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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Aus einer kleinen Lake

Und somit ist denn die betrübende Summa für uns arme Menschen in der
kleinen Ecke, die das meiste vom Leben nur aus zweiter Hand zu sehen be¬
kommen: Unheil ringsum! Ein großer Krach oder mehrere große Krache müssen
kommen; und was nach ihnen von Deutschland und der gesamten Menschheit
-- außer der ganz unkultivirten -- noch übrig bleibt, ja das kann selbst der
Forscher, der es am herrlichsten weit gebracht hat, nicht mit Bestimmtheit vor¬
hersagen; viel aber wird es nicht sein.

Wir hätten also alle Ursache dazu, zu verzweifeln, uns dem Weltschmerz
zu ergeben oder mit dem Kopfe gegen die Wand zu rennen. Aber merkwür¬
digerweise thun wir das nicht. Lesen wir auch Zeitungen und moderne Bücher
und haben also bald begriffen, daß kein Mensch, der etwas auf sich hält, alles
gut finden dürfe, so haben wir es doch auch schon so weit gebracht -- bei
einigen ist es auch Naturanlage --, daß wir auch keineswegs jeden Tadel für
richtig halten; wir nehmen uns sogar die große Freiheit, auch gegen Skep¬
tiker skeptisch zu sein! Und da die gewöhnlich nur von einem Passiv von
"dulden" wissen wollen, aber nicht von einem Aktiv, so werden wir uns wohl
ihren Zorn oder ihre Verachtung zuziehen; aber es giebt in der That Men¬
schen unter uns, die lieber eine gute Anzahl Gegner haben wollen als gar
keine. Und wenns schon darauf nicht ankommt, dann mögen die Gegner auch
aus entgegengesetzten Lagern sein, Optimisten wie Pessimisten. Denn in der
That, so wenig wie in unsrer kleinen Ecke hier alles so ist, wie es sein sollte
und könnte, Menschen sowohl wie Einrichtungen, ebenso wenig wird es wohl
auch in der großen Welt so sein, denken wir uns. Aber gerade so, wie wir hier
an so manchen Dingen unsre helle Freude oder doch unser kleines oder großes
Vergnügen haben, so meinen wir naiven Menschen, wirds im Staat und in
der großen Menschheit ebenfalls noch allerlei geben, worüber man sich freuen
kann, ohne für einen Dummkopf zu gelten. Verschiedne Meinungen und Par¬
teien haben wir hier ja auch, und ich wills andern lieben Miteckenbewohnern
nicht verwehren, andrer Ansicht zu sein; aber meinen Eckenstandpunkt möchte
ich doch auch schildern.

Daß das deutsche Reich überhaupt da ist -- was vor nicht viel mehr
als einem Menschenalter noch ein strafbares Phantasiebild war --, das ist doch
nicht zu leugnen und immerhin eine nicht unerfreuliche Thatsache, wenn es
auch nur dazu dienen sollte, daß man jetzt mit jedermann in der Welt deutsch
reden darf. Und daß es auch kein Trug- und Scheinbild ist, wie damals, als
es sein Schwert nur darum zog, um es bald nachher möglichst wenig rühmlich
wieder in die Scheide zu stecken, dafür kann wohl als Beweis dienen, daß am Ne-
gierungspalast zu Straßburg "Kaiserlich deutsche Regierung" zu lesen ist. Und
so wirds denn auch mit der innerlichen Verrvttung nicht gar zu arg sein.
Gewiß, wenn wir hier die Parlamentsberichte lesen, so ärgern wir uns über
manchen und manches; aber thun wir das hier im Städtchen nicht auch über


Aus einer kleinen Lake

Und somit ist denn die betrübende Summa für uns arme Menschen in der
kleinen Ecke, die das meiste vom Leben nur aus zweiter Hand zu sehen be¬
kommen: Unheil ringsum! Ein großer Krach oder mehrere große Krache müssen
kommen; und was nach ihnen von Deutschland und der gesamten Menschheit
— außer der ganz unkultivirten — noch übrig bleibt, ja das kann selbst der
Forscher, der es am herrlichsten weit gebracht hat, nicht mit Bestimmtheit vor¬
hersagen; viel aber wird es nicht sein.

Wir hätten also alle Ursache dazu, zu verzweifeln, uns dem Weltschmerz
zu ergeben oder mit dem Kopfe gegen die Wand zu rennen. Aber merkwür¬
digerweise thun wir das nicht. Lesen wir auch Zeitungen und moderne Bücher
und haben also bald begriffen, daß kein Mensch, der etwas auf sich hält, alles
gut finden dürfe, so haben wir es doch auch schon so weit gebracht — bei
einigen ist es auch Naturanlage —, daß wir auch keineswegs jeden Tadel für
richtig halten; wir nehmen uns sogar die große Freiheit, auch gegen Skep¬
tiker skeptisch zu sein! Und da die gewöhnlich nur von einem Passiv von
„dulden" wissen wollen, aber nicht von einem Aktiv, so werden wir uns wohl
ihren Zorn oder ihre Verachtung zuziehen; aber es giebt in der That Men¬
schen unter uns, die lieber eine gute Anzahl Gegner haben wollen als gar
keine. Und wenns schon darauf nicht ankommt, dann mögen die Gegner auch
aus entgegengesetzten Lagern sein, Optimisten wie Pessimisten. Denn in der
That, so wenig wie in unsrer kleinen Ecke hier alles so ist, wie es sein sollte
und könnte, Menschen sowohl wie Einrichtungen, ebenso wenig wird es wohl
auch in der großen Welt so sein, denken wir uns. Aber gerade so, wie wir hier
an so manchen Dingen unsre helle Freude oder doch unser kleines oder großes
Vergnügen haben, so meinen wir naiven Menschen, wirds im Staat und in
der großen Menschheit ebenfalls noch allerlei geben, worüber man sich freuen
kann, ohne für einen Dummkopf zu gelten. Verschiedne Meinungen und Par¬
teien haben wir hier ja auch, und ich wills andern lieben Miteckenbewohnern
nicht verwehren, andrer Ansicht zu sein; aber meinen Eckenstandpunkt möchte
ich doch auch schildern.

