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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Natur und Behandlung des Verbrechers

angehörte; nicht als Gegenstand des Abscheus, sondern als Gegenstand des
Bedauerns wurde er behandelt, und die Strafen, die er erduldete, teils zu seiner
eignen Besserung, teils zum Zeugnis vor den Heiden, schieden ihn nicht von
den übrigen Gliedern der Kirche, sondern verbanden ihn mit diesen. Im frän¬
kischen Reiche verschmolz die christliche Bußpraxis mit dem germanischen Wer-
geldsystem zu einem gemischten geistlich-weltlichen Strafwesen, das dem geistlich¬
weltlichen Charakter dieses Staates entsprach. Später griff zwar mehr und
mehr die Gewohnheit grausamer Strafen um sich, aber nicht als Ergebnis
kriminalistischer Studien, sondern weil die wilden erbitterten Kämpfe, in denen
man lebte, wild und grausam machten; erst die Inquisition und die römischen
Juristen brachten auch in diesen Wahnsinn Methode. Eine gesellschaftliche Kluft
zwischen den anständigen Leuten und den Verbrechern entstand aber im Mittel¬
alter noch nicht, und ebenso wenig bürgerte sich das Gefängnis als gewöhnliches
Strafmittel ein. Die gewöhnlichen Strafen blieben Geldbußen, Hinrichtung, Ver¬
stümmelung, Schläge. Bei leichtern Vergehungen liebte man es, die Strafe durch
derbkomische Zuthaten zu einem Gaudium für die großen und kleinen Gassen¬
jungen zu machen, in dem feinen Florenz so gut wie in dem ehrbaren Lübeck-
Das Gefängnis wurde gewöhnlich nur zur Untersuchungs- und Sicherungshaft
benutzt, von Tyrannen und Raubrittern, um Lösegeld zu erpressen oder auch
bloß, um sich an den Qualen der Opfer zu ergötzen, in Venedig aus Gründen der
Staatsklugheit. Sehr häufig wurde die Verbannung verhängt, namentlich über
politische Gegner. Solche damliti wurden, je zahlreicher sie waren, desto leichter
Banditen im modernen Sinne des Worts, aber als unehrlich galten sie auch
dann nicht. Am meisten Ähnlichkeit mit dem modernen Verbrechertum hat das
fahrende Volk jener Zeit, aber zwischen beiden besteht doch ein großer Unterschied.
Vom niedrigsten Gaukler führte eine ununterbrvchne Stufenleiter bis zum ritter-
bürtigeu Sänger hinauf, und ohne die mancherlei Vergnügungskünstler, die
sämtlich zu jener Menschenklasse gehörten, war kein Fest denkbar. Machten
sie ihre Sache gut, so wurden sie geehrt und beschenkt. Den Spielleuten,
heißes einmal im Wigalois, ZAp mal, xtvrt, sildvr raa Fizvemt. Daß sie
vogelfrei waren, entsprang wohl weniger der Verachtung, obwohl diese in einer
Zeit, wo jede Würde an Grundbesitz geknüpft war, nicht ausbleiben konnte,
als der Unmöglichkeit, sie in die ordentliche Gerichtsverfassung einzufügen.
Denn diese beruhte darauf, daß jeder nach seinem Wohnorte seinen festen Ge¬
richtsstand hatte, und daß er nur von seinesgleichen gerichtet werden konnte.
