Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

bringen. Neufundland hat schon einmal diesen Prozeß durchgemacht, und es
ist gar nicht unmöglich, daß sich diese älteste der englischen Kolonien wieder
unter die Aufsicht englischer Beamten stellt. Man bedenke, was das heißt,
bei einer fast selbständigen Stellung, deren sich Neufundland zwischen England
und Kanada in den letzten Jahrzehnten erfreute, sich mit dem alten Lande so
eng verbunden zu fühlen, daß trotz der Verzweiflung über Mißerfolge der Ver¬
waltung und der Geschäfte der Gedanke eines engern Anschlnsfes an Kanada,
der den armen Fischerstaat erleichtern würde, weit weggewiesen, dagegen ver¬
trauensvoll die Absendung eines Kommissars der englischen Regierung erbeten
wird. Was wollen gegenüber einem so innigen Zusammenhang zwischen dem
Mutterland und seiner ältesten Kolonie die paar Klippen bedeuten, die Frank¬
reich an Neufundlands Küste noch besitzt, und das Recht seiner Fischer, auf ge¬
wissen Küstenstrecken ihre Stockfische und Hummer zu Präpariren und ihre
Netze auszubessern? Hier ein paar ärmliche Bertragsparagraphen, dort das
kräftige Pulsiren in einem über alle Meere hin als eins sich fühlenden Vvlks-
und Staatsorganismus.

Dieser echt nationale Zug wird bei uns nicht nach Verdienst gewürdigt.
Wir glauben, die englischen Kolonien warteten mir, bis sie sich losreißen
können, seien ungeduldig, gegängelt zu werden, die Geschichte der Bereinigten
Staaten von Amerika mit Unabhängigkeitserklärung und lange nachbrennenden
Wunden müsse sich notwendig wiederholen. Hüten wir uns vor zu raschen
Schlüssen, die uns doch nur einleuchten, weil sie uns bequem sind. Der Zu¬
sammenhang der Teile des Reichs ist nie fester gewesen als jetzt, und nie hat
mau deutlicher erkannt, wo die Gefahren für diesen Zusammenhang, aber auch
too seine Vorteile liegen, nie ist die Bedeutung der Kolonien für die "britische
Nasse" besser verstanden worden. Ans dem Kontinent giebt es noch Leute,
die glauben, daß in England die Phrase aus dem Zeitalter der Reformbewe-
gung: "Fort mit den Kolonien! wir sind stärker ohne sie, sie schädigen unsre
Freiheit und bedrohen uns unaufhörlich mit äußern Verwicklungen" noch lebe
und noch irgend eine Macht über die Gemüter habe. Wenn sich diese
Leichtgläubigen und naiven nicht von der Geschichte der seit jener Bewegung
verflossenen zwei Menschenalter belehren lassen, ist ihnen nicht zu helfen. Kon¬
servative und Liberale haben in dieser Zeit mit derselben Entschiedenheit an dem
Ausbau der britischen Kolonialmacht arbeiten lernen, und wenn die Liberalen zu
Hause zaudern wollten, dann waren ihre Freunde am Kap, in Australien u. s. w.
immer bereit, ihren Entschluß und Verantwortung zu erleichtern. Die Stillstände
in der Ausdchuungsbewegung haben nichts mit dem Wechsel der Parteiregie¬
rungen im Mutterlande, sondern nur mit dem Widerstande zu thun, der sich ihr
draußen und von außen her entgegenstellte. Wenn die Vereinigten Staaten
drohten, die mohammedanischen Soldaten in Indien sich empörten oder die
Buren von Transvaal ihre guten Büchsen von der Wand nahmen, da stand


Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

bringen. Neufundland hat schon einmal diesen Prozeß durchgemacht, und es
ist gar nicht unmöglich, daß sich diese älteste der englischen Kolonien wieder
unter die Aufsicht englischer Beamten stellt. Man bedenke, was das heißt,
bei einer fast selbständigen Stellung, deren sich Neufundland zwischen England
und Kanada in den letzten Jahrzehnten erfreute, sich mit dem alten Lande so
eng verbunden zu fühlen, daß trotz der Verzweiflung über Mißerfolge der Ver¬
waltung und der Geschäfte der Gedanke eines engern Anschlnsfes an Kanada,
der den armen Fischerstaat erleichtern würde, weit weggewiesen, dagegen ver¬
trauensvoll die Absendung eines Kommissars der englischen Regierung erbeten
wird. Was wollen gegenüber einem so innigen Zusammenhang zwischen dem
Mutterland und seiner ältesten Kolonie die paar Klippen bedeuten, die Frank¬
reich an Neufundlands Küste noch besitzt, und das Recht seiner Fischer, auf ge¬
wissen Küstenstrecken ihre Stockfische und Hummer zu Präpariren und ihre
Netze auszubessern? Hier ein paar ärmliche Bertragsparagraphen, dort das
kräftige Pulsiren in einem über alle Meere hin als eins sich fühlenden Vvlks-
und Staatsorganismus.

