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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Prozeßsucht und Prozeßverschleppnng

er leicht in die Lage, all eine"! Bvrmittage vor allen diesen Richtern zu gleicher
Zeit verhandeln zu fallen. Und da sich nicht voraussehen läßt, welche Dauer
die eine oder die andre Verhandlung in Anspruch nimmt, so kann es geschehen,
daß der Anwalt nur Zeit findet, vor einem oder zwei Gerichtshöfen zu ver¬
handeln, sodaß also gar nichts andres übrig bleibt, als einen Teil der Sachen
zu vertagen, lind dieses Mißgeschick kann natürlich dieselbe Sache mehrere-
male betreffen.

Wie ist nun diesem Mißstand abzuhelfen? Der eine Weg ist schon an¬
gedeutet: Abhilfe würde zweifellos geschafft werden, wenn an einem Tage nur
ein Gerichtshof verhandelte, ein Zusammentreffen von verschiednen Verhand¬
lungsterminen also ausgeschlossen würde. Aber dieser Weg ist leider nicht
gangbar. Denn bei der Fülle der Streitsachen sind mehrere Amtsrichter und
Zivilkammer" und mehr als ein Verhandlungstag wöchentlich unbedingte Not¬
wendigkeit. Kann aber die Verhandlnngsmöglichkeit nicht durch andre Or¬
ganisation der Gerichte erreicht werden, und ist es, wie wir mit den Anwälten
annehmen wollen, für diese dann unmöglich, die angesetzten Termine mit der
im Interesse der Rechtsuchenden wünschenswerten Pünktlichkeit abzuwarten, so
sehen wir keinen andern Ausweg, als Aufhebung des unbedingten Anwalts¬
zwangs. Wird anerkannt, daß der Rechtsanwalt infolge der Organisation der
Gerichte und der Menge der Rechtssachen, mit deren Vertretung er beauftragt
wird, und deren Zurückweisung ihm als einem Gewerbtreibenden unmöglich
angesonnen werden kann, mit dem besten Willen nicht in der Lage ist, die
gerichtlichen Termine immer pünktlich abzuwarten, sodaß also eine Verschlep¬
pung in einer großen Anzahl von Prozessen eintreten muß, so ist es ein Wider¬
sinn und eine Unbilligkeit, die einfach an Rechtsverweigerung grenzt, wenn
gleichwohl dem Rechtsuchenden ein solcher Vertreter aufgenötigt wird. Der
Gesetzgeber hat nur dann ein Recht, die Vertretung der Parteien vor Gericht
durch Anwälte zu verlangen, wenn dadurch die Rechtspflege gefördert wird.
Daß er dies beabsichtigt hat, ist ja zweifellos. Ju der Praxis hat sich aber
herausgestellt, daß die unbedingte und ausnahmslose Durchführung dieser Vor¬
schrift das gerade Gegenteil, nämlich die Prozeßverschleppnng herbeiführt. Das
beweisen die angefühlten Thatsachen, die Richtern und Anwälten längst bekannt
sind. Eine Vessernng ist nur zu erwarten, wenn die starre Durchführung des
Anwaltszwangs aufgegeben wird. Gar nichts würden Disziplinarstrafen gegen
die Anwälte bei wiederholter Vertagung helfen. Sie wären ungerecht in den
Fällen, wo dem Anwalt keine Nachlässigkeit zur Last fällt. Das Gericht ist
aber auch garnicht in der Lage, dies erörtern zu können, der Prozeß würde
dadurch nur mit unnötigen Ballast beschwert werden. Endlich würde auch,
was nicht gering anzuschlagen ist, das gute Einvernehmen zwischen Gericht
und Anwalt, auf dem eine gedeihliche Rechtspflege nicht wenig beruht, darunter
leiden. Ebenso wenig können wir Anspruchsverlnst bei wiederholter Versäumnis


Grenzboten 1 1895 M
Prozeßsucht und Prozeßverschleppnng

er leicht in die Lage, all eine»! Bvrmittage vor allen diesen Richtern zu gleicher
Zeit verhandeln zu fallen. Und da sich nicht voraussehen läßt, welche Dauer
die eine oder die andre Verhandlung in Anspruch nimmt, so kann es geschehen,
daß der Anwalt nur Zeit findet, vor einem oder zwei Gerichtshöfen zu ver¬
handeln, sodaß also gar nichts andres übrig bleibt, als einen Teil der Sachen
zu vertagen, lind dieses Mißgeschick kann natürlich dieselbe Sache mehrere-
male betreffen.

