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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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die Welle für eine kurze Zeit, aber sie fand dann in der Regel einen andern
Weg zu dein gewünschten Ziel oder überflutete auch endlich das Hindernis.

Die Vereinigten Staaten sind durch die Aristokraten verloren gegangen,
die noch nicht gelernt hatten, daß weiter, freier Boden das beste Mittel ist,
eine gute Rasse mit kräftigen, schönen Leibern und entsprechenden Charakter¬
eigenschaften zu erhalten. Die spätern, vom Mutterlande selbst ausgegangnen
Versuche, das Band der Kolonien zu lockern, stammten aus den Kreisen des
Mittelstandes, dessen Ideal mit jenem aristokratischen durchaus nichts zu thun
hatte; sie wollten England mit Kaufhäusern und Werkstätten bedecken und eine
gesättigte, behagliche Bevölkerung heranziehen, die mit aller Welt handeln,
überall Geld verdienen und sich in allen Ländern heimisch machen sollte. Ein
solches Volk braucht kaum ein Vaterland, geschweige denn, daß es Kolonien
nötig hätte. Der zunehmende Einfluß dieser Schicht auf die Regierung hat
einst dem weitblickenden Fronde die Klage ausgepreßt: Sollte uns Indien
jemals verloren gehen, so werden wir es nur durch unser Parlament verlieren.
Aber es stellte sich doch in der Praxis ein ganz andres Verhältnis dieses
Mittelstandes zu den Kolonien heraus, als es einst die Aristokraten zur Zeit
eines Lord Bude und North hatten. Er sühlt sich durch unendlich viele Fäden
des Blutes und der Interessen mit der Bevölkerung der Kolonien verbunden,
der diese fremd gegenübergestanden hatte. Sie ist Fleisch von seinem Fleisch,
sie teilt seine Bildung, seine Lebensauffassung. Wenn der englische Bürger¬
stand die Kolonien nicht mehr recht zu verstehen schien und sich mit ihnen
unbehaglich fühlte, war das nur ein Irrtum über sich selbst, eine Selbst¬
verkennung. Die Thatsachen zeigen, daß die aus ihm hervorgegangnen Staats¬
männer eine tiefere Auffassung von der Bedeutung und dem Werte der
Kolonien für das Mutterland vertreten, als alle Staatsmänner der Ver¬
gangenheit. Die breitere Verbindung mit den gelehrten Kreisen mag dazu
beigetragen haben, daß Boden, Überfluß an Boden als das beste Mittel zur
Gesnuderhaltuug, ja Verjüngung eines thätigen Volkes immer besser ver¬
standen wurde. Wer diese Wahrheit erfaßt hat, kann der Kolonialpolitik nicht
mehr abgeneigt gegenüberstehen. Sollte aber das Urteil jemandes über
die Kolonien heute noch schwanken, so würde ein Blick auf die Ausdehuungs
bestrebuugcn aller Völker genügen, um ihn zu belehren, daß sich England
ein unschätzbares Gut durch sein rascheres Zugreifen und zäheres Festhalten
für spätere Geschlechter gesichert hat. Nur mit den Spaniern in dem süd¬
lichen Zipfel Südamerikas und mit den Russen in Nord- und Mittelasien
teilt es den Vorzug, die gemäßigten Länder zu besitzen, wo Europäer europäische
Kultur einpflanzen können, d. h. wo europäische Tochtervölker in der Weise
des Mutterlandes zu neuem Leben einwurzeln können. Daß es dazu nicht an
Lebenskraft fehlt, beweisen die vierzehn Millionen, die seit 1815 aus den drei
Königreichen über See ausgewandert sind.


die Welle für eine kurze Zeit, aber sie fand dann in der Regel einen andern
Weg zu dein gewünschten Ziel oder überflutete auch endlich das Hindernis.

Die Vereinigten Staaten sind durch die Aristokraten verloren gegangen,
die noch nicht gelernt hatten, daß weiter, freier Boden das beste Mittel ist,
eine gute Rasse mit kräftigen, schönen Leibern und entsprechenden Charakter¬
eigenschaften zu erhalten. Die spätern, vom Mutterlande selbst ausgegangnen
Versuche, das Band der Kolonien zu lockern, stammten aus den Kreisen des
Mittelstandes, dessen Ideal mit jenem aristokratischen durchaus nichts zu thun
hatte; sie wollten England mit Kaufhäusern und Werkstätten bedecken und eine
gesättigte, behagliche Bevölkerung heranziehen, die mit aller Welt handeln,
überall Geld verdienen und sich in allen Ländern heimisch machen sollte. Ein
solches Volk braucht kaum ein Vaterland, geschweige denn, daß es Kolonien
nötig hätte. Der zunehmende Einfluß dieser Schicht auf die Regierung hat
einst dem weitblickenden Fronde die Klage ausgepreßt: Sollte uns Indien
jemals verloren gehen, so werden wir es nur durch unser Parlament verlieren.
Aber es stellte sich doch in der Praxis ein ganz andres Verhältnis dieses
Mittelstandes zu den Kolonien heraus, als es einst die Aristokraten zur Zeit
eines Lord Bude und North hatten. Er sühlt sich durch unendlich viele Fäden
des Blutes und der Interessen mit der Bevölkerung der Kolonien verbunden,
der diese fremd gegenübergestanden hatte. Sie ist Fleisch von seinem Fleisch,
sie teilt seine Bildung, seine Lebensauffassung. Wenn der englische Bürger¬
stand die Kolonien nicht mehr recht zu verstehen schien und sich mit ihnen
unbehaglich fühlte, war das nur ein Irrtum über sich selbst, eine Selbst¬
verkennung. Die Thatsachen zeigen, daß die aus ihm hervorgegangnen Staats¬
männer eine tiefere Auffassung von der Bedeutung und dem Werte der
Kolonien für das Mutterland vertreten, als alle Staatsmänner der Ver¬
gangenheit. Die breitere Verbindung mit den gelehrten Kreisen mag dazu
beigetragen haben, daß Boden, Überfluß an Boden als das beste Mittel zur
Gesnuderhaltuug, ja Verjüngung eines thätigen Volkes immer besser ver¬
standen wurde. Wer diese Wahrheit erfaßt hat, kann der Kolonialpolitik nicht
mehr abgeneigt gegenüberstehen. Sollte aber das Urteil jemandes über
die Kolonien heute noch schwanken, so würde ein Blick auf die Ausdehuungs
bestrebuugcn aller Völker genügen, um ihn zu belehren, daß sich England
ein unschätzbares Gut durch sein rascheres Zugreifen und zäheres Festhalten
für spätere Geschlechter gesichert hat. Nur mit den Spaniern in dem süd¬
lichen Zipfel Südamerikas und mit den Russen in Nord- und Mittelasien
teilt es den Vorzug, die gemäßigten Länder zu besitzen, wo Europäer europäische
Kultur einpflanzen können, d. h. wo europäische Tochtervölker in der Weise
des Mutterlandes zu neuem Leben einwurzeln können. Daß es dazu nicht an
Lebenskraft fehlt, beweisen die vierzehn Millionen, die seit 1815 aus den drei
Königreichen über See ausgewandert sind.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/407>, abgerufen am 25.08.2024.