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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Stölzels juristische Lehrmethode

In den Vorlesungen Stölzels wurden einfache Nechtsfülle unter aus¬
führlicher Erörterung der prozessualer und der materiell rechtlichen Sätze und
unter Mitbeteiligung der Zuhörer zur Entscheidung geführt; eine Besonderheit
bestand darin, daß als Einleitung nicht bloß der nackte Thatbestand des Falls
erschien, sondern gleich allerhand Prozeßschriften, zum Teil aus Akten ent¬
nommen, zum Teil erfunden, in einem Abdruck den Hörern vorgelegt wurden:
Anwaltsschriftsätze, gerichtliche Urteile und Beschlüsse, alle aber mit Mängeln
und Verkehrtheiten behaftet. An der Verbesserung durften nun die Studirenden
ihren Scharfsinn erproben. Diese auch Wohl sonst schon geübte Methode -- so
liebt es z. B. Jhering in seiner bekannten, auch für Laien interessanten Samm¬
lung "Zivilrechtsfälle" verdrehte Rechtsmeinnngen und nur scheinbar passende
Stellen des Qorxus juris anzuführen -- wirkt natürlich sehr erfrischend und
vielfach belustigend. Es ist ein unschuldiger Kunstgriff, den Hörer zu packen.
Es schmeichelt, sich sagen zu können: "das ist ja ganz falsch, das kannst du
besser machen," und so wird man unvermerkt angefeuert, der Sache seinen
Eifer zuzuwenden. Auch liegt darin ein Hilfsmittel für das Gedächtnis; Ab¬
surditäten haften leichter als das schlichte Vernünftige und rufen, wenn sie im
Gedächtnis wieder auftauchen, durch eine Ideenverbindung sofort die Vorstellung
des Richtigen hervor. Stvlzel bezeichnete das einmal als eine Art juristischer
Klinik. "Eine Klinik -- meinte er -- ist ja der medizinische Unterricht am
Krankenbett. Unsre Nechtsfälle können uns in gewisser Beziehung das vorstellen,
was für den Mediziner seine Präparate, seine Kranken, seine Leichen sind. Wir
wollen an den Fehlern herumoperireu, wir wollen die Leichen sezireu; wir
wollen lahme Eide, schielende Gründe, bedenkliche Geschwülste und all der¬
gleichen schulgerecht daraus entfernen."

Die Kritik eines Universitätslehrers, die mir vorliegt, setzt gerade hier
mit ihrem Tadel ein. "Der Vergleich hinkt -- so führt er aus --, und damit
verliert er seine Beweiskraft für die Richtigkeit der Methode. Denn der Gegen¬
stand der Thätigkeit, der den Patienten des Mediziners entspricht, ist für den
Juristen normalerweise nicht ein verfehltes Erkenntnis, sondern ein noch nicht
entschiedner Rechtsfall." Das fehlerhafte Erkenntnis entspreche der falschen
ärztlichen Behandlung; und wie diese wohl nur ausnahmsweise für die Unter¬
weisung der Studirenden herangezogen werde, so empfehle es sich auch in der
Jurisprudenz, den Studenten in der Regel einfach die Rechtsfälle vorzulegen
und höchsteus ausnahmsweise von solchen fehlerhaften Prozeßschriften Gebrauch
zu machen. Dies sei besser für die Zeit des Neferendariats aufzusparen. Der
Verfasser der Kritik glaubt das um so mehr hervorheben zu müssen, als der
Wert der Stölzelschen Übungen für das Universitätsstudium vermutlich werde
überschützt werden. Auch spricht er die Besorgnis aus, daß die Studenten
nun alles, was ihnen in andrer Art und Weise an praktischen Übungen auf
den Universitäten geboten werde, für wertlos halten möchten. Den jungen


Stölzels juristische Lehrmethode

In den Vorlesungen Stölzels wurden einfache Nechtsfülle unter aus¬
führlicher Erörterung der prozessualer und der materiell rechtlichen Sätze und
unter Mitbeteiligung der Zuhörer zur Entscheidung geführt; eine Besonderheit
bestand darin, daß als Einleitung nicht bloß der nackte Thatbestand des Falls
erschien, sondern gleich allerhand Prozeßschriften, zum Teil aus Akten ent¬
nommen, zum Teil erfunden, in einem Abdruck den Hörern vorgelegt wurden:
Anwaltsschriftsätze, gerichtliche Urteile und Beschlüsse, alle aber mit Mängeln
und Verkehrtheiten behaftet. An der Verbesserung durften nun die Studirenden
ihren Scharfsinn erproben. Diese auch Wohl sonst schon geübte Methode — so
liebt es z. B. Jhering in seiner bekannten, auch für Laien interessanten Samm¬
lung „Zivilrechtsfälle" verdrehte Rechtsmeinnngen und nur scheinbar passende
Stellen des Qorxus juris anzuführen — wirkt natürlich sehr erfrischend und
vielfach belustigend. Es ist ein unschuldiger Kunstgriff, den Hörer zu packen.
Es schmeichelt, sich sagen zu können: „das ist ja ganz falsch, das kannst du
besser machen," und so wird man unvermerkt angefeuert, der Sache seinen
Eifer zuzuwenden. Auch liegt darin ein Hilfsmittel für das Gedächtnis; Ab¬
surditäten haften leichter als das schlichte Vernünftige und rufen, wenn sie im
Gedächtnis wieder auftauchen, durch eine Ideenverbindung sofort die Vorstellung
des Richtigen hervor. Stvlzel bezeichnete das einmal als eine Art juristischer
Klinik. „Eine Klinik — meinte er — ist ja der medizinische Unterricht am
Krankenbett. Unsre Nechtsfälle können uns in gewisser Beziehung das vorstellen,
was für den Mediziner seine Präparate, seine Kranken, seine Leichen sind. Wir
wollen an den Fehlern herumoperireu, wir wollen die Leichen sezireu; wir
wollen lahme Eide, schielende Gründe, bedenkliche Geschwülste und all der¬
gleichen schulgerecht daraus entfernen."

