Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

die Predigten ihrer Pfarrgeistlichkeit weit ungünstiger zu beurteilen als früher.
Die Jesuiten, so hielt man dem überschwänglichen Lobe der Missionsvortrcige
entgegen, könnten leicht glänzen mit ihren Predigten. Sie brauchten nicht
zwanzig und mehr Jahre lang jährlich sechzigmal vor derselben Zuhörerschaft
zu spreche". Sie predigten nur vierzehn Tage lang vor denselben Zuhörern,
und hielten dann an andern Orten dieselben Predigten, wenn auch nicht
wörtlich, wieder. Fühlten sie sich erschöpft, so zögen sie sich auf einige Monate
in eins ihrer stillen Häuser zurück, um sich da zu erholen und dnrch Studium
für die Vorträge der nächsten Kampagne zu rüsten.

Es gehörte mit zur Mission, daß mau an ihrem Schluß eine General¬
beichte ablegte. Ich konnte bei den Jesuiten, deren Beichtstühle von früh bis
in die Nacht umlagert waren, nicht drankommen und ging schließlich in den
Dom zu einem der dort sitzenden Beichtväter. Dieser legte mir als Buße
die Verpflichtung auf, täglich ein Kapitel in der heiligen Schrift zu lesen.
Ich verstand das so, obwohl dies ohne Zweifel ein Mißverständnis war, daß
die Verpflichtung fürs ganze Leben gelten sollte, und habe diese "Buße"
23 Jahre lang geübt, nur daß ich nicht ein Kapitel täglich las, wobei man
doch zu laugsam vorwärts kam, sondern mehrere, und zwar in der Vulgatci.
Vom Jahre 1875 ab hatte ich andre Anlässe, viel in der Bibel zu lesen, und
seit einigen Jahren lese ich bloß noch Sonntags darin. Das Vußwesen, wie
es schließlich in der katholischen Kirche geworden ist, ist ein wunderliches
Ding, und Gebete oder Bibellesen als Buße aufgeben, gewiß das aller-
wnnderlichste, aber Schaden kann gerade diese Art Buße nicht anrichten.

Die erste Predigt Försters, die ich im Dome zu hören bekam, war eine
mit der oben erwähnten katholischen Bewegung zusammenhängende Sensation(?).
Die protestantische Gegenbewegung hatte u. a. zu einer Kirchenvisitation ge¬
führt, die der Generatsuperinteudent Hahn und der Konsistorialrat Wahn ab¬
hielten. Unter andern Früchten hatte diese Visitation auch ein Schriftchen
gezeitigt, das die unglückselige Strophe enthielt: "Steur' des Papsts und Türken
Mord, die Jesum Christum, deinen Sohn, stoßen wollen von seinem Thron."
Förster berichtete nach der Predigt über die Angelegenheit, las Stellen aus
dem Schriftchen vor, zum Schluß jene drei Verse, und fügte mit eindrucks¬
voller Stimme und Geberde hinzu: "Und das wagt man uns zu sagen!"
Man kann sich denken, wie das wirkte auf eine Versammlung von etlichen
tausend Zuhörern, die sich bewußt waren, gläubige Anbeter Christi zu sein,
und die zugleich wußten, wie wenig man sich im Lager der Gegner um
Christus kümmerte, denn gläubig und fromm geworden ist ja das protestan¬
tische Deutschland, von den Pietisten, Altlutheranern und Herrnhutern ab¬
gesehen, erst wieder seit 1878.

Bei aller Frömmigkeit, die ich selbst damals hegte, wurde ich doch sehr
bald inne, daß es Grenzen gebe, über die hinaus ich mit der Strömung, in


Grenzboten I 1V95 , W
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

die Predigten ihrer Pfarrgeistlichkeit weit ungünstiger zu beurteilen als früher.
Die Jesuiten, so hielt man dem überschwänglichen Lobe der Missionsvortrcige
entgegen, könnten leicht glänzen mit ihren Predigten. Sie brauchten nicht
zwanzig und mehr Jahre lang jährlich sechzigmal vor derselben Zuhörerschaft
zu spreche». Sie predigten nur vierzehn Tage lang vor denselben Zuhörern,
und hielten dann an andern Orten dieselben Predigten, wenn auch nicht
wörtlich, wieder. Fühlten sie sich erschöpft, so zögen sie sich auf einige Monate
in eins ihrer stillen Häuser zurück, um sich da zu erholen und dnrch Studium
für die Vorträge der nächsten Kampagne zu rüsten.

