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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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ließen, auf das man Beschlag legen konnte? Drum machte man kurzen Prozeß
mit ihnen, gab jedermann das Recht, sich nach Belieben an ihnen zu rächen
und sie ungestraft zu beleidigen. Ob avsr ^jouiM flocht glühn Isiolitsu man,
heißt es in einem Rechtsbuche, Isiolrt (etwa) viueu lotsr (Lotterbuben) oäsi-
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galt bekanntlich nicht der Verbrecher für unehrlich, sondern nebst den Ange¬
hörigen einiger andern gering geachteten Erwerbsklassen der Henker. Die Ver¬
achtung gewisser Berufsstände war zwar hie und da in wirklicher oder ver¬
muteter Unsittlichkeit begründet, wie bei den Bädern, im allgemeinen aber ein
Ausfluß des Standeshochmuth; auch der Handwerker, der von den höhern
Klassen oft mißachtet wurde, wollte noch einige Staude unter sich haben, auf
die er mit Verachtung hinabblicken konnte. In neuerer Zeit endlich ist die
Gliederung der Gesellschaft in Berufsstände der Scheidung in die zwei Klassen
der "gebildeten" Besitzenden und der "ungebildeten" Proletarier gewichen und
überall nach dem Vorgange Englands die Lehre von der höhern sittlichen
Qualität der gebildeten Klassen eingeführt worden, wonach die ürmern Klassen
ihrer geringern Moralität wegen von Natur zum Verbrechen hinneigen, sodaß
die "Kriminalität" gewissermaßen als ein natürliches Anhängsel des vierten
Standes erscheint, und unser Strafsystem sorgt dafür, einerseits, daß es in
den Gefängnissen niemals an Exemplaren dieser niedersten Menschengattung
fehle, die dem moralischen Glänze der höhern zur Folie dienen können, und
andrerseits, daß die Unglücklichen, die einmal in den Sumpf hineingeraten sind,
nicht wieder herauskönnen.

So sehr aber auch dieser Zustand dem Selbstgefühl der höhern Klassen
schmeicheln mag, den Staatsverwaltungen erwachsen daraus große Schwierig¬
keiten, und diese haben eben zu eiuer Reformbewegung geführt. Was man
immer den Strafverfassungen früherer Zeiten vorwerfen mag, das eine muß
man ihnen lassen, daß keine einzige darunter ist, die so kostspielig und so un¬
praktisch wäre wie unsre heutige. Deu Refvrmvorschlügen des Engländers
kann man im allgemeinen beistimmen; wir fassen sie in unsrer eignen Weise
und von unserm eignen Standpunkte aus kurz zusammen.

Der Gedanke, dem Verbrecher das Strafübel anzuthun, das er verdient,
ist unausführbar, weil kein Mensch die Schuld des andern zu beurteilen ver¬
mag. Das Wort Strafe ist daher keine passende Bezeichnung für die Be¬
handlung eines Verbrechers; am ehesten paßt sie noch auf die Bußen für den
Ungehorsam gegen Polizeivorschriften und gegen solche Staatsgesetze, die nur
zur Aufrechterhaltung der Staatsordnung erlassen werden, weil die Beobach¬
tung solcher Vorschriften erzwungen werden kann, und dergleichen Zwangs¬
mittel auch Strafen genannt zu werden pflegen, obwohl sie mit der Gerechtig¬
keit nichts zu schaffen haben. Doch dürfen solche Übertretungen niemals mit


ließen, auf das man Beschlag legen konnte? Drum machte man kurzen Prozeß
mit ihnen, gab jedermann das Recht, sich nach Belieben an ihnen zu rächen
und sie ungestraft zu beleidigen. Ob avsr ^jouiM flocht glühn Isiolitsu man,
heißt es in einem Rechtsbuche, Isiolrt (etwa) viueu lotsr (Lotterbuben) oäsi-
xosönsxilnMn, äsr Mb äsen rioliwr ditruinb niobtss niobt, nun <!sin ZöslgAön
imod uiobt, äönn ckrei slÄA, alö ör iro. (ihm) vrölsiczlr (fröhlich) on^öd. Übrigens
galt bekanntlich nicht der Verbrecher für unehrlich, sondern nebst den Ange¬
hörigen einiger andern gering geachteten Erwerbsklassen der Henker. Die Ver¬
achtung gewisser Berufsstände war zwar hie und da in wirklicher oder ver¬
muteter Unsittlichkeit begründet, wie bei den Bädern, im allgemeinen aber ein
Ausfluß des Standeshochmuth; auch der Handwerker, der von den höhern
Klassen oft mißachtet wurde, wollte noch einige Staude unter sich haben, auf
die er mit Verachtung hinabblicken konnte. In neuerer Zeit endlich ist die
Gliederung der Gesellschaft in Berufsstände der Scheidung in die zwei Klassen
der „gebildeten" Besitzenden und der „ungebildeten" Proletarier gewichen und
überall nach dem Vorgange Englands die Lehre von der höhern sittlichen
Qualität der gebildeten Klassen eingeführt worden, wonach die ürmern Klassen
ihrer geringern Moralität wegen von Natur zum Verbrechen hinneigen, sodaß
die „Kriminalität" gewissermaßen als ein natürliches Anhängsel des vierten
Standes erscheint, und unser Strafsystem sorgt dafür, einerseits, daß es in
den Gefängnissen niemals an Exemplaren dieser niedersten Menschengattung
fehle, die dem moralischen Glänze der höhern zur Folie dienen können, und
andrerseits, daß die Unglücklichen, die einmal in den Sumpf hineingeraten sind,
nicht wieder herauskönnen.