Die Kritik eines Universitätslehrers, die mir vorliegt, setzt gerade hier
mit ihrem Tadel ein. „Der Vergleich hinkt — so führt er aus —, und damit
verliert er seine Beweiskraft für die Richtigkeit der Methode. Denn der Gegen¬
stand der Thätigkeit, der den Patienten des Mediziners entspricht, ist für den
Juristen normalerweise nicht ein verfehltes Erkenntnis, sondern ein noch nicht
entschiedner Rechtsfall." Das fehlerhafte Erkenntnis entspreche der falschen
ärztlichen Behandlung; und wie diese wohl nur ausnahmsweise für die Unter¬
weisung der Studirenden herangezogen werde, so empfehle es sich auch in der
Jurisprudenz, den Studenten in der Regel einfach die Rechtsfälle vorzulegen
und höchsteus ausnahmsweise von solchen fehlerhaften Prozeßschriften Gebrauch
zu machen. Dies sei besser für die Zeit des Neferendariats aufzusparen. Der
Verfasser der Kritik glaubt das um so mehr hervorheben zu müssen, als der
Wert der Stölzelschen Übungen für das Universitätsstudium vermutlich werde
überschützt werden. Auch spricht er die Besorgnis aus, daß die Studenten
nun alles, was ihnen in andrer Art und Weise an praktischen Übungen auf
den Universitäten geboten werde, für wertlos halten möchten. Den jungen


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[0460] Stölzels juristische Lehrmethode In den Vorlesungen Stölzels wurden einfache Nechtsfülle unter aus¬ führlicher Erörterung der prozessualer und der materiell rechtlichen Sätze und unter Mitbeteiligung der Zuhörer zur Entscheidung geführt; eine Besonderheit bestand darin, daß als Einleitung nicht bloß der nackte Thatbestand des Falls erschien, sondern gleich allerhand Prozeßschriften, zum Teil aus Akten ent¬ nommen, zum Teil erfunden, in einem Abdruck den Hörern vorgelegt wurden: Anwaltsschriftsätze, gerichtliche Urteile und Beschlüsse, alle aber mit Mängeln und Verkehrtheiten behaftet. An der Verbesserung durften nun die Studirenden ihren Scharfsinn erproben. Diese auch Wohl sonst schon geübte Methode — so liebt es z. B. Jhering in seiner bekannten, auch für Laien interessanten Samm¬ lung „Zivilrechtsfälle" verdrehte Rechtsmeinnngen und nur scheinbar passende Stellen des Qorxus juris anzuführen — wirkt natürlich sehr erfrischend und vielfach belustigend. Es ist ein unschuldiger Kunstgriff, den Hörer zu packen. Es schmeichelt, sich sagen zu können: „das ist ja ganz falsch, das kannst du besser machen," und so wird man unvermerkt angefeuert, der Sache seinen Eifer zuzuwenden. Auch liegt darin ein Hilfsmittel für das Gedächtnis; Ab¬ surditäten haften leichter als das schlichte Vernünftige und rufen, wenn sie im Gedächtnis wieder auftauchen, durch eine Ideenverbindung sofort die Vorstellung des Richtigen hervor. Stvlzel bezeichnete das einmal als eine Art juristischer Klinik. „Eine Klinik — meinte er — ist ja der medizinische Unterricht am Krankenbett. Unsre Nechtsfälle können uns in gewisser Beziehung das vorstellen, was für den Mediziner seine Präparate, seine Kranken, seine Leichen sind. Wir wollen an den Fehlern herumoperireu, wir wollen die Leichen sezireu; wir wollen lahme Eide, schielende Gründe, bedenkliche Geschwülste und all der¬ gleichen schulgerecht daraus entfernen." Die Kritik eines Universitätslehrers, die mir vorliegt, setzt gerade hier mit ihrem Tadel ein. „Der Vergleich hinkt — so führt er aus —, und damit verliert er seine Beweiskraft für die Richtigkeit der Methode. Denn der Gegen¬ stand der Thätigkeit, der den Patienten des Mediziners entspricht, ist für den Juristen normalerweise nicht ein verfehltes Erkenntnis, sondern ein noch nicht entschiedner Rechtsfall." Das fehlerhafte Erkenntnis entspreche der falschen ärztlichen Behandlung; und wie diese wohl nur ausnahmsweise für die Unter¬ weisung der Studirenden herangezogen werde, so empfehle es sich auch in der Jurisprudenz, den Studenten in der Regel einfach die Rechtsfälle vorzulegen und höchsteus ausnahmsweise von solchen fehlerhaften Prozeßschriften Gebrauch zu machen. Dies sei besser für die Zeit des Neferendariats aufzusparen. Der Verfasser der Kritik glaubt das um so mehr hervorheben zu müssen, als der Wert der Stölzelschen Übungen für das Universitätsstudium vermutlich werde überschützt werden. Auch spricht er die Besorgnis aus, daß die Studenten nun alles, was ihnen in andrer Art und Weise an praktischen Übungen auf den Universitäten geboten werde, für wertlos halten möchten. Den jungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/460>, abgerufen am 23.07.2024.