lb/> des Satans überantworten wollen!" Die Phrase war nicht allein scheußlich,<lb/> sondern klang auch für jeden, der mit jenem theologischen Streite einiger¬<lb/> maßen bekannt war, höchst lächerlich; hatte doch der Dominikanerorden, der<lb/> Gründer und Träger der Inquisition und der eifrigste Interpret seines größten<lb/> Lichtes, des Thomas von Aquin, stets zu den entschiedensten Gegnern der<lb/> „unbefleckten Empfängnis" gehört. Aber es giebt in der Kirche wie im Staate<lb/> nichts so unvernünftiges, was nicht mit rücksichtsloser Agitation und mit<lb/> Lungenkraft durchgesetzt werden könnte. Auch diesmal wurde mir übel, und<lb/> ich Hütte mich gern gedrückt, aber es war keine Möglichkeit, aus dem Ge¬<lb/> dränge herauszukommen. Der Marienverehrung konnte ich überhaupt keinen<lb/> Geschmack abgewinnen. Später, als Kaplan in sah., fand ich die „Herrlich¬<lb/> keiten Maria" des Alfons von Liguori im Kirchenbetstuhl. Ich schlug das<lb/> Buch auf, aber da ich gleich im Anfange den abgeschmackten Satz las, Christus<lb/> sei zwar das Haupt, aber Maria der Hals, durch den die Gnaden des Hauptes<lb/> den Gliedern zuflössen, so klappte ich es wieder zu. und habe es nicht wieder<lb/> aufgeschlagen, obwohl ich es vier Jahre lang täglich vor mir hatte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1578" next="#ID_1579"> Ich bin dann nicht mehr in die Sandkirche gegangen, nur den Pfarrer</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0532]
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
der ich schwamm, nicht würde mitschwimmen können: sür Fanatismus und
Bigotterie war ich unzugängliche Beide Richtungen des religiösen Lebens
wurden damals in der Sandkirche gepflegt. Die drei Geistlichen dieser Kirche
waren in allem, so auch in ihren Geberden exaltirt, und man pflegte ihre
eigentümlichen Gestikulationen mit dem Sprüche! zu charakterisieren: der erste
wirfts runter, der zweite sedes auf, und der dritte nagelts an. Den Vertreter
der Bigotterie, Kuratus Sy., habe ich nur zweimal gehört. Beidemal wurde
mir übel zum Erbrechen. Das erstemal begrüßte er seine lieben Zuhörer
und namentlich ZuHörerinnen, von denen er durch kurze Wirksamkeit an einer
andern Kirche getrennt gewesen war, in einer so geschmacklos überschwäng-
lichen und süßlichen Weise wieder, daß es sür einen Mann schlechterdings
nicht zum Anhören war. Die Betschwestern vergötterten den Mann; sie sollen
des Morgens in Scharen auf den Treppenstufen seiner Wohnung gelegen
haben, um ihn beim Erscheinen zu begrüßen und den Saum seines Gewandes
zu berühren. Das zweitemal predigte er über das abgeschmackteste aller
Dogmen: die unbefleckte Empfängnis. Das heißt, damals war sie noch nicht
Dogma, aber die Betschwestern der ganzen Welt, die den Papst selber zum
Bundesgenossen hatten, waren eben daran, dieses Dogma in Rom durchzu¬
drücken, und benahmen sich dabei gegen ihre Gegner ungefähr so, wie heute
der Bund der Landwirte gegen die „Feinde der Landwirtschaft." In jener
Predigt nun wurde der Mann rein toll auf der Kanzel. Er raste förmlich und
schrie u. a. mit gräßlichen Geberden: „Allmächtiger, heiliger Gott, wie kannst
du diese Ruchlosen ertragen und auf dem Angesicht der Erde dulden, die deine
allerheiligste Mutter — sei es auch nur für einige Augenblicke — den Krallen
des Satans überantworten wollen!" Die Phrase war nicht allein scheußlich,
sondern klang auch für jeden, der mit jenem theologischen Streite einiger¬
maßen bekannt war, höchst lächerlich; hatte doch der Dominikanerorden, der
Gründer und Träger der Inquisition und der eifrigste Interpret seines größten
Lichtes, des Thomas von Aquin, stets zu den entschiedensten Gegnern der
„unbefleckten Empfängnis" gehört. Aber es giebt in der Kirche wie im Staate
nichts so unvernünftiges, was nicht mit rücksichtsloser Agitation und mit
Lungenkraft durchgesetzt werden könnte. Auch diesmal wurde mir übel, und
ich Hütte mich gern gedrückt, aber es war keine Möglichkeit, aus dem Ge¬
dränge herauszukommen. Der Marienverehrung konnte ich überhaupt keinen
Geschmack abgewinnen. Später, als Kaplan in sah., fand ich die „Herrlich¬
keiten Maria" des Alfons von Liguori im Kirchenbetstuhl. Ich schlug das
Buch auf, aber da ich gleich im Anfange den abgeschmackten Satz las, Christus
sei zwar das Haupt, aber Maria der Hals, durch den die Gnaden des Hauptes
den Gliedern zuflössen, so klappte ich es wieder zu. und habe es nicht wieder
aufgeschlagen, obwohl ich es vier Jahre lang täglich vor mir hatte.
Ich bin dann nicht mehr in die Sandkirche gegangen, nur den Pfarrer
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