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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Das Christentum und die soziale Frage

Außer dem Wege, den eine Partei einschlägt, kommt für die Stellung
des Christentums zu ihr die Frage in Betracht, ob das Ziel der Partei nicht
gegen die Forderung der Religion streitet, daß alles Irdische ein Mittel zum
höchsten Zweck sein soll. Diese Forderung schafft der christlichen Religion
einen Hauptgegner, den Materialismus, der die äußern Güter zum höchsten
Gute macht. Ihn wird sie bekämpfen, auch wo er sich in das Gewand politischer
oder sozialer Wissenschaft kleidet. Überall muß das Christentum die sittliche
und religiöse Forderung stellen: die politischen, sozialen und wirtschaftlichen
Zustände müssen so gestaltet werden, daß sie die Entwicklung des höchsten,
des religiösen Lebens im Menschen nicht hemmen. Freilich sind keine äußern
Verhältnisse imstande, wirkliches religiöses Leben zu ersticken; es kann in der
schwersten Not und unter dem härteste" Druck gedeihen -- die Verfolgungen
aller Zeiten sind ein herrlicher Beweis dafür. Dennoch wird eine freie Ent¬
wicklung dieses Lebens wie jedes geistigen Lebens von den äußern Verhält¬
nissen beeinflußt. Es kann durch sie gehemmt und gefördert werden. Darum
wird das Christentum in dieser Richtung an den bestehenden Einrichtungen
Kritik üben.

Die Eigentums- und Erwcrbsverhältnissc haben sich heute vielfach so ge¬
staltet, daß der Druck leiblicher Not, die Unsicherheit der Beschäftigung n. a.
alles höhere Leben in manchen Menschen unterdrückt. Dort legt das Christentum
den Finger auf die Wunde und fordert Heilung. Wie aber geholfen werden
soll, und wieweit das überhaupt möglich ist, darüber müssen Nationalökonomie,
Politik, technische Erfahrung und vieles andre entscheiden, darüber kann das
Christentum nichts sagen. Die einen fordern Rückkehr zur frühern Gebunden¬
heit, die durch die vielen Freiheiten der Neuzeit zerstört worden ist; andre
fordern Weiterbildung der bestehenden Ordnungen, die in ihrem Kern gut und
am besten geeignet sind, den sittlichen Ansprüchen zu genügen; noch andre
Entwicklung zum Kollektivismus; wieder andre Bodenreform, amorphen Kom¬
munismus, und so fort. Vom christlichen Standpunkt aus kann man den
Wert dieser Meinungen, die wie in einen, Hexenkessel durcheinanderbrodeln,
nicht ohne weiteres bestimmen, dazu sind geschichtliche, nationalökonomische und
andre Untersuchungen nötig. Je nach dem Ergebnis, zu dem ein Christ durch
sie gelangt, wird er seine Stellung nehmen.

Manche glauben als Christen gegen den Kollektivismus auftreten zu
müssen. So führte Professor Kaftan auf dem vierten Evangelisch-sozialen
Kongreß aus, irgend welches Eigentum sei in der Regel die Voraussetzung der
persönlichen Freiheit und selbständigen, ohne die es ein evangelisches Christen¬
tum nicht gebe, abgesehen von einzelnen Ausnahmen. Darum müßten Christen
für das Privateigentum als einen wesentlichen Grundgedanken der bestehenden
Gesellschaftsordnung eintrete". Nun würde aber selbst die Anarchie eines
Proudhon oder Bakunin nicht Eigentum schlechthin, sondern nur alles Eigentum


Das Christentum und die soziale Frage

Außer dem Wege, den eine Partei einschlägt, kommt für die Stellung
des Christentums zu ihr die Frage in Betracht, ob das Ziel der Partei nicht
gegen die Forderung der Religion streitet, daß alles Irdische ein Mittel zum
höchsten Zweck sein soll. Diese Forderung schafft der christlichen Religion
einen Hauptgegner, den Materialismus, der die äußern Güter zum höchsten
Gute macht. Ihn wird sie bekämpfen, auch wo er sich in das Gewand politischer
oder sozialer Wissenschaft kleidet. Überall muß das Christentum die sittliche
und religiöse Forderung stellen: die politischen, sozialen und wirtschaftlichen
Zustände müssen so gestaltet werden, daß sie die Entwicklung des höchsten,
des religiösen Lebens im Menschen nicht hemmen. Freilich sind keine äußern
Verhältnisse imstande, wirkliches religiöses Leben zu ersticken; es kann in der
schwersten Not und unter dem härteste» Druck gedeihen — die Verfolgungen
aller Zeiten sind ein herrlicher Beweis dafür. Dennoch wird eine freie Ent¬
wicklung dieses Lebens wie jedes geistigen Lebens von den äußern Verhält¬
nissen beeinflußt. Es kann durch sie gehemmt und gefördert werden. Darum
wird das Christentum in dieser Richtung an den bestehenden Einrichtungen
Kritik üben.