Ansätze zur Schaffung von Gerichtsständen fahrender Leute gab es ja, so das
Gericht auf dem Kohlenberge bei Basel für die Geächteten, die dort ein Asyl
hatten und sich ihr Brot als Lastträger und Kloakenfeger verdienten. Und
wie sollte man bei einem Strafsystem, wo Geldbußen eine so große Rolle
spielten, und in einer Zeit, wo das Entweichen so leicht und so häufig war,
Leute fassen, die nichts besaßen, und wenn sie entwischten, kein Pfand hinter-


Natur und Behandlung des Verbrechers

angehörte; nicht als Gegenstand des Abscheus, sondern als Gegenstand des
Bedauerns wurde er behandelt, und die Strafen, die er erduldete, teils zu seiner
eignen Besserung, teils zum Zeugnis vor den Heiden, schieden ihn nicht von
den übrigen Gliedern der Kirche, sondern verbanden ihn mit diesen. Im frän¬
kischen Reiche verschmolz die christliche Bußpraxis mit dem germanischen Wer-
geldsystem zu einem gemischten geistlich-weltlichen Strafwesen, das dem geistlich¬
weltlichen Charakter dieses Staates entsprach. Später griff zwar mehr und
mehr die Gewohnheit grausamer Strafen um sich, aber nicht als Ergebnis
kriminalistischer Studien, sondern weil die wilden erbitterten Kämpfe, in denen
man lebte, wild und grausam machten; erst die Inquisition und die römischen
Juristen brachten auch in diesen Wahnsinn Methode. Eine gesellschaftliche Kluft
zwischen den anständigen Leuten und den Verbrechern entstand aber im Mittel¬
alter noch nicht, und ebenso wenig bürgerte sich das Gefängnis als gewöhnliches
Strafmittel ein. Die gewöhnlichen Strafen blieben Geldbußen, Hinrichtung, Ver¬
stümmelung, Schläge. Bei leichtern Vergehungen liebte man es, die Strafe durch
derbkomische Zuthaten zu einem Gaudium für die großen und kleinen Gassen¬
jungen zu machen, in dem feinen Florenz so gut wie in dem ehrbaren Lübeck-
Das Gefängnis wurde gewöhnlich nur zur Untersuchungs- und Sicherungshaft
benutzt, von Tyrannen und Raubrittern, um Lösegeld zu erpressen oder auch
bloß, um sich an den Qualen der Opfer zu ergötzen, in Venedig aus Gründen der
Staatsklugheit. Sehr häufig wurde die Verbannung verhängt, namentlich über
politische Gegner. Solche damliti wurden, je zahlreicher sie waren, desto leichter
Banditen im modernen Sinne des Worts, aber als unehrlich galten sie auch
dann nicht. Am meisten Ähnlichkeit mit dem modernen Verbrechertum hat das
fahrende Volk jener Zeit, aber zwischen beiden besteht doch ein großer Unterschied.
Vom niedrigsten Gaukler führte eine ununterbrvchne Stufenleiter bis zum ritter-
bürtigeu Sänger hinauf, und ohne die mancherlei Vergnügungskünstler, die
sämtlich zu jener Menschenklasse gehörten, war kein Fest denkbar. Machten
sie ihre Sache gut, so wurden sie geehrt und beschenkt. Den Spielleuten,
heißes einmal im Wigalois, ZAp mal, xtvrt, sildvr raa Fizvemt. Daß sie
vogelfrei waren, entsprang wohl weniger der Verachtung, obwohl diese in einer
Zeit, wo jede Würde an Grundbesitz geknüpft war, nicht ausbleiben konnte,
als der Unmöglichkeit, sie in die ordentliche Gerichtsverfassung einzufügen.
Denn diese beruhte darauf, daß jeder nach seinem Wohnorte seinen festen Ge¬
richtsstand hatte, und daß er nur von seinesgleichen gerichtet werden konnte.
