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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Prozeßsucht und Prozeßverschlexpung

Parteien dazu, über Gegenstände des öffentlichen Interesses nach ihrem Gut¬
dünken zu verfügen? Ist es richtig, daß die Rechtskraft Staatsgewalt ist,
wie kommen die Parteien dazu, die Staatsgewalt lahm legen zu dürfen? Soll
das Urteil bestehen kraft der Staatsgewalt oder von der Parteien Gnaden? Zu¬
treffend sagt Bülow, man möge dann nicht von einer Rechtskraft, sondern
von einer Rechtsschwäche des Urteils sprechen. Hat man denn keine Empfin¬
dung dafür, wie man durch eine solche Bestimmung die Stellung des Richters
und des Staates, in dessen Vertretung er Recht spricht, herabwürdigt? Ist
dieser denn ein bloßer Urteilsautomat, ist die staatliche Rechtspflege dazu da,
zum Spielball der Parteien zu dienen? Die Bestimmung beruht auf einem
argen Irrtum. Was der Parteivereinbarung auch nach Erlaß eines rechts¬
kräftigen Urteils weiter überlassen bleiben muß, das ist die Verfügung über
den materiellen Anspruch selbst, dessen Bestehen oder Nichtbestehen in dem
Urteil autoritativ festgesetzt worden ist, denn er gehört zum Privatvermögen
des Einzelnen, über das ihm, nicht dem Staate, das Verfügungsrecht zusteht.
Entzogen aber muß den Parteien sein eine Disposition über die Verpflichtung
des Staats zur Rechtsschutzgewährung dahin, daß sie diese für dieselbe Sache
wiederholt und so oft es ihnen beliebt in Anspruch nehmen, indem sie die
Tauglichkeit des frühern Rechtsschutzes nicht anerkennen. Hat der Staat ein¬
mal durch das eingeleitete Prozeßverfahren und dnrch Erlaß eines Urteils
dieser seiner übernommnen Pflicht zur Gewährung von Rechtsschutz Genüge
geleistet, so hieße es seine Dienste mißbrauchen, wenn er durch das Belieben
der Parteien gezwungen werden könnte, die Nechtsschutzgewährung wieder und
wieder zu leisten.

Nimmt man aber dem rechtskräftigen Urteil die Macht, den Rechtsstreit
endgiltig zu schlichten, so hindert die streitenden Parteien nichts, dieselbe Sache
so oft sie wollen vor Gericht zur Entscheidung zu bringen. Und wenn alle
Instanzen durchlaufen sind, und wenn selbst das Reichsgericht gesprochen hat --
solange die Parteien nicht das Urteil als rechtsverbindlich anerkannt haben,
wenn sie ans dessen Rechtskraftwirkung verzichten, ist das Urteil nur ein
Stück wertloses Papier, haben sämtliche Staats- und Reichsrichter in den
Wind gesprochen, und die Parteien können von neuem klagen und von neuem
ihr Gezänk durch die Instanzen treiben. Ist das vernünftig? Heißt das
wirtschaftlich und weise haushalten mit den staatlichen Kräften?

Mai: wende nicht ein, es werde nicht häufig vorkommen, daß beide Par¬
teien auf die Nechtskraftwirkung verzichten. Weshalb dann überhaupt die
ganze Vorschrift? Erläßt man Gesetze, damit sie möglichst nicht befolgt
werden? Warum einem unerwünschten Gast erst Thür und Thor öffnen,
wenn man nicht will, daß er eintrete? Es ist aber auch nicht richtig, daß
ein derartiger Verzicht selten erfolgen werde. Hat eine Partei völlig gesiegt,
so wird sie freilich nicht bereit sein, die Rechtskraft des erlangten Urteils preis-


Prozeßsucht und Prozeßverschlexpung

Parteien dazu, über Gegenstände des öffentlichen Interesses nach ihrem Gut¬
dünken zu verfügen? Ist es richtig, daß die Rechtskraft Staatsgewalt ist,
wie kommen die Parteien dazu, die Staatsgewalt lahm legen zu dürfen? Soll
das Urteil bestehen kraft der Staatsgewalt oder von der Parteien Gnaden? Zu¬
treffend sagt Bülow, man möge dann nicht von einer Rechtskraft, sondern
von einer Rechtsschwäche des Urteils sprechen. Hat man denn keine Empfin¬
dung dafür, wie man durch eine solche Bestimmung die Stellung des Richters
und des Staates, in dessen Vertretung er Recht spricht, herabwürdigt? Ist
dieser denn ein bloßer Urteilsautomat, ist die staatliche Rechtspflege dazu da,
zum Spielball der Parteien zu dienen? Die Bestimmung beruht auf einem
argen Irrtum. Was der Parteivereinbarung auch nach Erlaß eines rechts¬
kräftigen Urteils weiter überlassen bleiben muß, das ist die Verfügung über
den materiellen Anspruch selbst, dessen Bestehen oder Nichtbestehen in dem
Urteil autoritativ festgesetzt worden ist, denn er gehört zum Privatvermögen
des Einzelnen, über das ihm, nicht dem Staate, das Verfügungsrecht zusteht.
Entzogen aber muß den Parteien sein eine Disposition über die Verpflichtung
des Staats zur Rechtsschutzgewährung dahin, daß sie diese für dieselbe Sache
wiederholt und so oft es ihnen beliebt in Anspruch nehmen, indem sie die
Tauglichkeit des frühern Rechtsschutzes nicht anerkennen. Hat der Staat ein¬
mal durch das eingeleitete Prozeßverfahren und dnrch Erlaß eines Urteils
dieser seiner übernommnen Pflicht zur Gewährung von Rechtsschutz Genüge
geleistet, so hieße es seine Dienste mißbrauchen, wenn er durch das Belieben
der Parteien gezwungen werden könnte, die Nechtsschutzgewährung wieder und
wieder zu leisten.

