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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Ans einer kleinen Lake

allerlei, und ist das darum verrottet zum Auseinanderfallen? Unsre Grund¬
besitzer meinen auch, daß der Magistrat zu wenig Rücksicht auf sie nehme, und
der Magistrat, daß man zu viel von ihm verlange; manche schelten darüber,
daß zu wenig Licht gemacht werde, und manche wollen wieder das grelle Licht
nicht; in den Außenteilen behaupten sie, daß die Mitte zu sehr bevorzugt
werde, und die in der Mitte sagen, daß auf ihnen der Hauptverkehr der Stadt
beruhe, und daß sie daher nicht hinter den Außenteilen zurückstehen dürften;
den Alten wird zu viel mit neuen Einrichtungen experimentirt, und die Jungen
und Eingewanderten sagen, daß man viel zu sehr alles beim Alten lasse. Und
trotzdem lebt es sich hier ganz gemütlich und friedlich, leidlich billig und leid¬
lich fortgeschritten. Freilich das Steinpflaster könnte viel besser sein, das Licht
etwas öfter und Heller brennen, die Lebensmittelpreise oft billiger sein, gewisse
Leute oft weniger Krakehl machen; aber geht doch dahin, wo das alles besser
ist, und seht dann zu, ob ihr euch nicht hierher zurückwünsche, wenn dort
wieder andre Leiden drücken! Also muß doch noch manches hier gut sein; und
das übrige, soweit es geändert werden kann, wird mit gutem Willen und mit
der Zeit schon auch in die Reihe kommen. Was aber nicht geändert werden
kann, daran muß man sich gewöhnen wie ein Kurzsichtiger an die Brille;
denn alle Vorzüge zugleich kommen doch nirgends vor. Glücklicherweise giebt
es ja des Unabänderlichen entschieden weniger. Und so, liebes deutsches Reich,
ists wohl auch mit dir. Du hast deine Schmerzen und deine Fehler, gewiß;
aber wer hat sie nicht? Man möchte zu dir fast sagen wie ein Arzt zu einer
Kranken, die ihm ein Dutzend Leiden klagte: "Was für eine gute Konstitution
müssen Sie haben, um so viel Leiden ertragen zu können!" Und wenn der
Wagen auch manchmal im Zickzack führt, unser Fluß hier biegt auch bald nach
Norden und bald nach Süden aus und kommt doch stets seinem Ziele näher.
Mag also auch deine Lenkung zuweilen vom Wege abkommen, vorwärts kommt
sie doch immer etwas, wenn auch nicht immer gleich schnell, denn alle wollen
nach vorn, nicht nach hinten. Und Wenns auch bisweilen einmal wackelt,
wenn sie dir auch manche Steine in den Weg legen, die, die dich gern "um¬
stürzen" möchten, dein Bau ist fest, er hält es aus, und den Schaden haben
höchstens die Steine. Darum guten Mut! Mancher böse und mancher ver¬
kehrte Mann mag wohl in deinen Grenzen weilen; aber so ganz verkehrt sind
auch die Verkehrtesten nicht, daß sie nicht des Reiches Bestes wollten, und so
stark die Bösen noch lange nicht, daß sie dich vernichten könnten. Ob rechts
ob links der Weg besser ist, darauf kommts ja weniger an, als darauf, daß
es vorwärts geht; und das wird es, solange auf dein Wagen Friede und Mut
ist. Unser Eckchen hier wird zusammenhalten, und du auch, mein Deutsch¬
land, weit über die Zeiten all dieser Kleinmütigen hinaus!

Und wie wir hier an dem Wohle des Vaterlandes nicht verzweifeln, so
verzweifeln wir -- oder doch die meisten von uns -- auch an der Mensch-


Ans einer kleinen Lake

allerlei, und ist das darum verrottet zum Auseinanderfallen? Unsre Grund¬
besitzer meinen auch, daß der Magistrat zu wenig Rücksicht auf sie nehme, und
der Magistrat, daß man zu viel von ihm verlange; manche schelten darüber,
daß zu wenig Licht gemacht werde, und manche wollen wieder das grelle Licht
nicht; in den Außenteilen behaupten sie, daß die Mitte zu sehr bevorzugt
werde, und die in der Mitte sagen, daß auf ihnen der Hauptverkehr der Stadt
beruhe, und daß sie daher nicht hinter den Außenteilen zurückstehen dürften;
den Alten wird zu viel mit neuen Einrichtungen experimentirt, und die Jungen
und Eingewanderten sagen, daß man viel zu sehr alles beim Alten lasse. Und
trotzdem lebt es sich hier ganz gemütlich und friedlich, leidlich billig und leid¬
lich fortgeschritten. Freilich das Steinpflaster könnte viel besser sein, das Licht
etwas öfter und Heller brennen, die Lebensmittelpreise oft billiger sein, gewisse
Leute oft weniger Krakehl machen; aber geht doch dahin, wo das alles besser
ist, und seht dann zu, ob ihr euch nicht hierher zurückwünsche, wenn dort
wieder andre Leiden drücken! Also muß doch noch manches hier gut sein; und
das übrige, soweit es geändert werden kann, wird mit gutem Willen und mit
der Zeit schon auch in die Reihe kommen. Was aber nicht geändert werden
kann, daran muß man sich gewöhnen wie ein Kurzsichtiger an die Brille;
denn alle Vorzüge zugleich kommen doch nirgends vor. Glücklicherweise giebt
es ja des Unabänderlichen entschieden weniger. Und so, liebes deutsches Reich,
ists wohl auch mit dir. Du hast deine Schmerzen und deine Fehler, gewiß;
aber wer hat sie nicht? Man möchte zu dir fast sagen wie ein Arzt zu einer
Kranken, die ihm ein Dutzend Leiden klagte: „Was für eine gute Konstitution
müssen Sie haben, um so viel Leiden ertragen zu können!" Und wenn der
Wagen auch manchmal im Zickzack führt, unser Fluß hier biegt auch bald nach
Norden und bald nach Süden aus und kommt doch stets seinem Ziele näher.
Mag also auch deine Lenkung zuweilen vom Wege abkommen, vorwärts kommt
sie doch immer etwas, wenn auch nicht immer gleich schnell, denn alle wollen
nach vorn, nicht nach hinten. Und Wenns auch bisweilen einmal wackelt,
wenn sie dir auch manche Steine in den Weg legen, die, die dich gern „um¬
stürzen" möchten, dein Bau ist fest, er hält es aus, und den Schaden haben
höchstens die Steine. Darum guten Mut! Mancher böse und mancher ver¬
kehrte Mann mag wohl in deinen Grenzen weilen; aber so ganz verkehrt sind
auch die Verkehrtesten nicht, daß sie nicht des Reiches Bestes wollten, und so
stark die Bösen noch lange nicht, daß sie dich vernichten könnten. Ob rechts
ob links der Weg besser ist, darauf kommts ja weniger an, als darauf, daß
es vorwärts geht; und das wird es, solange auf dein Wagen Friede und Mut
ist. Unser Eckchen hier wird zusammenhalten, und du auch, mein Deutsch¬
land, weit über die Zeiten all dieser Kleinmütigen hinaus!