Es gehörte mit zur Mission, daß mau an ihrem Schluß eine General¬
beichte ablegte. Ich konnte bei den Jesuiten, deren Beichtstühle von früh bis
in die Nacht umlagert waren, nicht drankommen und ging schließlich in den
Dom zu einem der dort sitzenden Beichtväter. Dieser legte mir als Buße
die Verpflichtung auf, täglich ein Kapitel in der heiligen Schrift zu lesen.
Ich verstand das so, obwohl dies ohne Zweifel ein Mißverständnis war, daß
die Verpflichtung fürs ganze Leben gelten sollte, und habe diese „Buße"
23 Jahre lang geübt, nur daß ich nicht ein Kapitel täglich las, wobei man
doch zu laugsam vorwärts kam, sondern mehrere, und zwar in der Vulgatci.
Vom Jahre 1875 ab hatte ich andre Anlässe, viel in der Bibel zu lesen, und
seit einigen Jahren lese ich bloß noch Sonntags darin. Das Vußwesen, wie
es schließlich in der katholischen Kirche geworden ist, ist ein wunderliches
Ding, und Gebete oder Bibellesen als Buße aufgeben, gewiß das aller-
wnnderlichste, aber Schaden kann gerade diese Art Buße nicht anrichten.

Die erste Predigt Försters, die ich im Dome zu hören bekam, war eine
mit der oben erwähnten katholischen Bewegung zusammenhängende Sensation(?).
Die protestantische Gegenbewegung hatte u. a. zu einer Kirchenvisitation ge¬
führt, die der Generatsuperinteudent Hahn und der Konsistorialrat Wahn ab¬
hielten. Unter andern Früchten hatte diese Visitation auch ein Schriftchen
gezeitigt, das die unglückselige Strophe enthielt: „Steur' des Papsts und Türken
Mord, die Jesum Christum, deinen Sohn, stoßen wollen von seinem Thron."
Förster berichtete nach der Predigt über die Angelegenheit, las Stellen aus
dem Schriftchen vor, zum Schluß jene drei Verse, und fügte mit eindrucks¬
voller Stimme und Geberde hinzu: „Und das wagt man uns zu sagen!"
Man kann sich denken, wie das wirkte auf eine Versammlung von etlichen
tausend Zuhörern, die sich bewußt waren, gläubige Anbeter Christi zu sein,
und die zugleich wußten, wie wenig man sich im Lager der Gegner um
Christus kümmerte, denn gläubig und fromm geworden ist ja das protestan¬
tische Deutschland, von den Pietisten, Altlutheranern und Herrnhutern ab¬
gesehen, erst wieder seit 1878.

Bei aller Frömmigkeit, die ich selbst damals hegte, wurde ich doch sehr
bald inne, daß es Grenzen gebe, über die hinaus ich mit der Strömung, in


