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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Das Christentum und die soziale Frage

in seiner heutigen Form beseitigen; viel weniger darf man das dem zahmen
Kollektivismus unsrer Sozialdemokratie vorwerfen. !

Die Forderung einer Neugestaltung des Eigentums wird deshalb jetzt
von vielen so eifrig verfochtein weil sie meinen, daß das Privateigentum unsrer
Gesellschaftsordnung vielen eine persönliche, selbständige Entwicklung unmöglich
mache. Gerade was das Christentum fordert, ist der Kernpunkt der Eigen¬
tumsfrage in unsern Tagen. Wie kann das Eigentum so gestaltet werden,
daß es mehr Gliedern unsers Volkes Anteil an höherm geistigen Leben er¬
möglicht? Diese Frage gewinnt der sozialdemokratischen Lösung des Problems
Anhänger, die über jeden persönlichen Vorteil erhaben sind; diese Frage giebt
dem Kampfe der Arbeiter einen geistigen Gehalt, der für die Bewegung mehr
wirbt als die Gier materiellen Gewinns, die ja auch- mitspielt. Das Christen¬
tum jedoch hat keine eigne, besondre Lösung der Frage. Ob eine gleichmüßigere
Verteilung des Eigentums unter Bewahrung seiner heutigen Form genügt,
hängt von wissenschaftlichen Untersuchungen ab, die vielleicht jetzt gar nicht
zu einem sichern Ergebnis führen können. Das Christentum kann unmöglich
eine solche Lösung, die von andern wieder bestritten wird, als besonders christlich
bezeichnen, denn es sind ja nur volkswirtschaftliche Gründe, die gegen einander
kämpfen. Das Christentum läßt diesem Gebiete seine Selbständigkeit.

So war es auch unrichtig, wenn der Zentralausschuß für innere Mission
1885 und mit ihm Naumann 1890 vom christlichen Standpunkte forderten:
"Man schaffe eine Minimalgrenze des Besitzes, die nach wirtschaftlichen und
sittlichen Gesichtspunkten genügend hoch erscheint." Der große Fehler ist, daß
hier eine wirtschaftliche Forderung (Minimalgrenze des Besitzes) als christliche
Forderung auftritt. Die christliche Forderung ist nur: das Eigentum muß so
gestaltet werden, daß es dem höhern Leben so viel als möglich dient. Das
Wie muß einer fachmännischer Untersuchung vorbehalten bleiben. Die Ge¬
fahren einer andern Behandlung zeigt jene "Minimalgrenze des Besitzes,"
denn ihre praktische Undurchführbarkeit braucht nicht bewiesen zu werden. Sie
würde wahrscheinlich das Gegenteil von dem wirken, wozu sie erdacht ist.
Naumann selbst wird kaum noch diesen Plan vertreten. Freilich, jener Satz
kann auch so aufgefaßt werden, daß er vollkommen unschädlich, aber in dieser
Form auch wertlos ist. Was heißt denn "nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten
genügend hoch"? Jede volkswirtschaftliche Richtung wird vielleicht eine andre
Antwort geben. Und "nach sittlichen Gesichtspunkten genügend hoch"? Wenn
mir meine wirtschaftlichen Kenntnisse sagen, eine höhere Grenze des Besitzes,
als augenblicklich besteht, ist für große Volkskreise nicht erreichbar, auch nie
von ihnen erreicht worden, so muß ich mich auch uach sittlichen Gesichtspunkten
damit begnügen, muß als Christ durch Liebesübung dem größten Elend ab¬
zuhelfen und das religiöse Leben auch unter diesen schwierigen Verhältnissen
lebendig zu halten suchen. Ich denke nicht so pessimistisch, aber daß ich anders


Das Christentum und die soziale Frage

in seiner heutigen Form beseitigen; viel weniger darf man das dem zahmen
Kollektivismus unsrer Sozialdemokratie vorwerfen. !

Die Forderung einer Neugestaltung des Eigentums wird deshalb jetzt
von vielen so eifrig verfochtein weil sie meinen, daß das Privateigentum unsrer
Gesellschaftsordnung vielen eine persönliche, selbständige Entwicklung unmöglich
mache. Gerade was das Christentum fordert, ist der Kernpunkt der Eigen¬
tumsfrage in unsern Tagen. Wie kann das Eigentum so gestaltet werden,
daß es mehr Gliedern unsers Volkes Anteil an höherm geistigen Leben er¬
möglicht? Diese Frage gewinnt der sozialdemokratischen Lösung des Problems
Anhänger, die über jeden persönlichen Vorteil erhaben sind; diese Frage giebt
dem Kampfe der Arbeiter einen geistigen Gehalt, der für die Bewegung mehr
wirbt als die Gier materiellen Gewinns, die ja auch- mitspielt. Das Christen¬
tum jedoch hat keine eigne, besondre Lösung der Frage. Ob eine gleichmüßigere
Verteilung des Eigentums unter Bewahrung seiner heutigen Form genügt,
hängt von wissenschaftlichen Untersuchungen ab, die vielleicht jetzt gar nicht
zu einem sichern Ergebnis führen können. Das Christentum kann unmöglich
eine solche Lösung, die von andern wieder bestritten wird, als besonders christlich
bezeichnen, denn es sind ja nur volkswirtschaftliche Gründe, die gegen einander
kämpfen. Das Christentum läßt diesem Gebiete seine Selbständigkeit.

So war es auch unrichtig, wenn der Zentralausschuß für innere Mission
1885 und mit ihm Naumann 1890 vom christlichen Standpunkte forderten:
„Man schaffe eine Minimalgrenze des Besitzes, die nach wirtschaftlichen und
sittlichen Gesichtspunkten genügend hoch erscheint." Der große Fehler ist, daß
hier eine wirtschaftliche Forderung (Minimalgrenze des Besitzes) als christliche
Forderung auftritt. Die christliche Forderung ist nur: das Eigentum muß so
gestaltet werden, daß es dem höhern Leben so viel als möglich dient. Das
Wie muß einer fachmännischer Untersuchung vorbehalten bleiben. Die Ge¬
fahren einer andern Behandlung zeigt jene „Minimalgrenze des Besitzes,"
denn ihre praktische Undurchführbarkeit braucht nicht bewiesen zu werden. Sie
würde wahrscheinlich das Gegenteil von dem wirken, wozu sie erdacht ist.
Naumann selbst wird kaum noch diesen Plan vertreten. Freilich, jener Satz
kann auch so aufgefaßt werden, daß er vollkommen unschädlich, aber in dieser
Form auch wertlos ist. Was heißt denn „nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten
genügend hoch"? Jede volkswirtschaftliche Richtung wird vielleicht eine andre
Antwort geben. Und „nach sittlichen Gesichtspunkten genügend hoch"? Wenn
mir meine wirtschaftlichen Kenntnisse sagen, eine höhere Grenze des Besitzes,
als augenblicklich besteht, ist für große Volkskreise nicht erreichbar, auch nie
von ihnen erreicht worden, so muß ich mich auch uach sittlichen Gesichtspunkten
damit begnügen, muß als Christ durch Liebesübung dem größten Elend ab¬
zuhelfen und das religiöse Leben auch unter diesen schwierigen Verhältnissen
lebendig zu halten suchen. Ich denke nicht so pessimistisch, aber daß ich anders


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/256>, abgerufen am 25.08.2024.