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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die protestantische Kirche und die soziale Frage

Werkstuben seiner Handwerker und Krämer, sondern die großen Fabriken und
Jndustriestätten, es sind die Post, die Kaserne u. s. w. Sind diese Anstalten über¬
haupt nun der Ortsgemeinde eingegliedert und eingepfarrt? Vielleicht ja, aber
jedermann weiß, daß es dann nur für die Zwecke des Geldbeutels geschehen ist,
d. h. zur Erhaltung der kirchlichen Anstalten. Vielleicht sind sie aber auch in
keiner Beziehung eingegliedert, denn die Führer und Leiter der Anstalten sind so
wenig als der Postdirektor und der General Besitzer und Herren der von ihnen
geleiteten Anstalten, sie sind nur Beauftragte, die zu gehorchen haben. Die
wirklichen verantwortlichen Besitzer wohnen weiß Gott wo, vielleicht gar nicht
in der Stadt, ja vielleicht gar nicht einmal in unserm Vaterlande, es können
Franzosen und Engländer sein, und die sind es wirklich vielfach. Und zu
allerletzt, sind sie auch Glieder, wenn nicht der Ortsgemeinde, so doch vielleicht
der Gesamtgemeinde? Ich weiß es nicht; in vielen Fällen mögen sie gar nicht
Christen, sondern Juden sein, in noch zahlreichern Fällen werden sie sich zu
keiner andern Kirche bekennen als zu der des Mammons. Nun frage ich aber,
was soll und kann der Prediger der Ortsgemeinde machen in Predigt und
Seelsorge, wenn er den pöLLAtor gar nicht vor sein Forum ziehen kann, wenn
er es noch so gern möchte? Und wie es ihm mit dem pseo^lor gegangen ist,
ganz so oder noch viel schlimmer wird es ihm mit dem eigentlichen xveo^wir
ergehen. Was ist das? Nach seiner religiösen und wirtschaftlichen Über¬
zeugung hält er wahrscheinlich für die zu strafende Sünde, daß sich eben die
gegenwärtige Wirtschaftsordnung von aller christlichen Sittlichkeit losgelöst hat.
Wohl verstanden, in der politischen Gemeinde, im Staate gilt als xsvoawm
nur das, was im Strafgesetzbuch verboten ist, und gerade das, was Nathusius
und Uhlhorn tadeln, gilt für Gewinn und Fortschritt, ja für den größten
Triumph des wirtschaftlichen Lebens. Dem gegenüber wäre es gut, wenn
sich unser Prediger an den sogenannten Kanzelparagraph 130s, erinnerte: "Ein
Geistlicher, welcher in einer Kirche vor mehreren ^Zuhörern^ Angelegenheiten des
Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstände
einer Erörterung macht, wird mit Gefängnis oder u. f. w. bestraft." Greifen
wir, um verständlicher zu werden, einige bestimmte Fälle heraus. Die Sonntags¬
beschäftigung der Arbeiter oder die gewissenlosen und unbarmherzigen Arbeiter¬
entlassungen, namentlich im Winter, das wären doch jedenfalls nach Uhlhorn
"einige in der gegenwärtigen Lage begründete Hindernisse für die Erweckung
und Entfaltung des christlichen Lebens, welche die Kirche soviel als möglich
zu beseitigen hat." Nun bemüht sich der Geistliche, so viel als möglich, in
der Predigt und Seelsorge diese Übelstände zu beseitigen dadurch, daß er
öffentlich straft und den Widerspruch gegen Gottes Wort nachweist, wenn
Lehrjungen, Gesellen, Fabrikarbeiter, Postbeamte, Soldaten mehr als nötig
mit Sonntagsarbeit belastet werden, oder wenn eine Aktiengesellschaft Hunderte,
ja tausende von Arbeitern mitten im Winter auf die Straße setzt. Ich fürchte,


