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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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schaft gewirkt und muß nun dennoch diesen Nichterfolg eingestehen? Nein, so
wollen wir die neue Probe nicht nochmals jahrhundertelang abwarten! Solche
Rede ist nicht allein begreiflich, sie ist auch logisch. Sollte uns also
schon dieses ernste Bedenken stutzig machen, so wird der folgende Nachweis,
hoffe ich, den Leser selbst zu der Überzeugung bringen, daß die angegebnen
alten gottgeordneten Mittel der Kirche in der Gegenwart für sich allein nichts
zur Lösung der sozialen Frage beitragen können, ja nnr schaden, wenn sie mit
so hohem Anspruch ausschließlich empfohlen werden.

Wir müssen zu diesem Zweck klar gegenüberstellen, was bekämpft werden
soll, und welche Mittel dazu angewandt werden sollen. An die Stelle
der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung soll die christliche Gesellschaft, oder
nach Uhlhorn die höhere Stufe des wirtschaftlichen Lebens treten. Wohl¬
verstanden, das Mittel der Bekämpfung und der Herbeiführung soll nicht
allgemein das Wort Gottes sein, nein ausdrücklich die in der organisirten
Kirche von Gott geordnete Verwaltung des Wortes Gottes und der Sakra¬
mente. Wir sehen nun aber bei einigem Nachdenken, daß diese beiden Hand¬
lungen sich gar nicht decken, d. h. sich gar nicht in derselben Ebne gegenüber¬
stehen, sodaß die eine von der andern Thätigkeit gar nicht erreicht wird, auch
uicht beim eifrigsten Bemühen; sie stehen scheinbar einander gegenüber, aber
je näher sie einander rücken, desto sichrer gehen beide, weil auf verschiedner
Ebne, an einander vorbei.

Ja, stünde unsre wirtschaftliche Entwicklung noch auf demselben Boden
wie vor einigen Jahrhunderten, auch nur Jahrzehnten, wären im ganzen Lande
die einfachen, natürlichen wirtschaftlichen Grundlagen überall ungefähr gleich,
so ließe sich vielleicht noch über diesen Vorschlag reden; heute aber ists Un¬
verstand, zu meinen, daß die gegenwärtige Wirtschaftsordnung durch die ge¬
ordnete Predigt des Wortes Gottes und durch Seelsorge aus dem Sattel
gehoben werden könnte. David konnte zwar den Niesen Goliath umbringen,
aber er mußte doch wenigstens Kieselsteine haben.

Die protestantische Kirche besteht aus einzelnen Ortsgemeinden, die zusammen¬
genommen die Kirche Deutschlands ausmachen. Also müßte in den einzelnen
Ortsgemeinden der Anfang gemacht werden. Nun handelt es sich aber hier
nicht um Abstellung kleiner Übelstände, wie sie ewig bleiben werden, sondern
um Abänderung durchgreifender, das Ganze beherrschender Grundsätze. Und
so sagt Uhlhorn auch: "Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, die Ursache der
vorhandnen Not nur an einem Punkt zu suchen, und deshalb mich zu meinen,
die Not durch ein einzelnes Mittel heilen zu können. Es handelt sich um eine
höhere Ordnung des wirtschaftlichen Lebens überhaupt."

Wie will nun aber der protestantische Prediger einer Ortsgemeinde durch
Predigt und Seelsorge solche Ziele erreichen? Die Mittelpartei, in denen das
wirtschaftliche Leben, das hier in Betracht kommt, eigentlich pulsirt, sind nicht die


schaft gewirkt und muß nun dennoch diesen Nichterfolg eingestehen? Nein, so
wollen wir die neue Probe nicht nochmals jahrhundertelang abwarten! Solche
Rede ist nicht allein begreiflich, sie ist auch logisch. Sollte uns also
schon dieses ernste Bedenken stutzig machen, so wird der folgende Nachweis,
hoffe ich, den Leser selbst zu der Überzeugung bringen, daß die angegebnen
alten gottgeordneten Mittel der Kirche in der Gegenwart für sich allein nichts
zur Lösung der sozialen Frage beitragen können, ja nnr schaden, wenn sie mit
so hohem Anspruch ausschließlich empfohlen werden.

Wir müssen zu diesem Zweck klar gegenüberstellen, was bekämpft werden
soll, und welche Mittel dazu angewandt werden sollen. An die Stelle
der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung soll die christliche Gesellschaft, oder
nach Uhlhorn die höhere Stufe des wirtschaftlichen Lebens treten. Wohl¬
verstanden, das Mittel der Bekämpfung und der Herbeiführung soll nicht
allgemein das Wort Gottes sein, nein ausdrücklich die in der organisirten
Kirche von Gott geordnete Verwaltung des Wortes Gottes und der Sakra¬
mente. Wir sehen nun aber bei einigem Nachdenken, daß diese beiden Hand¬
lungen sich gar nicht decken, d. h. sich gar nicht in derselben Ebne gegenüber¬
stehen, sodaß die eine von der andern Thätigkeit gar nicht erreicht wird, auch
uicht beim eifrigsten Bemühen; sie stehen scheinbar einander gegenüber, aber
je näher sie einander rücken, desto sichrer gehen beide, weil auf verschiedner
Ebne, an einander vorbei.

Ja, stünde unsre wirtschaftliche Entwicklung noch auf demselben Boden
wie vor einigen Jahrhunderten, auch nur Jahrzehnten, wären im ganzen Lande
die einfachen, natürlichen wirtschaftlichen Grundlagen überall ungefähr gleich,
so ließe sich vielleicht noch über diesen Vorschlag reden; heute aber ists Un¬
verstand, zu meinen, daß die gegenwärtige Wirtschaftsordnung durch die ge¬
ordnete Predigt des Wortes Gottes und durch Seelsorge aus dem Sattel
gehoben werden könnte. David konnte zwar den Niesen Goliath umbringen,
aber er mußte doch wenigstens Kieselsteine haben.

Die protestantische Kirche besteht aus einzelnen Ortsgemeinden, die zusammen¬
genommen die Kirche Deutschlands ausmachen. Also müßte in den einzelnen
Ortsgemeinden der Anfang gemacht werden. Nun handelt es sich aber hier
nicht um Abstellung kleiner Übelstände, wie sie ewig bleiben werden, sondern
um Abänderung durchgreifender, das Ganze beherrschender Grundsätze. Und
so sagt Uhlhorn auch: „Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, die Ursache der
vorhandnen Not nur an einem Punkt zu suchen, und deshalb mich zu meinen,
die Not durch ein einzelnes Mittel heilen zu können. Es handelt sich um eine
höhere Ordnung des wirtschaftlichen Lebens überhaupt."

Wie will nun aber der protestantische Prediger einer Ortsgemeinde durch
Predigt und Seelsorge solche Ziele erreichen? Die Mittelpartei, in denen das
wirtschaftliche Leben, das hier in Betracht kommt, eigentlich pulsirt, sind nicht die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/511>, abgerufen am 23.07.2024.