Ansätze zur Schaffung von Gerichtsständen fahrender Leute gab es ja, so das
Gericht auf dem Kohlenberge bei Basel für die Geächteten, die dort ein Asyl
hatten und sich ihr Brot als Lastträger und Kloakenfeger verdienten. Und
wie sollte man bei einem Strafsystem, wo Geldbußen eine so große Rolle
spielten, und in einer Zeit, wo das Entweichen so leicht und so häufig war,
Leute fassen, die nichts besaßen, und wenn sie entwischten, kein Pfand hinter-


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[0266] Natur und Behandlung des Verbrechers angehörte; nicht als Gegenstand des Abscheus, sondern als Gegenstand des Bedauerns wurde er behandelt, und die Strafen, die er erduldete, teils zu seiner eignen Besserung, teils zum Zeugnis vor den Heiden, schieden ihn nicht von den übrigen Gliedern der Kirche, sondern verbanden ihn mit diesen. Im frän¬ kischen Reiche verschmolz die christliche Bußpraxis mit dem germanischen Wer- geldsystem zu einem gemischten geistlich-weltlichen Strafwesen, das dem geistlich¬ weltlichen Charakter dieses Staates entsprach. Später griff zwar mehr und mehr die Gewohnheit grausamer Strafen um sich, aber nicht als Ergebnis kriminalistischer Studien, sondern weil die wilden erbitterten Kämpfe, in denen man lebte, wild und grausam machten; erst die Inquisition und die römischen Juristen brachten auch in diesen Wahnsinn Methode. Eine gesellschaftliche Kluft zwischen den anständigen Leuten und den Verbrechern entstand aber im Mittel¬ alter noch nicht, und ebenso wenig bürgerte sich das Gefängnis als gewöhnliches Strafmittel ein. Die gewöhnlichen Strafen blieben Geldbußen, Hinrichtung, Ver¬ stümmelung, Schläge. Bei leichtern Vergehungen liebte man es, die Strafe durch derbkomische Zuthaten zu einem Gaudium für die großen und kleinen Gassen¬ jungen zu machen, in dem feinen Florenz so gut wie in dem ehrbaren Lübeck- Das Gefängnis wurde gewöhnlich nur zur Untersuchungs- und Sicherungshaft benutzt, von Tyrannen und Raubrittern, um Lösegeld zu erpressen oder auch bloß, um sich an den Qualen der Opfer zu ergötzen, in Venedig aus Gründen der Staatsklugheit. Sehr häufig wurde die Verbannung verhängt, namentlich über politische Gegner. Solche damliti wurden, je zahlreicher sie waren, desto leichter Banditen im modernen Sinne des Worts, aber als unehrlich galten sie auch dann nicht. Am meisten Ähnlichkeit mit dem modernen Verbrechertum hat das fahrende Volk jener Zeit, aber zwischen beiden besteht doch ein großer Unterschied. Vom niedrigsten Gaukler führte eine ununterbrvchne Stufenleiter bis zum ritter- bürtigeu Sänger hinauf, und ohne die mancherlei Vergnügungskünstler, die sämtlich zu jener Menschenklasse gehörten, war kein Fest denkbar. Machten sie ihre Sache gut, so wurden sie geehrt und beschenkt. Den Spielleuten, heißes einmal im Wigalois, ZAp mal, xtvrt, sildvr raa Fizvemt. Daß sie vogelfrei waren, entsprang wohl weniger der Verachtung, obwohl diese in einer Zeit, wo jede Würde an Grundbesitz geknüpft war, nicht ausbleiben konnte, als der Unmöglichkeit, sie in die ordentliche Gerichtsverfassung einzufügen. Denn diese beruhte darauf, daß jeder nach seinem Wohnorte seinen festen Ge¬ richtsstand hatte, und daß er nur von seinesgleichen gerichtet werden konnte. Ansätze zur Schaffung von Gerichtsständen fahrender Leute gab es ja, so das Gericht auf dem Kohlenberge bei Basel für die Geächteten, die dort ein Asyl hatten und sich ihr Brot als Lastträger und Kloakenfeger verdienten. Und wie sollte man bei einem Strafsystem, wo Geldbußen eine so große Rolle spielten, und in einer Zeit, wo das Entweichen so leicht und so häufig war, Leute fassen, die nichts besaßen, und wenn sie entwischten, kein Pfand hinter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/266>, abgerufen am 25.08.2024.