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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die protestantische Airche und die soziale Frage

der gute Mann würde schlimme Erfahrungen machen, und vielleicht die aller-
schlimmsten bei denen, unter deren Schutz er zu handeln geglaubt hat; denn
auch bei den kirchlichen Behörden stehen die Thüren ans, weit und breit, sür
die, die Klage führen über die Taktlosigkeit und den Unverstand solcher un¬
fähigen Geistlichen, die die Welt nicht kennen und Unzufriedenheit nähren.
Selbst Uhlhorn ruft ein Wehe über solche Kirchenbehvrden, die eiligst Klagen
annehmen und dadurch die Kirche zur Polizeianstalt machen und sie selbst
korrumpiren.

Dazu kommt, daß ein solcher Geistlicher, abgesehen davon, daß er sich
selbst in Bitternis bringt, absolut nichts ändern wird, weil eben nichts ge¬
ändert werden kann. Denn alle die oben erwähnten Hindernisse, und noch
viele andre mit ihnen, sind nichts als Glieder in dem ganzen Räderwerke, die
man nicht ausbrechen kann, ohne das Räderwerk zu zerstören.

Man sage nicht, solche Zustände seien nicht normal, auf dein Lande seien
die Verhältnisse anders, da könne in der Ortsgemeinde viel ausgerichtet werden.
Ohne Zweifel wird das bis zu bestimmten Grenzen richtig sein, obwohl die
Großindustrie in Gestalt von Zucker-, Sirup-, Konserven- und Schnapsfabriken
auch auf dem Lande die weiteste Ausdehnung gefunden hat. Mir selbst ist
fast kein Dorf bekannt, das nicht durch eine in der Nähe befindliche Gro߬
industrieanstalt beeinflußt würde. Dazu kommt, daß sich die Landwirtschaft,
namentlich in größern Gütern und Domänen, längst von allen altpatriarchalischen
Grundsätzen losgemacht hat und sich zu denen der Großindustrie bekennt. Der
Unterschied des Betriebs in einer Domäne und einer Fabrik besteht fast nur
in dem Produkt, aber uicht in den leitenden Grundsätzen.

Gesetzt aber nun, der Prediger einer Ortsgemeinde, sei es in der Stadt
oder auf dem Lande, erreichte es durch die geordnete Predigt und Seel¬
sorge, daß entweder die geplante Sirup-, Schnaps- u. s. w. Fabrik gar nicht
gebaut würde, oder daß, wenn sie schon in Betrieb gesetzt ist, die Sonntags¬
ruhe u. s. w. streng durchgeführt würde; wäre, frage ich, mit diesem zwar sehr
unwahrscheinlichen, aber sehr günstigen Ergebnis auch nur das geringste er¬
reicht für die Aufgabe, an deren Lösung die Kirche mitarbeiten will? Ich sage
nein; denn es handelt sich ja gar nicht um das Wohlbefinden einzelner
Seelen, sondern um die gegenwärtige Wirtschaftsordnung überhaupt. Diese
würde durch das einzelne Ereignis auch nicht im geringsten gestört werden,
ganz gewiß aber würde die unter ganz besondern Umständen ausnahmsweise
erreichte Besserung in der örtlichen Produktion in der neuesten Zeit, sobald
die besondern Umstände weggefallen wären, wieder zurückgenommen werden!
In der Ortsgemeinde, das spricht auch Nathusius ausdrücklich aus, kann
die soziale Frage nicht gelöst werden.

Wenn der Prediger durch Predigt und Seelsorge in seiner Gemeinde
soziale Anstalten errichtet, z. B. der Arbeitslosigkeit durch einen neuen, von


Die protestantische Airche und die soziale Frage

der gute Mann würde schlimme Erfahrungen machen, und vielleicht die aller-
schlimmsten bei denen, unter deren Schutz er zu handeln geglaubt hat; denn
auch bei den kirchlichen Behörden stehen die Thüren ans, weit und breit, sür
die, die Klage führen über die Taktlosigkeit und den Unverstand solcher un¬
fähigen Geistlichen, die die Welt nicht kennen und Unzufriedenheit nähren.
Selbst Uhlhorn ruft ein Wehe über solche Kirchenbehvrden, die eiligst Klagen
annehmen und dadurch die Kirche zur Polizeianstalt machen und sie selbst
korrumpiren.

Dazu kommt, daß ein solcher Geistlicher, abgesehen davon, daß er sich
selbst in Bitternis bringt, absolut nichts ändern wird, weil eben nichts ge¬
ändert werden kann. Denn alle die oben erwähnten Hindernisse, und noch
viele andre mit ihnen, sind nichts als Glieder in dem ganzen Räderwerke, die
man nicht ausbrechen kann, ohne das Räderwerk zu zerstören.

Man sage nicht, solche Zustände seien nicht normal, auf dein Lande seien
die Verhältnisse anders, da könne in der Ortsgemeinde viel ausgerichtet werden.
Ohne Zweifel wird das bis zu bestimmten Grenzen richtig sein, obwohl die
Großindustrie in Gestalt von Zucker-, Sirup-, Konserven- und Schnapsfabriken
auch auf dem Lande die weiteste Ausdehnung gefunden hat. Mir selbst ist
fast kein Dorf bekannt, das nicht durch eine in der Nähe befindliche Gro߬
industrieanstalt beeinflußt würde. Dazu kommt, daß sich die Landwirtschaft,
namentlich in größern Gütern und Domänen, längst von allen altpatriarchalischen
Grundsätzen losgemacht hat und sich zu denen der Großindustrie bekennt. Der
Unterschied des Betriebs in einer Domäne und einer Fabrik besteht fast nur
in dem Produkt, aber uicht in den leitenden Grundsätzen.