Und wie wir hier an dem Wohle des Vaterlandes nicht verzweifeln, so
verzweifeln wir — oder doch die meisten von uns — auch an der Mensch-


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[0493] Ans einer kleinen Lake allerlei, und ist das darum verrottet zum Auseinanderfallen? Unsre Grund¬ besitzer meinen auch, daß der Magistrat zu wenig Rücksicht auf sie nehme, und der Magistrat, daß man zu viel von ihm verlange; manche schelten darüber, daß zu wenig Licht gemacht werde, und manche wollen wieder das grelle Licht nicht; in den Außenteilen behaupten sie, daß die Mitte zu sehr bevorzugt werde, und die in der Mitte sagen, daß auf ihnen der Hauptverkehr der Stadt beruhe, und daß sie daher nicht hinter den Außenteilen zurückstehen dürften; den Alten wird zu viel mit neuen Einrichtungen experimentirt, und die Jungen und Eingewanderten sagen, daß man viel zu sehr alles beim Alten lasse. Und trotzdem lebt es sich hier ganz gemütlich und friedlich, leidlich billig und leid¬ lich fortgeschritten. Freilich das Steinpflaster könnte viel besser sein, das Licht etwas öfter und Heller brennen, die Lebensmittelpreise oft billiger sein, gewisse Leute oft weniger Krakehl machen; aber geht doch dahin, wo das alles besser ist, und seht dann zu, ob ihr euch nicht hierher zurückwünsche, wenn dort wieder andre Leiden drücken! Also muß doch noch manches hier gut sein; und das übrige, soweit es geändert werden kann, wird mit gutem Willen und mit der Zeit schon auch in die Reihe kommen. Was aber nicht geändert werden kann, daran muß man sich gewöhnen wie ein Kurzsichtiger an die Brille; denn alle Vorzüge zugleich kommen doch nirgends vor. Glücklicherweise giebt es ja des Unabänderlichen entschieden weniger. Und so, liebes deutsches Reich, ists wohl auch mit dir. Du hast deine Schmerzen und deine Fehler, gewiß; aber wer hat sie nicht? Man möchte zu dir fast sagen wie ein Arzt zu einer Kranken, die ihm ein Dutzend Leiden klagte: „Was für eine gute Konstitution müssen Sie haben, um so viel Leiden ertragen zu können!" Und wenn der Wagen auch manchmal im Zickzack führt, unser Fluß hier biegt auch bald nach Norden und bald nach Süden aus und kommt doch stets seinem Ziele näher. Mag also auch deine Lenkung zuweilen vom Wege abkommen, vorwärts kommt sie doch immer etwas, wenn auch nicht immer gleich schnell, denn alle wollen nach vorn, nicht nach hinten. Und Wenns auch bisweilen einmal wackelt, wenn sie dir auch manche Steine in den Weg legen, die, die dich gern „um¬ stürzen" möchten, dein Bau ist fest, er hält es aus, und den Schaden haben höchstens die Steine. Darum guten Mut! Mancher böse und mancher ver¬ kehrte Mann mag wohl in deinen Grenzen weilen; aber so ganz verkehrt sind auch die Verkehrtesten nicht, daß sie nicht des Reiches Bestes wollten, und so stark die Bösen noch lange nicht, daß sie dich vernichten könnten. Ob rechts ob links der Weg besser ist, darauf kommts ja weniger an, als darauf, daß es vorwärts geht; und das wird es, solange auf dein Wagen Friede und Mut ist. Unser Eckchen hier wird zusammenhalten, und du auch, mein Deutsch¬ land, weit über die Zeiten all dieser Kleinmütigen hinaus! Und wie wir hier an dem Wohle des Vaterlandes nicht verzweifeln, so verzweifeln wir — oder doch die meisten von uns — auch an der Mensch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/493>, abgerufen am 23.07.2024.