Daß das deutsche Reich überhaupt da ist — was vor nicht viel mehr
als einem Menschenalter noch ein strafbares Phantasiebild war —, das ist doch
nicht zu leugnen und immerhin eine nicht unerfreuliche Thatsache, wenn es
auch nur dazu dienen sollte, daß man jetzt mit jedermann in der Welt deutsch
reden darf. Und daß es auch kein Trug- und Scheinbild ist, wie damals, als
es sein Schwert nur darum zog, um es bald nachher möglichst wenig rühmlich
wieder in die Scheide zu stecken, dafür kann wohl als Beweis dienen, daß am Ne-
gierungspalast zu Straßburg „Kaiserlich deutsche Regierung" zu lesen ist. Und
so wirds denn auch mit der innerlichen Verrvttung nicht gar zu arg sein.
Gewiß, wenn wir hier die Parlamentsberichte lesen, so ärgern wir uns über
manchen und manches; aber thun wir das hier im Städtchen nicht auch über


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[0492] Aus einer kleinen Lake Und somit ist denn die betrübende Summa für uns arme Menschen in der kleinen Ecke, die das meiste vom Leben nur aus zweiter Hand zu sehen be¬ kommen: Unheil ringsum! Ein großer Krach oder mehrere große Krache müssen kommen; und was nach ihnen von Deutschland und der gesamten Menschheit — außer der ganz unkultivirten — noch übrig bleibt, ja das kann selbst der Forscher, der es am herrlichsten weit gebracht hat, nicht mit Bestimmtheit vor¬ hersagen; viel aber wird es nicht sein. Wir hätten also alle Ursache dazu, zu verzweifeln, uns dem Weltschmerz zu ergeben oder mit dem Kopfe gegen die Wand zu rennen. Aber merkwür¬ digerweise thun wir das nicht. Lesen wir auch Zeitungen und moderne Bücher und haben also bald begriffen, daß kein Mensch, der etwas auf sich hält, alles gut finden dürfe, so haben wir es doch auch schon so weit gebracht — bei einigen ist es auch Naturanlage —, daß wir auch keineswegs jeden Tadel für richtig halten; wir nehmen uns sogar die große Freiheit, auch gegen Skep¬ tiker skeptisch zu sein! Und da die gewöhnlich nur von einem Passiv von „dulden" wissen wollen, aber nicht von einem Aktiv, so werden wir uns wohl ihren Zorn oder ihre Verachtung zuziehen; aber es giebt in der That Men¬ schen unter uns, die lieber eine gute Anzahl Gegner haben wollen als gar keine. Und wenns schon darauf nicht ankommt, dann mögen die Gegner auch aus entgegengesetzten Lagern sein, Optimisten wie Pessimisten. Denn in der That, so wenig wie in unsrer kleinen Ecke hier alles so ist, wie es sein sollte und könnte, Menschen sowohl wie Einrichtungen, ebenso wenig wird es wohl auch in der großen Welt so sein, denken wir uns. Aber gerade so, wie wir hier an so manchen Dingen unsre helle Freude oder doch unser kleines oder großes Vergnügen haben, so meinen wir naiven Menschen, wirds im Staat und in der großen Menschheit ebenfalls noch allerlei geben, worüber man sich freuen kann, ohne für einen Dummkopf zu gelten. Verschiedne Meinungen und Par¬ teien haben wir hier ja auch, und ich wills andern lieben Miteckenbewohnern nicht verwehren, andrer Ansicht zu sein; aber meinen Eckenstandpunkt möchte ich doch auch schildern. Daß das deutsche Reich überhaupt da ist — was vor nicht viel mehr als einem Menschenalter noch ein strafbares Phantasiebild war —, das ist doch nicht zu leugnen und immerhin eine nicht unerfreuliche Thatsache, wenn es auch nur dazu dienen sollte, daß man jetzt mit jedermann in der Welt deutsch reden darf. Und daß es auch kein Trug- und Scheinbild ist, wie damals, als es sein Schwert nur darum zog, um es bald nachher möglichst wenig rühmlich wieder in die Scheide zu stecken, dafür kann wohl als Beweis dienen, daß am Ne- gierungspalast zu Straßburg „Kaiserlich deutsche Regierung" zu lesen ist. Und so wirds denn auch mit der innerlichen Verrvttung nicht gar zu arg sein. Gewiß, wenn wir hier die Parlamentsberichte lesen, so ärgern wir uns über manchen und manches; aber thun wir das hier im Städtchen nicht auch über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/492>, abgerufen am 23.07.2024.