Wie ist nun diesem Mißstand abzuhelfen? Der eine Weg ist schon an¬
gedeutet: Abhilfe würde zweifellos geschafft werden, wenn an einem Tage nur
ein Gerichtshof verhandelte, ein Zusammentreffen von verschiednen Verhand¬
lungsterminen also ausgeschlossen würde. Aber dieser Weg ist leider nicht
gangbar. Denn bei der Fülle der Streitsachen sind mehrere Amtsrichter und
Zivilkammer» und mehr als ein Verhandlungstag wöchentlich unbedingte Not¬
wendigkeit. Kann aber die Verhandlnngsmöglichkeit nicht durch andre Or¬
ganisation der Gerichte erreicht werden, und ist es, wie wir mit den Anwälten
annehmen wollen, für diese dann unmöglich, die angesetzten Termine mit der
im Interesse der Rechtsuchenden wünschenswerten Pünktlichkeit abzuwarten, so
sehen wir keinen andern Ausweg, als Aufhebung des unbedingten Anwalts¬
zwangs. Wird anerkannt, daß der Rechtsanwalt infolge der Organisation der
Gerichte und der Menge der Rechtssachen, mit deren Vertretung er beauftragt
wird, und deren Zurückweisung ihm als einem Gewerbtreibenden unmöglich
angesonnen werden kann, mit dem besten Willen nicht in der Lage ist, die
gerichtlichen Termine immer pünktlich abzuwarten, sodaß also eine Verschlep¬
pung in einer großen Anzahl von Prozessen eintreten muß, so ist es ein Wider¬
sinn und eine Unbilligkeit, die einfach an Rechtsverweigerung grenzt, wenn
gleichwohl dem Rechtsuchenden ein solcher Vertreter aufgenötigt wird. Der
Gesetzgeber hat nur dann ein Recht, die Vertretung der Parteien vor Gericht
durch Anwälte zu verlangen, wenn dadurch die Rechtspflege gefördert wird.
Daß er dies beabsichtigt hat, ist ja zweifellos. Ju der Praxis hat sich aber
herausgestellt, daß die unbedingte und ausnahmslose Durchführung dieser Vor¬
schrift das gerade Gegenteil, nämlich die Prozeßverschleppnng herbeiführt. Das
beweisen die angefühlten Thatsachen, die Richtern und Anwälten längst bekannt
sind. Eine Vessernng ist nur zu erwarten, wenn die starre Durchführung des
Anwaltszwangs aufgegeben wird. Gar nichts würden Disziplinarstrafen gegen
die Anwälte bei wiederholter Vertagung helfen. Sie wären ungerecht in den
Fällen, wo dem Anwalt keine Nachlässigkeit zur Last fällt. Das Gericht ist
aber auch garnicht in der Lage, dies erörtern zu können, der Prozeß würde
dadurch nur mit unnötigen Ballast beschwert werden. Endlich würde auch,
was nicht gering anzuschlagen ist, das gute Einvernehmen zwischen Gericht
und Anwalt, auf dem eine gedeihliche Rechtspflege nicht wenig beruht, darunter
leiden. Ebenso wenig können wir Anspruchsverlnst bei wiederholter Versäumnis


Grenzboten 1 1895 M
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[0307] Prozeßsucht und Prozeßverschleppnng er leicht in die Lage, all eine»! Bvrmittage vor allen diesen Richtern zu gleicher Zeit verhandeln zu fallen. Und da sich nicht voraussehen läßt, welche Dauer die eine oder die andre Verhandlung in Anspruch nimmt, so kann es geschehen, daß der Anwalt nur Zeit findet, vor einem oder zwei Gerichtshöfen zu ver¬ handeln, sodaß also gar nichts andres übrig bleibt, als einen Teil der Sachen zu vertagen, lind dieses Mißgeschick kann natürlich dieselbe Sache mehrere- male betreffen. Wie ist nun diesem Mißstand abzuhelfen? Der eine Weg ist schon an¬ gedeutet: Abhilfe würde zweifellos geschafft werden, wenn an einem Tage nur ein Gerichtshof verhandelte, ein Zusammentreffen von verschiednen Verhand¬ lungsterminen also ausgeschlossen würde. Aber dieser Weg ist leider nicht gangbar. Denn bei der Fülle der Streitsachen sind mehrere Amtsrichter und Zivilkammer» und mehr als ein Verhandlungstag wöchentlich unbedingte Not¬ wendigkeit. Kann aber die Verhandlnngsmöglichkeit nicht durch andre Or¬ ganisation der Gerichte erreicht werden, und ist es, wie wir mit den Anwälten annehmen wollen, für diese dann unmöglich, die angesetzten Termine mit der im Interesse der Rechtsuchenden wünschenswerten Pünktlichkeit abzuwarten, so sehen wir keinen andern Ausweg, als Aufhebung des unbedingten Anwalts¬ zwangs. Wird anerkannt, daß der Rechtsanwalt infolge der Organisation der Gerichte und der Menge der Rechtssachen, mit deren Vertretung er beauftragt wird, und deren Zurückweisung ihm als einem Gewerbtreibenden unmöglich angesonnen werden kann, mit dem besten Willen nicht in der Lage ist, die gerichtlichen Termine immer pünktlich abzuwarten, sodaß also eine Verschlep¬ pung in einer großen Anzahl von Prozessen eintreten muß, so ist es ein Wider¬ sinn und eine Unbilligkeit, die einfach an Rechtsverweigerung grenzt, wenn gleichwohl dem Rechtsuchenden ein solcher Vertreter aufgenötigt wird. Der Gesetzgeber hat nur dann ein Recht, die Vertretung der Parteien vor Gericht durch Anwälte zu verlangen, wenn dadurch die Rechtspflege gefördert wird. Daß er dies beabsichtigt hat, ist ja zweifellos. Ju der Praxis hat sich aber herausgestellt, daß die unbedingte und ausnahmslose Durchführung dieser Vor¬ schrift das gerade Gegenteil, nämlich die Prozeßverschleppnng herbeiführt. Das beweisen die angefühlten Thatsachen, die Richtern und Anwälten längst bekannt sind. Eine Vessernng ist nur zu erwarten, wenn die starre Durchführung des Anwaltszwangs aufgegeben wird. Gar nichts würden Disziplinarstrafen gegen die Anwälte bei wiederholter Vertagung helfen. Sie wären ungerecht in den Fällen, wo dem Anwalt keine Nachlässigkeit zur Last fällt. Das Gericht ist aber auch garnicht in der Lage, dies erörtern zu können, der Prozeß würde dadurch nur mit unnötigen Ballast beschwert werden. Endlich würde auch, was nicht gering anzuschlagen ist, das gute Einvernehmen zwischen Gericht und Anwalt, auf dem eine gedeihliche Rechtspflege nicht wenig beruht, darunter leiden. Ebenso wenig können wir Anspruchsverlnst bei wiederholter Versäumnis Grenzboten 1 1895 M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/307>, abgerufen am 23.07.2024.