So sehr aber auch dieser Zustand dem Selbstgefühl der höhern Klassen
schmeicheln mag, den Staatsverwaltungen erwachsen daraus große Schwierig¬
keiten, und diese haben eben zu eiuer Reformbewegung geführt. Was man
immer den Strafverfassungen früherer Zeiten vorwerfen mag, das eine muß
man ihnen lassen, daß keine einzige darunter ist, die so kostspielig und so un¬
praktisch wäre wie unsre heutige. Deu Refvrmvorschlügen des Engländers
kann man im allgemeinen beistimmen; wir fassen sie in unsrer eignen Weise
und von unserm eignen Standpunkte aus kurz zusammen.

Der Gedanke, dem Verbrecher das Strafübel anzuthun, das er verdient,
ist unausführbar, weil kein Mensch die Schuld des andern zu beurteilen ver¬
mag. Das Wort Strafe ist daher keine passende Bezeichnung für die Be¬
handlung eines Verbrechers; am ehesten paßt sie noch auf die Bußen für den
Ungehorsam gegen Polizeivorschriften und gegen solche Staatsgesetze, die nur
zur Aufrechterhaltung der Staatsordnung erlassen werden, weil die Beobach¬
tung solcher Vorschriften erzwungen werden kann, und dergleichen Zwangs¬
mittel auch Strafen genannt zu werden pflegen, obwohl sie mit der Gerechtig¬
keit nichts zu schaffen haben. Doch dürfen solche Übertretungen niemals mit


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[0267] ließen, auf das man Beschlag legen konnte? Drum machte man kurzen Prozeß mit ihnen, gab jedermann das Recht, sich nach Belieben an ihnen zu rächen und sie ungestraft zu beleidigen. Ob avsr ^jouiM flocht glühn Isiolitsu man, heißt es in einem Rechtsbuche, Isiolrt (etwa) viueu lotsr (Lotterbuben) oäsi- xosönsxilnMn, äsr Mb äsen rioliwr ditruinb niobtss niobt, nun <!sin ZöslgAön imod uiobt, äönn ckrei slÄA, alö ör iro. (ihm) vrölsiczlr (fröhlich) on^öd. Übrigens galt bekanntlich nicht der Verbrecher für unehrlich, sondern nebst den Ange¬ hörigen einiger andern gering geachteten Erwerbsklassen der Henker. Die Ver¬ achtung gewisser Berufsstände war zwar hie und da in wirklicher oder ver¬ muteter Unsittlichkeit begründet, wie bei den Bädern, im allgemeinen aber ein Ausfluß des Standeshochmuth; auch der Handwerker, der von den höhern Klassen oft mißachtet wurde, wollte noch einige Staude unter sich haben, auf die er mit Verachtung hinabblicken konnte. In neuerer Zeit endlich ist die Gliederung der Gesellschaft in Berufsstände der Scheidung in die zwei Klassen der „gebildeten" Besitzenden und der „ungebildeten" Proletarier gewichen und überall nach dem Vorgange Englands die Lehre von der höhern sittlichen Qualität der gebildeten Klassen eingeführt worden, wonach die ürmern Klassen ihrer geringern Moralität wegen von Natur zum Verbrechen hinneigen, sodaß die „Kriminalität" gewissermaßen als ein natürliches Anhängsel des vierten Standes erscheint, und unser Strafsystem sorgt dafür, einerseits, daß es in den Gefängnissen niemals an Exemplaren dieser niedersten Menschengattung fehle, die dem moralischen Glänze der höhern zur Folie dienen können, und andrerseits, daß die Unglücklichen, die einmal in den Sumpf hineingeraten sind, nicht wieder herauskönnen. So sehr aber auch dieser Zustand dem Selbstgefühl der höhern Klassen schmeicheln mag, den Staatsverwaltungen erwachsen daraus große Schwierig¬ keiten, und diese haben eben zu eiuer Reformbewegung geführt. Was man immer den Strafverfassungen früherer Zeiten vorwerfen mag, das eine muß man ihnen lassen, daß keine einzige darunter ist, die so kostspielig und so un¬ praktisch wäre wie unsre heutige. Deu Refvrmvorschlügen des Engländers kann man im allgemeinen beistimmen; wir fassen sie in unsrer eignen Weise und von unserm eignen Standpunkte aus kurz zusammen. Der Gedanke, dem Verbrecher das Strafübel anzuthun, das er verdient, ist unausführbar, weil kein Mensch die Schuld des andern zu beurteilen ver¬ mag. Das Wort Strafe ist daher keine passende Bezeichnung für die Be¬ handlung eines Verbrechers; am ehesten paßt sie noch auf die Bußen für den Ungehorsam gegen Polizeivorschriften und gegen solche Staatsgesetze, die nur zur Aufrechterhaltung der Staatsordnung erlassen werden, weil die Beobach¬ tung solcher Vorschriften erzwungen werden kann, und dergleichen Zwangs¬ mittel auch Strafen genannt zu werden pflegen, obwohl sie mit der Gerechtig¬ keit nichts zu schaffen haben. Doch dürfen solche Übertretungen niemals mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/267>, abgerufen am 25.08.2024.