Gesetzt aber nun, der Prediger einer Ortsgemeinde, sei es in der Stadt
oder auf dem Lande, erreichte es durch die geordnete Predigt und Seel¬
sorge, daß entweder die geplante Sirup-, Schnaps- u. s. w. Fabrik gar nicht
gebaut würde, oder daß, wenn sie schon in Betrieb gesetzt ist, die Sonntags¬
ruhe u. s. w. streng durchgeführt würde; wäre, frage ich, mit diesem zwar sehr
unwahrscheinlichen, aber sehr günstigen Ergebnis auch nur das geringste er¬
reicht für die Aufgabe, an deren Lösung die Kirche mitarbeiten will? Ich sage
nein; denn es handelt sich ja gar nicht um das Wohlbefinden einzelner
Seelen, sondern um die gegenwärtige Wirtschaftsordnung überhaupt. Diese
würde durch das einzelne Ereignis auch nicht im geringsten gestört werden,
ganz gewiß aber würde die unter ganz besondern Umständen ausnahmsweise
erreichte Besserung in der örtlichen Produktion in der neuesten Zeit, sobald
die besondern Umstände weggefallen wären, wieder zurückgenommen werden!
In der Ortsgemeinde, das spricht auch Nathusius ausdrücklich aus, kann
die soziale Frage nicht gelöst werden.

Wenn der Prediger durch Predigt und Seelsorge in seiner Gemeinde
soziale Anstalten errichtet, z. B. der Arbeitslosigkeit durch einen neuen, von


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[0513] Die protestantische Airche und die soziale Frage der gute Mann würde schlimme Erfahrungen machen, und vielleicht die aller- schlimmsten bei denen, unter deren Schutz er zu handeln geglaubt hat; denn auch bei den kirchlichen Behörden stehen die Thüren ans, weit und breit, sür die, die Klage führen über die Taktlosigkeit und den Unverstand solcher un¬ fähigen Geistlichen, die die Welt nicht kennen und Unzufriedenheit nähren. Selbst Uhlhorn ruft ein Wehe über solche Kirchenbehvrden, die eiligst Klagen annehmen und dadurch die Kirche zur Polizeianstalt machen und sie selbst korrumpiren. Dazu kommt, daß ein solcher Geistlicher, abgesehen davon, daß er sich selbst in Bitternis bringt, absolut nichts ändern wird, weil eben nichts ge¬ ändert werden kann. Denn alle die oben erwähnten Hindernisse, und noch viele andre mit ihnen, sind nichts als Glieder in dem ganzen Räderwerke, die man nicht ausbrechen kann, ohne das Räderwerk zu zerstören. Man sage nicht, solche Zustände seien nicht normal, auf dein Lande seien die Verhältnisse anders, da könne in der Ortsgemeinde viel ausgerichtet werden. Ohne Zweifel wird das bis zu bestimmten Grenzen richtig sein, obwohl die Großindustrie in Gestalt von Zucker-, Sirup-, Konserven- und Schnapsfabriken auch auf dem Lande die weiteste Ausdehnung gefunden hat. Mir selbst ist fast kein Dorf bekannt, das nicht durch eine in der Nähe befindliche Gro߬ industrieanstalt beeinflußt würde. Dazu kommt, daß sich die Landwirtschaft, namentlich in größern Gütern und Domänen, längst von allen altpatriarchalischen Grundsätzen losgemacht hat und sich zu denen der Großindustrie bekennt. Der Unterschied des Betriebs in einer Domäne und einer Fabrik besteht fast nur in dem Produkt, aber uicht in den leitenden Grundsätzen. Gesetzt aber nun, der Prediger einer Ortsgemeinde, sei es in der Stadt oder auf dem Lande, erreichte es durch die geordnete Predigt und Seel¬ sorge, daß entweder die geplante Sirup-, Schnaps- u. s. w. Fabrik gar nicht gebaut würde, oder daß, wenn sie schon in Betrieb gesetzt ist, die Sonntags¬ ruhe u. s. w. streng durchgeführt würde; wäre, frage ich, mit diesem zwar sehr unwahrscheinlichen, aber sehr günstigen Ergebnis auch nur das geringste er¬ reicht für die Aufgabe, an deren Lösung die Kirche mitarbeiten will? Ich sage nein; denn es handelt sich ja gar nicht um das Wohlbefinden einzelner Seelen, sondern um die gegenwärtige Wirtschaftsordnung überhaupt. Diese würde durch das einzelne Ereignis auch nicht im geringsten gestört werden, ganz gewiß aber würde die unter ganz besondern Umständen ausnahmsweise erreichte Besserung in der örtlichen Produktion in der neuesten Zeit, sobald die besondern Umstände weggefallen wären, wieder zurückgenommen werden! In der Ortsgemeinde, das spricht auch Nathusius ausdrücklich aus, kann die soziale Frage nicht gelöst werden. Wenn der Prediger durch Predigt und Seelsorge in seiner Gemeinde soziale Anstalten errichtet, z. B. der Arbeitslosigkeit durch einen neuen, von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/513>, abgerufen am 23.07.2024.