Grenzboten I 1V95 , W
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0531" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219533"/>
          <fw type="header" place="top"> Wandlungen des Ich im Zeitenstrome</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1573" prev="#ID_1572"> die Predigten ihrer Pfarrgeistlichkeit weit ungünstiger zu beurteilen als früher.<lb/>
Die Jesuiten, so hielt man dem überschwänglichen Lobe der Missionsvortrcige<lb/>
entgegen, könnten leicht glänzen mit ihren Predigten. Sie brauchten nicht<lb/>
zwanzig und mehr Jahre lang jährlich sechzigmal vor derselben Zuhörerschaft<lb/>
zu spreche». Sie predigten nur vierzehn Tage lang vor denselben Zuhörern,<lb/>
und hielten dann an andern Orten dieselben Predigten, wenn auch nicht<lb/>
wörtlich, wieder. Fühlten sie sich erschöpft, so zögen sie sich auf einige Monate<lb/>
in eins ihrer stillen Häuser zurück, um sich da zu erholen und dnrch Studium<lb/>
für die Vorträge der nächsten Kampagne zu rüsten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1574"> Es gehörte mit zur Mission, daß mau an ihrem Schluß eine General¬<lb/>
beichte ablegte. Ich konnte bei den Jesuiten, deren Beichtstühle von früh bis<lb/>
in die Nacht umlagert waren, nicht drankommen und ging schließlich in den<lb/>
Dom zu einem der dort sitzenden Beichtväter. Dieser legte mir als Buße<lb/>
die Verpflichtung auf, täglich ein Kapitel in der heiligen Schrift zu lesen.<lb/>
Ich verstand das so, obwohl dies ohne Zweifel ein Mißverständnis war, daß<lb/>
die Verpflichtung fürs ganze Leben gelten sollte, und habe diese &#x201E;Buße"<lb/>
23 Jahre lang geübt, nur daß ich nicht ein Kapitel täglich las, wobei man<lb/>
doch zu laugsam vorwärts kam, sondern mehrere, und zwar in der Vulgatci.<lb/>
Vom Jahre 1875 ab hatte ich andre Anlässe, viel in der Bibel zu lesen, und<lb/>
seit einigen Jahren lese ich bloß noch Sonntags darin. Das Vußwesen, wie<lb/>
es schließlich in der katholischen Kirche geworden ist, ist ein wunderliches<lb/>
Ding, und Gebete oder Bibellesen als Buße aufgeben, gewiß das aller-<lb/>
wnnderlichste, aber Schaden kann gerade diese Art Buße nicht anrichten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1575"> Die erste Predigt Försters, die ich im Dome zu hören bekam, war eine<lb/>
mit der oben erwähnten katholischen Bewegung zusammenhängende Sensation(?).<lb/>
Die protestantische Gegenbewegung hatte u. a. zu einer Kirchenvisitation ge¬<lb/>
führt, die der Generatsuperinteudent Hahn und der Konsistorialrat Wahn ab¬<lb/>
hielten. Unter andern Früchten hatte diese Visitation auch ein Schriftchen<lb/>
gezeitigt, das die unglückselige Strophe enthielt: &#x201E;Steur' des Papsts und Türken<lb/>
Mord, die Jesum Christum, deinen Sohn, stoßen wollen von seinem Thron."<lb/>
Förster berichtete nach der Predigt über die Angelegenheit, las Stellen aus<lb/>
dem Schriftchen vor, zum Schluß jene drei Verse, und fügte mit eindrucks¬<lb/>
voller Stimme und Geberde hinzu: &#x201E;Und das wagt man uns zu sagen!"<lb/>
Man kann sich denken, wie das wirkte auf eine Versammlung von etlichen<lb/>
tausend Zuhörern, die sich bewußt waren, gläubige Anbeter Christi zu sein,<lb/>
und die zugleich wußten, wie wenig man sich im Lager der Gegner um<lb/>
Christus kümmerte, denn gläubig und fromm geworden ist ja das protestan¬<lb/>
tische Deutschland, von den Pietisten, Altlutheranern und Herrnhutern ab¬<lb/>
gesehen, erst wieder seit 1878.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1576" next="#ID_1577"> Bei aller Frömmigkeit, die ich selbst damals hegte, wurde ich doch sehr<lb/>
bald inne, daß es Grenzen gebe, über die hinaus ich mit der Strömung, in</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1V95 , W</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0531] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome die Predigten ihrer Pfarrgeistlichkeit weit ungünstiger zu beurteilen als früher. Die Jesuiten, so hielt man dem überschwänglichen Lobe der Missionsvortrcige entgegen, könnten leicht glänzen mit ihren Predigten. Sie brauchten nicht zwanzig und mehr Jahre lang jährlich sechzigmal vor derselben Zuhörerschaft zu spreche». Sie predigten nur vierzehn Tage lang vor denselben Zuhörern, und hielten dann an andern Orten dieselben Predigten, wenn auch nicht wörtlich, wieder. Fühlten sie sich erschöpft, so zögen sie sich auf einige Monate in eins ihrer stillen Häuser zurück, um sich da zu erholen und dnrch Studium für die Vorträge der nächsten Kampagne zu rüsten. Es gehörte mit zur Mission, daß mau an ihrem Schluß eine General¬ beichte ablegte. Ich konnte bei den Jesuiten, deren Beichtstühle von früh bis in die Nacht umlagert waren, nicht drankommen und ging schließlich in den Dom zu einem der dort sitzenden Beichtväter. Dieser legte mir als Buße die Verpflichtung auf, täglich ein Kapitel in der heiligen Schrift zu lesen. Ich verstand das so, obwohl dies ohne Zweifel ein Mißverständnis war, daß die Verpflichtung fürs ganze Leben gelten sollte, und habe diese „Buße" 23 Jahre lang geübt, nur daß ich nicht ein Kapitel täglich las, wobei man doch zu laugsam vorwärts kam, sondern mehrere, und zwar in der Vulgatci. Vom Jahre 1875 ab hatte ich andre Anlässe, viel in der Bibel zu lesen, und seit einigen Jahren lese ich bloß noch Sonntags darin. Das Vußwesen, wie es schließlich in der katholischen Kirche geworden ist, ist ein wunderliches Ding, und Gebete oder Bibellesen als Buße aufgeben, gewiß das aller- wnnderlichste, aber Schaden kann gerade diese Art Buße nicht anrichten. Die erste Predigt Försters, die ich im Dome zu hören bekam, war eine mit der oben erwähnten katholischen Bewegung zusammenhängende Sensation(?). Die protestantische Gegenbewegung hatte u. a. zu einer Kirchenvisitation ge¬ führt, die der Generatsuperinteudent Hahn und der Konsistorialrat Wahn ab¬ hielten. Unter andern Früchten hatte diese Visitation auch ein Schriftchen gezeitigt, das die unglückselige Strophe enthielt: „Steur' des Papsts und Türken Mord, die Jesum Christum, deinen Sohn, stoßen wollen von seinem Thron." Förster berichtete nach der Predigt über die Angelegenheit, las Stellen aus dem Schriftchen vor, zum Schluß jene drei Verse, und fügte mit eindrucks¬ voller Stimme und Geberde hinzu: „Und das wagt man uns zu sagen!" Man kann sich denken, wie das wirkte auf eine Versammlung von etlichen tausend Zuhörern, die sich bewußt waren, gläubige Anbeter Christi zu sein, und die zugleich wußten, wie wenig man sich im Lager der Gegner um Christus kümmerte, denn gläubig und fromm geworden ist ja das protestan¬ tische Deutschland, von den Pietisten, Altlutheranern und Herrnhutern ab¬ gesehen, erst wieder seit 1878. Bei aller Frömmigkeit, die ich selbst damals hegte, wurde ich doch sehr bald inne, daß es Grenzen gebe, über die hinaus ich mit der Strömung, in Grenzboten I 1V95 , W

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/531
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/531>, abgerufen am 23.07.2024.