Nimmt man aber dem rechtskräftigen Urteil die Macht, den Rechtsstreit
endgiltig zu schlichten, so hindert die streitenden Parteien nichts, dieselbe Sache
so oft sie wollen vor Gericht zur Entscheidung zu bringen. Und wenn alle
Instanzen durchlaufen sind, und wenn selbst das Reichsgericht gesprochen hat —
solange die Parteien nicht das Urteil als rechtsverbindlich anerkannt haben,
wenn sie ans dessen Rechtskraftwirkung verzichten, ist das Urteil nur ein
Stück wertloses Papier, haben sämtliche Staats- und Reichsrichter in den
Wind gesprochen, und die Parteien können von neuem klagen und von neuem
ihr Gezänk durch die Instanzen treiben. Ist das vernünftig? Heißt das
wirtschaftlich und weise haushalten mit den staatlichen Kräften?

Mai: wende nicht ein, es werde nicht häufig vorkommen, daß beide Par¬
teien auf die Nechtskraftwirkung verzichten. Weshalb dann überhaupt die
ganze Vorschrift? Erläßt man Gesetze, damit sie möglichst nicht befolgt
werden? Warum einem unerwünschten Gast erst Thür und Thor öffnen,
wenn man nicht will, daß er eintrete? Es ist aber auch nicht richtig, daß
ein derartiger Verzicht selten erfolgen werde. Hat eine Partei völlig gesiegt,
so wird sie freilich nicht bereit sein, die Rechtskraft des erlangten Urteils preis-


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[0301] Prozeßsucht und Prozeßverschlexpung Parteien dazu, über Gegenstände des öffentlichen Interesses nach ihrem Gut¬ dünken zu verfügen? Ist es richtig, daß die Rechtskraft Staatsgewalt ist, wie kommen die Parteien dazu, die Staatsgewalt lahm legen zu dürfen? Soll das Urteil bestehen kraft der Staatsgewalt oder von der Parteien Gnaden? Zu¬ treffend sagt Bülow, man möge dann nicht von einer Rechtskraft, sondern von einer Rechtsschwäche des Urteils sprechen. Hat man denn keine Empfin¬ dung dafür, wie man durch eine solche Bestimmung die Stellung des Richters und des Staates, in dessen Vertretung er Recht spricht, herabwürdigt? Ist dieser denn ein bloßer Urteilsautomat, ist die staatliche Rechtspflege dazu da, zum Spielball der Parteien zu dienen? Die Bestimmung beruht auf einem argen Irrtum. Was der Parteivereinbarung auch nach Erlaß eines rechts¬ kräftigen Urteils weiter überlassen bleiben muß, das ist die Verfügung über den materiellen Anspruch selbst, dessen Bestehen oder Nichtbestehen in dem Urteil autoritativ festgesetzt worden ist, denn er gehört zum Privatvermögen des Einzelnen, über das ihm, nicht dem Staate, das Verfügungsrecht zusteht. Entzogen aber muß den Parteien sein eine Disposition über die Verpflichtung des Staats zur Rechtsschutzgewährung dahin, daß sie diese für dieselbe Sache wiederholt und so oft es ihnen beliebt in Anspruch nehmen, indem sie die Tauglichkeit des frühern Rechtsschutzes nicht anerkennen. Hat der Staat ein¬ mal durch das eingeleitete Prozeßverfahren und dnrch Erlaß eines Urteils dieser seiner übernommnen Pflicht zur Gewährung von Rechtsschutz Genüge geleistet, so hieße es seine Dienste mißbrauchen, wenn er durch das Belieben der Parteien gezwungen werden könnte, die Nechtsschutzgewährung wieder und wieder zu leisten. Nimmt man aber dem rechtskräftigen Urteil die Macht, den Rechtsstreit endgiltig zu schlichten, so hindert die streitenden Parteien nichts, dieselbe Sache so oft sie wollen vor Gericht zur Entscheidung zu bringen. Und wenn alle Instanzen durchlaufen sind, und wenn selbst das Reichsgericht gesprochen hat — solange die Parteien nicht das Urteil als rechtsverbindlich anerkannt haben, wenn sie ans dessen Rechtskraftwirkung verzichten, ist das Urteil nur ein Stück wertloses Papier, haben sämtliche Staats- und Reichsrichter in den Wind gesprochen, und die Parteien können von neuem klagen und von neuem ihr Gezänk durch die Instanzen treiben. Ist das vernünftig? Heißt das wirtschaftlich und weise haushalten mit den staatlichen Kräften? Mai: wende nicht ein, es werde nicht häufig vorkommen, daß beide Par¬ teien auf die Nechtskraftwirkung verzichten. Weshalb dann überhaupt die ganze Vorschrift? Erläßt man Gesetze, damit sie möglichst nicht befolgt werden? Warum einem unerwünschten Gast erst Thür und Thor öffnen, wenn man nicht will, daß er eintrete? Es ist aber auch nicht richtig, daß ein derartiger Verzicht selten erfolgen werde. Hat eine Partei völlig gesiegt, so wird sie freilich nicht bereit sein, die Rechtskraft des erlangten Urteils preis-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/301>, abgerufen am 23.07.2024.