Die Eigentums- und Erwcrbsverhältnissc haben sich heute vielfach so ge¬
staltet, daß der Druck leiblicher Not, die Unsicherheit der Beschäftigung n. a.
alles höhere Leben in manchen Menschen unterdrückt. Dort legt das Christentum
den Finger auf die Wunde und fordert Heilung. Wie aber geholfen werden
soll, und wieweit das überhaupt möglich ist, darüber müssen Nationalökonomie,
Politik, technische Erfahrung und vieles andre entscheiden, darüber kann das
Christentum nichts sagen. Die einen fordern Rückkehr zur frühern Gebunden¬
heit, die durch die vielen Freiheiten der Neuzeit zerstört worden ist; andre
fordern Weiterbildung der bestehenden Ordnungen, die in ihrem Kern gut und
am besten geeignet sind, den sittlichen Ansprüchen zu genügen; noch andre
Entwicklung zum Kollektivismus; wieder andre Bodenreform, amorphen Kom¬
munismus, und so fort. Vom christlichen Standpunkt aus kann man den
Wert dieser Meinungen, die wie in einen, Hexenkessel durcheinanderbrodeln,
nicht ohne weiteres bestimmen, dazu sind geschichtliche, nationalökonomische und
andre Untersuchungen nötig. Je nach dem Ergebnis, zu dem ein Christ durch
sie gelangt, wird er seine Stellung nehmen.

Manche glauben als Christen gegen den Kollektivismus auftreten zu
müssen. So führte Professor Kaftan auf dem vierten Evangelisch-sozialen
Kongreß aus, irgend welches Eigentum sei in der Regel die Voraussetzung der
persönlichen Freiheit und selbständigen, ohne die es ein evangelisches Christen¬
tum nicht gebe, abgesehen von einzelnen Ausnahmen. Darum müßten Christen
für das Privateigentum als einen wesentlichen Grundgedanken der bestehenden
Gesellschaftsordnung eintrete«. Nun würde aber selbst die Anarchie eines
Proudhon oder Bakunin nicht Eigentum schlechthin, sondern nur alles Eigentum


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[0255] Das Christentum und die soziale Frage Außer dem Wege, den eine Partei einschlägt, kommt für die Stellung des Christentums zu ihr die Frage in Betracht, ob das Ziel der Partei nicht gegen die Forderung der Religion streitet, daß alles Irdische ein Mittel zum höchsten Zweck sein soll. Diese Forderung schafft der christlichen Religion einen Hauptgegner, den Materialismus, der die äußern Güter zum höchsten Gute macht. Ihn wird sie bekämpfen, auch wo er sich in das Gewand politischer oder sozialer Wissenschaft kleidet. Überall muß das Christentum die sittliche und religiöse Forderung stellen: die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zustände müssen so gestaltet werden, daß sie die Entwicklung des höchsten, des religiösen Lebens im Menschen nicht hemmen. Freilich sind keine äußern Verhältnisse imstande, wirkliches religiöses Leben zu ersticken; es kann in der schwersten Not und unter dem härteste» Druck gedeihen — die Verfolgungen aller Zeiten sind ein herrlicher Beweis dafür. Dennoch wird eine freie Ent¬ wicklung dieses Lebens wie jedes geistigen Lebens von den äußern Verhält¬ nissen beeinflußt. Es kann durch sie gehemmt und gefördert werden. Darum wird das Christentum in dieser Richtung an den bestehenden Einrichtungen Kritik üben. Die Eigentums- und Erwcrbsverhältnissc haben sich heute vielfach so ge¬ staltet, daß der Druck leiblicher Not, die Unsicherheit der Beschäftigung n. a. alles höhere Leben in manchen Menschen unterdrückt. Dort legt das Christentum den Finger auf die Wunde und fordert Heilung. Wie aber geholfen werden soll, und wieweit das überhaupt möglich ist, darüber müssen Nationalökonomie, Politik, technische Erfahrung und vieles andre entscheiden, darüber kann das Christentum nichts sagen. Die einen fordern Rückkehr zur frühern Gebunden¬ heit, die durch die vielen Freiheiten der Neuzeit zerstört worden ist; andre fordern Weiterbildung der bestehenden Ordnungen, die in ihrem Kern gut und am besten geeignet sind, den sittlichen Ansprüchen zu genügen; noch andre Entwicklung zum Kollektivismus; wieder andre Bodenreform, amorphen Kom¬ munismus, und so fort. Vom christlichen Standpunkt aus kann man den Wert dieser Meinungen, die wie in einen, Hexenkessel durcheinanderbrodeln, nicht ohne weiteres bestimmen, dazu sind geschichtliche, nationalökonomische und andre Untersuchungen nötig. Je nach dem Ergebnis, zu dem ein Christ durch sie gelangt, wird er seine Stellung nehmen. Manche glauben als Christen gegen den Kollektivismus auftreten zu müssen. So führte Professor Kaftan auf dem vierten Evangelisch-sozialen Kongreß aus, irgend welches Eigentum sei in der Regel die Voraussetzung der persönlichen Freiheit und selbständigen, ohne die es ein evangelisches Christen¬ tum nicht gebe, abgesehen von einzelnen Ausnahmen. Darum müßten Christen für das Privateigentum als einen wesentlichen Grundgedanken der bestehenden Gesellschaftsordnung eintrete«. Nun würde aber selbst die Anarchie eines Proudhon oder Bakunin nicht Eigentum schlechthin, sondern nur alles Eigentum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/255>, abgerufen am 23.07.2024.