Dieser echt nationale Zug wird bei uns nicht nach Verdienst gewürdigt.
Wir glauben, die englischen Kolonien warteten mir, bis sie sich losreißen
können, seien ungeduldig, gegängelt zu werden, die Geschichte der Bereinigten
Staaten von Amerika mit Unabhängigkeitserklärung und lange nachbrennenden
Wunden müsse sich notwendig wiederholen. Hüten wir uns vor zu raschen
Schlüssen, die uns doch nur einleuchten, weil sie uns bequem sind. Der Zu¬
sammenhang der Teile des Reichs ist nie fester gewesen als jetzt, und nie hat
mau deutlicher erkannt, wo die Gefahren für diesen Zusammenhang, aber auch
too seine Vorteile liegen, nie ist die Bedeutung der Kolonien für die „britische
Nasse" besser verstanden worden. Ans dem Kontinent giebt es noch Leute,
die glauben, daß in England die Phrase aus dem Zeitalter der Reformbewe-
gung: „Fort mit den Kolonien! wir sind stärker ohne sie, sie schädigen unsre
Freiheit und bedrohen uns unaufhörlich mit äußern Verwicklungen" noch lebe
und noch irgend eine Macht über die Gemüter habe. Wenn sich diese
Leichtgläubigen und naiven nicht von der Geschichte der seit jener Bewegung
verflossenen zwei Menschenalter belehren lassen, ist ihnen nicht zu helfen. Kon¬
servative und Liberale haben in dieser Zeit mit derselben Entschiedenheit an dem
Ausbau der britischen Kolonialmacht arbeiten lernen, und wenn die Liberalen zu
Hause zaudern wollten, dann waren ihre Freunde am Kap, in Australien u. s. w.
immer bereit, ihren Entschluß und Verantwortung zu erleichtern. Die Stillstände
in der Ausdchuungsbewegung haben nichts mit dem Wechsel der Parteiregie¬
rungen im Mutterlande, sondern nur mit dem Widerstande zu thun, der sich ihr
draußen und von außen her entgegenstellte. Wenn die Vereinigten Staaten
drohten, die mohammedanischen Soldaten in Indien sich empörten oder die
Buren von Transvaal ihre guten Büchsen von der Wand nahmen, da stand