Die protestantische Kirche und die soziale Frage

Werkstuben seiner Handwerker und Krämer, sondern die großen Fabriken und
Jndustriestätten, es sind die Post, die Kaserne u. s. w. Sind diese Anstalten über¬
haupt nun der Ortsgemeinde eingegliedert und eingepfarrt? Vielleicht ja, aber
jedermann weiß, daß es dann nur für die Zwecke des Geldbeutels geschehen ist,
d. h. zur Erhaltung der kirchlichen Anstalten. Vielleicht sind sie aber auch in
keiner Beziehung eingegliedert, denn die Führer und Leiter der Anstalten sind so
wenig als der Postdirektor und der General Besitzer und Herren der von ihnen
geleiteten Anstalten, sie sind nur Beauftragte, die zu gehorchen haben. Die
wirklichen verantwortlichen Besitzer wohnen weiß Gott wo, vielleicht gar nicht
in der Stadt, ja vielleicht gar nicht einmal in unserm Vaterlande, es können
Franzosen und Engländer sein, und die sind es wirklich vielfach. Und zu
allerletzt, sind sie auch Glieder, wenn nicht der Ortsgemeinde, so doch vielleicht
der Gesamtgemeinde? Ich weiß es nicht; in vielen Fällen mögen sie gar nicht
Christen, sondern Juden sein, in noch zahlreichern Fällen werden sie sich zu
keiner andern Kirche bekennen als zu der des Mammons. Nun frage ich aber,
was soll und kann der Prediger der Ortsgemeinde machen in Predigt und
Seelsorge, wenn er den pöLLAtor gar nicht vor sein Forum ziehen kann, wenn
er es noch so gern möchte? Und wie es ihm mit dem pseo^lor gegangen ist,
ganz so oder noch viel schlimmer wird es ihm mit dem eigentlichen xveo^wir
ergehen. Was ist das? Nach seiner religiösen und wirtschaftlichen Über¬
zeugung hält er wahrscheinlich für die zu strafende Sünde, daß sich eben die
gegenwärtige Wirtschaftsordnung von aller christlichen Sittlichkeit losgelöst hat.
Wohl verstanden, in der politischen Gemeinde, im Staate gilt als xsvoawm
nur das, was im Strafgesetzbuch verboten ist, und gerade das, was Nathusius
und Uhlhorn tadeln, gilt für Gewinn und Fortschritt, ja für den größten
Triumph des wirtschaftlichen Lebens. Dem gegenüber wäre es gut, wenn
sich unser Prediger an den sogenannten Kanzelparagraph 130s, erinnerte: „Ein
Geistlicher, welcher in einer Kirche vor mehreren ^Zuhörern^ Angelegenheiten des
Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstände
einer Erörterung macht, wird mit Gefängnis oder u. f. w. bestraft." Greifen
wir, um verständlicher zu werden, einige bestimmte Fälle heraus. Die Sonntags¬
beschäftigung der Arbeiter oder die gewissenlosen und unbarmherzigen Arbeiter¬
entlassungen, namentlich im Winter, das wären doch jedenfalls nach Uhlhorn
„einige in der gegenwärtigen Lage begründete Hindernisse für die Erweckung
und Entfaltung des christlichen Lebens, welche die Kirche soviel als möglich
zu beseitigen hat." Nun bemüht sich der Geistliche, so viel als möglich, in
der Predigt und Seelsorge diese Übelstände zu beseitigen dadurch, daß er
öffentlich straft und den Widerspruch gegen Gottes Wort nachweist, wenn
Lehrjungen, Gesellen, Fabrikarbeiter, Postbeamte, Soldaten mehr als nötig
mit Sonntagsarbeit belastet werden, oder wenn eine Aktiengesellschaft Hunderte,
ja tausende von Arbeitern mitten im Winter auf die Straße setzt. Ich fürchte,


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[0512] Die protestantische Kirche und die soziale Frage Werkstuben seiner Handwerker und Krämer, sondern die großen Fabriken und Jndustriestätten, es sind die Post, die Kaserne u. s. w. Sind diese Anstalten über¬ haupt nun der Ortsgemeinde eingegliedert und eingepfarrt? Vielleicht ja, aber jedermann weiß, daß es dann nur für die Zwecke des Geldbeutels geschehen ist, d. h. zur Erhaltung der kirchlichen Anstalten. Vielleicht sind sie aber auch in keiner Beziehung eingegliedert, denn die Führer und Leiter der Anstalten sind so wenig als der Postdirektor und der General Besitzer und Herren der von ihnen geleiteten Anstalten, sie sind nur Beauftragte, die zu gehorchen haben. Die wirklichen verantwortlichen Besitzer wohnen weiß Gott wo, vielleicht gar nicht in der Stadt, ja vielleicht gar nicht einmal in unserm Vaterlande, es können Franzosen und Engländer sein, und die sind es wirklich vielfach. Und zu allerletzt, sind sie auch Glieder, wenn nicht der Ortsgemeinde, so doch vielleicht der Gesamtgemeinde? Ich weiß es nicht; in vielen Fällen mögen sie gar nicht Christen, sondern Juden sein, in noch zahlreichern Fällen werden sie sich zu keiner andern Kirche bekennen als zu der des Mammons. Nun frage ich aber, was soll und kann der Prediger der Ortsgemeinde machen in Predigt und Seelsorge, wenn er den pöLLAtor gar nicht vor sein Forum ziehen kann, wenn er es noch so gern möchte? Und wie es ihm mit dem pseo^lor gegangen ist, ganz so oder noch viel schlimmer wird es ihm mit dem eigentlichen xveo^wir ergehen. Was ist das? Nach seiner religiösen und wirtschaftlichen Über¬ zeugung hält er wahrscheinlich für die zu strafende Sünde, daß sich eben die gegenwärtige Wirtschaftsordnung von aller christlichen Sittlichkeit losgelöst hat. Wohl verstanden, in der politischen Gemeinde, im Staate gilt als xsvoawm nur das, was im Strafgesetzbuch verboten ist, und gerade das, was Nathusius und Uhlhorn tadeln, gilt für Gewinn und Fortschritt, ja für den größten Triumph des wirtschaftlichen Lebens. Dem gegenüber wäre es gut, wenn sich unser Prediger an den sogenannten Kanzelparagraph 130s, erinnerte: „Ein Geistlicher, welcher in einer Kirche vor mehreren ^Zuhörern^ Angelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstände einer Erörterung macht, wird mit Gefängnis oder u. f. w. bestraft." Greifen wir, um verständlicher zu werden, einige bestimmte Fälle heraus. Die Sonntags¬ beschäftigung der Arbeiter oder die gewissenlosen und unbarmherzigen Arbeiter¬ entlassungen, namentlich im Winter, das wären doch jedenfalls nach Uhlhorn „einige in der gegenwärtigen Lage begründete Hindernisse für die Erweckung und Entfaltung des christlichen Lebens, welche die Kirche soviel als möglich zu beseitigen hat." Nun bemüht sich der Geistliche, so viel als möglich, in der Predigt und Seelsorge diese Übelstände zu beseitigen dadurch, daß er öffentlich straft und den Widerspruch gegen Gottes Wort nachweist, wenn Lehrjungen, Gesellen, Fabrikarbeiter, Postbeamte, Soldaten mehr als nötig mit Sonntagsarbeit belastet werden, oder wenn eine Aktiengesellschaft Hunderte, ja tausende von Arbeitern mitten im Winter auf die Straße setzt. Ich fürchte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/512>, abgerufen am 23.07.2024.