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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Victor Aias Huber

der Monarchie und die unbedingte Verurteilung der Revolution als Sünde.
Ein ideales Verhältnis zwischen Monarch und Volk ist etwas so seltenes, daß
man es unmöglich als den politischen Normalzustand bezeichnen kann. Aus
das neue deutsche Reich paßt zudem das Gleichnis von der Ehe gar nicht;
die Frau hätte ja da beinahe zwei Dutzend Männer, wenn wir die Reichs-
fürsten nicht als Luft behandeln wollen, was wieder nicht verfassungsgemäß
wäre. Sodann sind alle Monarchien Europas selbst mehr oder weniger ein
Produkt von Revolutionen; in Deutschland haben, wenn wir von den städti¬
schen und den Vauernrevolutionen früherer Zeiten absehen wollen, die Kriege
der Territorialfürsten unter einander und mit dem Kaiser die Stelle der Re¬
volutionen vertreten; der erste Abschnitt des dreißigjährigen Krieges bestand
sogar aus einer Reihe wirklicher Revolutionen. Gewiß wäre es zu wünschen,
daß einmal die Evolution an die Stelle der Revolution träte, und das würde
geschehen, wenn die Lebensbedingungen jedes Volks mit gleicher Klarheit vou
ihm selbst wie von seiner Negierung durchschaut würden und beide sich den
aus dieser Erkenntnis folgenden Notwendigkeiten ohne Widerstreben fügten.
Bis jetzt aber ist das Notwendige meist durch eine Revolution oder aus Furcht
vor einer drohenden Revolution geschehen, und der endgiltige Verzicht eines
Volkes auf gewaltthätige Selbsthilfe im Notfall das Ende seines Kulturlebens
gewesen. Was aber notwendig und unentbehrlich ist, kann nicht an sich,
sondern nur unter Umstünden Sünde sein. Endlich steht der Verwirklichung
unsers Ideals die ungeheure Schwierigkeit im Wege, daß sich Monarchen, die
eine solche persönliche Verantwortung auf sich nehmen, wie sie innerhalb der
Kulturwelt oder vielmehr an deren Grenzen nur noch der russische Kaiser als
eine nicht leicht abzuschüttelnde furchtbare Last trägt, kaum noch finden werden.

Bleibt also unsre Übereinstimmung mit Huber in diesem Punkte der
Hauptsache nach auf die Kritik der Schwächen des Konstitutionalismus und
auf die Würdigung der Selbstverwaltung im Sinne Mösers und Buchers
beschränkt, so erkennen wir dagegen das Ziel an, das er dem deutschen Volke
für seine äußere Politik steckt, natürlich mit der Einschränkung, daß seine Er¬
strebung auf den Wegen, die vor 1866 vielleicht noch offen standen, seitdem
nicht mehr möglich ist, daß daher die Diplomatie andre zu eröffnen hat. Die
Vernünftigkeit und Unabweisbarkeit dieses Zieles wird auch dem Wider¬
strebenden einleuchten, wenn er in den englischen Reisebriefen die Abschnitte
liest, in denen die Bedingungen der Weltstellung Englands erörtert werden.
Um die wirklichen Machtverhältnisse der Staaten kennen zu lernen, heißt es
da u. a., müsse man nicht bloß Zahlen vergleichen, sondern sich vor allem
von dem Vorurteil losmachen, als ob eine Quadratmeile, eine Meile Küsten¬
strecke oder Stromlauf, ein Hafen, eine Reede, eine Seele in allen Kultur¬
staaten ungefähr dieselbe Bedeutung hätten. England sei ins achtzehnte Jahr¬
hundert nur mit einem halb so großen Betriebskapital an Land und Leuten


Victor Aias Huber

der Monarchie und die unbedingte Verurteilung der Revolution als Sünde.
Ein ideales Verhältnis zwischen Monarch und Volk ist etwas so seltenes, daß
man es unmöglich als den politischen Normalzustand bezeichnen kann. Aus
das neue deutsche Reich paßt zudem das Gleichnis von der Ehe gar nicht;
die Frau hätte ja da beinahe zwei Dutzend Männer, wenn wir die Reichs-
fürsten nicht als Luft behandeln wollen, was wieder nicht verfassungsgemäß
wäre. Sodann sind alle Monarchien Europas selbst mehr oder weniger ein
Produkt von Revolutionen; in Deutschland haben, wenn wir von den städti¬
schen und den Vauernrevolutionen früherer Zeiten absehen wollen, die Kriege
der Territorialfürsten unter einander und mit dem Kaiser die Stelle der Re¬
volutionen vertreten; der erste Abschnitt des dreißigjährigen Krieges bestand
sogar aus einer Reihe wirklicher Revolutionen. Gewiß wäre es zu wünschen,
daß einmal die Evolution an die Stelle der Revolution träte, und das würde
geschehen, wenn die Lebensbedingungen jedes Volks mit gleicher Klarheit vou
ihm selbst wie von seiner Negierung durchschaut würden und beide sich den
aus dieser Erkenntnis folgenden Notwendigkeiten ohne Widerstreben fügten.
Bis jetzt aber ist das Notwendige meist durch eine Revolution oder aus Furcht
vor einer drohenden Revolution geschehen, und der endgiltige Verzicht eines
Volkes auf gewaltthätige Selbsthilfe im Notfall das Ende seines Kulturlebens
gewesen. Was aber notwendig und unentbehrlich ist, kann nicht an sich,
sondern nur unter Umstünden Sünde sein. Endlich steht der Verwirklichung
unsers Ideals die ungeheure Schwierigkeit im Wege, daß sich Monarchen, die
eine solche persönliche Verantwortung auf sich nehmen, wie sie innerhalb der
Kulturwelt oder vielmehr an deren Grenzen nur noch der russische Kaiser als
eine nicht leicht abzuschüttelnde furchtbare Last trägt, kaum noch finden werden.