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0406" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219408"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1227" prev="#ID_1226"> bringen. Neufundland hat schon einmal diesen Prozeß durchgemacht, und es<lb/>
ist gar nicht unmöglich, daß sich diese älteste der englischen Kolonien wieder<lb/>
unter die Aufsicht englischer Beamten stellt. Man bedenke, was das heißt,<lb/>
bei einer fast selbständigen Stellung, deren sich Neufundland zwischen England<lb/>
und Kanada in den letzten Jahrzehnten erfreute, sich mit dem alten Lande so<lb/>
eng verbunden zu fühlen, daß trotz der Verzweiflung über Mißerfolge der Ver¬<lb/>
waltung und der Geschäfte der Gedanke eines engern Anschlnsfes an Kanada,<lb/>
der den armen Fischerstaat erleichtern würde, weit weggewiesen, dagegen ver¬<lb/>
trauensvoll die Absendung eines Kommissars der englischen Regierung erbeten<lb/>
wird. Was wollen gegenüber einem so innigen Zusammenhang zwischen dem<lb/>
Mutterland und seiner ältesten Kolonie die paar Klippen bedeuten, die Frank¬<lb/>
reich an Neufundlands Küste noch besitzt, und das Recht seiner Fischer, auf ge¬<lb/>
wissen Küstenstrecken ihre Stockfische und Hummer zu Präpariren und ihre<lb/>
Netze auszubessern? Hier ein paar ärmliche Bertragsparagraphen, dort das<lb/>
kräftige Pulsiren in einem über alle Meere hin als eins sich fühlenden Vvlks-<lb/>
und Staatsorganismus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1228" next="#ID_1229"> Dieser echt nationale Zug wird bei uns nicht nach Verdienst gewürdigt.<lb/>
Wir glauben, die englischen Kolonien warteten mir, bis sie sich losreißen<lb/>
können, seien ungeduldig, gegängelt zu werden, die Geschichte der Bereinigten<lb/>
Staaten von Amerika mit Unabhängigkeitserklärung und lange nachbrennenden<lb/>
Wunden müsse sich notwendig wiederholen. Hüten wir uns vor zu raschen<lb/>
Schlüssen, die uns doch nur einleuchten, weil sie uns bequem sind. Der Zu¬<lb/>
sammenhang der Teile des Reichs ist nie fester gewesen als jetzt, und nie hat<lb/>
mau deutlicher erkannt, wo die Gefahren für diesen Zusammenhang, aber auch<lb/>
too seine Vorteile liegen, nie ist die Bedeutung der Kolonien für die &#x201E;britische<lb/>
Nasse" besser verstanden worden. Ans dem Kontinent giebt es noch Leute,<lb/>
die glauben, daß in England die Phrase aus dem Zeitalter der Reformbewe-<lb/>
gung: &#x201E;Fort mit den Kolonien! wir sind stärker ohne sie, sie schädigen unsre<lb/>
Freiheit und bedrohen uns unaufhörlich mit äußern Verwicklungen" noch lebe<lb/>
und noch irgend eine Macht über die Gemüter habe. Wenn sich diese<lb/>
Leichtgläubigen und naiven nicht von der Geschichte der seit jener Bewegung<lb/>
verflossenen zwei Menschenalter belehren lassen, ist ihnen nicht zu helfen. Kon¬<lb/>
servative und Liberale haben in dieser Zeit mit derselben Entschiedenheit an dem<lb/>
Ausbau der britischen Kolonialmacht arbeiten lernen, und wenn die Liberalen zu<lb/>
Hause zaudern wollten, dann waren ihre Freunde am Kap, in Australien u. s. w.<lb/>
immer bereit, ihren Entschluß und Verantwortung zu erleichtern. Die Stillstände<lb/>
in der Ausdchuungsbewegung haben nichts mit dem Wechsel der Parteiregie¬<lb/>
rungen im Mutterlande, sondern nur mit dem Widerstande zu thun, der sich ihr<lb/>
draußen und von außen her entgegenstellte. Wenn die Vereinigten Staaten<lb/>
drohten, die mohammedanischen Soldaten in Indien sich empörten oder die<lb/>
Buren von Transvaal ihre guten Büchsen von der Wand nahmen, da stand</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0406] Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik bringen. Neufundland hat schon einmal diesen Prozeß durchgemacht, und es ist gar nicht unmöglich, daß sich diese älteste der englischen Kolonien wieder unter die Aufsicht englischer Beamten stellt. Man bedenke, was das heißt, bei einer fast selbständigen Stellung, deren sich Neufundland zwischen England und Kanada in den letzten Jahrzehnten erfreute, sich mit dem alten Lande so eng verbunden zu fühlen, daß trotz der Verzweiflung über Mißerfolge der Ver¬ waltung und der Geschäfte der Gedanke eines engern Anschlnsfes an Kanada, der den armen Fischerstaat erleichtern würde, weit weggewiesen, dagegen ver¬ trauensvoll die Absendung eines Kommissars der englischen Regierung erbeten wird. Was wollen gegenüber einem so innigen Zusammenhang zwischen dem Mutterland und seiner ältesten Kolonie die paar Klippen bedeuten, die Frank¬ reich an Neufundlands Küste noch besitzt, und das Recht seiner Fischer, auf ge¬ wissen Küstenstrecken ihre Stockfische und Hummer zu Präpariren und ihre Netze auszubessern? Hier ein paar ärmliche Bertragsparagraphen, dort das kräftige Pulsiren in einem über alle Meere hin als eins sich fühlenden Vvlks- und Staatsorganismus. Dieser echt nationale Zug wird bei uns nicht nach Verdienst gewürdigt. Wir glauben, die englischen Kolonien warteten mir, bis sie sich losreißen können, seien ungeduldig, gegängelt zu werden, die Geschichte der Bereinigten Staaten von Amerika mit Unabhängigkeitserklärung und lange nachbrennenden Wunden müsse sich notwendig wiederholen. Hüten wir uns vor zu raschen Schlüssen, die uns doch nur einleuchten, weil sie uns bequem sind. Der Zu¬ sammenhang der Teile des Reichs ist nie fester gewesen als jetzt, und nie hat mau deutlicher erkannt, wo die Gefahren für diesen Zusammenhang, aber auch too seine Vorteile liegen, nie ist die Bedeutung der Kolonien für die „britische Nasse" besser verstanden worden. Ans dem Kontinent giebt es noch Leute, die glauben, daß in England die Phrase aus dem Zeitalter der Reformbewe- gung: „Fort mit den Kolonien! wir sind stärker ohne sie, sie schädigen unsre Freiheit und bedrohen uns unaufhörlich mit äußern Verwicklungen" noch lebe und noch irgend eine Macht über die Gemüter habe. Wenn sich diese Leichtgläubigen und naiven nicht von der Geschichte der seit jener Bewegung verflossenen zwei Menschenalter belehren lassen, ist ihnen nicht zu helfen. Kon¬ servative und Liberale haben in dieser Zeit mit derselben Entschiedenheit an dem Ausbau der britischen Kolonialmacht arbeiten lernen, und wenn die Liberalen zu Hause zaudern wollten, dann waren ihre Freunde am Kap, in Australien u. s. w. immer bereit, ihren Entschluß und Verantwortung zu erleichtern. Die Stillstände in der Ausdchuungsbewegung haben nichts mit dem Wechsel der Parteiregie¬ rungen im Mutterlande, sondern nur mit dem Widerstande zu thun, der sich ihr draußen und von außen her entgegenstellte. Wenn die Vereinigten Staaten drohten, die mohammedanischen Soldaten in Indien sich empörten oder die Buren von Transvaal ihre guten Büchsen von der Wand nahmen, da stand

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/406
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/406>, abgerufen am 23.07.2024.