Bleibt also unsre Übereinstimmung mit Huber in diesem Punkte der
Hauptsache nach auf die Kritik der Schwächen des Konstitutionalismus und
auf die Würdigung der Selbstverwaltung im Sinne Mösers und Buchers
beschränkt, so erkennen wir dagegen das Ziel an, das er dem deutschen Volke
für seine äußere Politik steckt, natürlich mit der Einschränkung, daß seine Er¬
strebung auf den Wegen, die vor 1866 vielleicht noch offen standen, seitdem
nicht mehr möglich ist, daß daher die Diplomatie andre zu eröffnen hat. Die
Vernünftigkeit und Unabweisbarkeit dieses Zieles wird auch dem Wider¬
strebenden einleuchten, wenn er in den englischen Reisebriefen die Abschnitte
liest, in denen die Bedingungen der Weltstellung Englands erörtert werden.
Um die wirklichen Machtverhältnisse der Staaten kennen zu lernen, heißt es
da u. a., müsse man nicht bloß Zahlen vergleichen, sondern sich vor allem
von dem Vorurteil losmachen, als ob eine Quadratmeile, eine Meile Küsten¬
strecke oder Stromlauf, ein Hafen, eine Reede, eine Seele in allen Kultur¬
staaten ungefähr dieselbe Bedeutung hätten. England sei ins achtzehnte Jahr¬
hundert nur mit einem halb so großen Betriebskapital an Land und Leuten


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[0374] Victor Aias Huber der Monarchie und die unbedingte Verurteilung der Revolution als Sünde. Ein ideales Verhältnis zwischen Monarch und Volk ist etwas so seltenes, daß man es unmöglich als den politischen Normalzustand bezeichnen kann. Aus das neue deutsche Reich paßt zudem das Gleichnis von der Ehe gar nicht; die Frau hätte ja da beinahe zwei Dutzend Männer, wenn wir die Reichs- fürsten nicht als Luft behandeln wollen, was wieder nicht verfassungsgemäß wäre. Sodann sind alle Monarchien Europas selbst mehr oder weniger ein Produkt von Revolutionen; in Deutschland haben, wenn wir von den städti¬ schen und den Vauernrevolutionen früherer Zeiten absehen wollen, die Kriege der Territorialfürsten unter einander und mit dem Kaiser die Stelle der Re¬ volutionen vertreten; der erste Abschnitt des dreißigjährigen Krieges bestand sogar aus einer Reihe wirklicher Revolutionen. Gewiß wäre es zu wünschen, daß einmal die Evolution an die Stelle der Revolution träte, und das würde geschehen, wenn die Lebensbedingungen jedes Volks mit gleicher Klarheit vou ihm selbst wie von seiner Negierung durchschaut würden und beide sich den aus dieser Erkenntnis folgenden Notwendigkeiten ohne Widerstreben fügten. Bis jetzt aber ist das Notwendige meist durch eine Revolution oder aus Furcht vor einer drohenden Revolution geschehen, und der endgiltige Verzicht eines Volkes auf gewaltthätige Selbsthilfe im Notfall das Ende seines Kulturlebens gewesen. Was aber notwendig und unentbehrlich ist, kann nicht an sich, sondern nur unter Umstünden Sünde sein. Endlich steht der Verwirklichung unsers Ideals die ungeheure Schwierigkeit im Wege, daß sich Monarchen, die eine solche persönliche Verantwortung auf sich nehmen, wie sie innerhalb der Kulturwelt oder vielmehr an deren Grenzen nur noch der russische Kaiser als eine nicht leicht abzuschüttelnde furchtbare Last trägt, kaum noch finden werden. Bleibt also unsre Übereinstimmung mit Huber in diesem Punkte der Hauptsache nach auf die Kritik der Schwächen des Konstitutionalismus und auf die Würdigung der Selbstverwaltung im Sinne Mösers und Buchers beschränkt, so erkennen wir dagegen das Ziel an, das er dem deutschen Volke für seine äußere Politik steckt, natürlich mit der Einschränkung, daß seine Er¬ strebung auf den Wegen, die vor 1866 vielleicht noch offen standen, seitdem nicht mehr möglich ist, daß daher die Diplomatie andre zu eröffnen hat. Die Vernünftigkeit und Unabweisbarkeit dieses Zieles wird auch dem Wider¬ strebenden einleuchten, wenn er in den englischen Reisebriefen die Abschnitte liest, in denen die Bedingungen der Weltstellung Englands erörtert werden. Um die wirklichen Machtverhältnisse der Staaten kennen zu lernen, heißt es da u. a., müsse man nicht bloß Zahlen vergleichen, sondern sich vor allem von dem Vorurteil losmachen, als ob eine Quadratmeile, eine Meile Küsten¬ strecke oder Stromlauf, ein Hafen, eine Reede, eine Seele in allen Kultur¬ staaten ungefähr dieselbe Bedeutung hätten. England sei ins achtzehnte Jahr¬ hundert nur mit einem halb so großen Betriebskapital an Land und Leuten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/374>, abgerufen am 23.07.2024.