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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Der Streit der Fakultäten

höchstens vorübergehend geduldet- Solche Luft ist tötlich, den Atem benehmend,
die schönsten Gedanken erstickend für den, der nicht verwandt, kein Neffe oder
keine Nichte ist, oder der kein Pastor sein will nach der Weise der Damen von
Marienzelle.

Dem Pastor Klages konnten hier alle seine guten Zeugnisse nichts helfen,
nichts seine guten Manieren und seine Einleitungssütze, nichts Bibelkritik und
Gesellschaftswissenschaft, wenn er nicht den Ton traf, der ganzen Geschlechtern
von Predigern hier angegeben war, und in den sie hatten einstimmen müssen,
wenn sie an schönen Mittagstafeln ansitzen und das trauliche Lied der sil¬
bernen Theekessel mitsummen hören wollten. Er konnte als kenntnisreicher,
wohlerzogner, vielversprechender junger Mann gelten, wenn er den Ton traf
oder treffen wollte; und wenn er es nicht wollte oder nicht konnte, mußte er
als vorlauter, gezierter, anmaßender junger Mensch des entarteten neunzehnten
Jahrhunderts vorlieb nehmen.

Ohne Ahnung von dieser Alternative kam der junge Manu oder Mensch
-- wer konnte es wissen -- an die Pforte, und ahnungslos ließ er sich von
dem stiftgerecht erzognen Madchen melden. Der Stiftsdiencr, der allen Damen
gemeinsam angehörte und in alle" Häusern Bescheid wußte, hantirte schon
geschäftig in den untern Räumen, jeden Augenblick bereit, die Handschuhe
anzuziehen und mit dem Auftragen der Speisen zu beginnen. Der junge
Geistliche wurde von ihm in die Zimmer geleitet.

Nicht ohne Verlegenheit ging er auf Fräulein von Mechtshausen zu,
wurde dann den anwesenden Damen vorgestellt und begrüßte, ehe die Frau
Äbtissin Gelegenheit gehabt hatte, den verfehlten Besuch zu bedauern, das ihm
bekannte geistliche Ehepaar. Das Hütte er nicht thun dürfen, denn er bemerkte
nun an dem Stiftsgeistlichen, der sonst so wohlwollend und amtsbrüderlich
gesinnt schien, eine befremdliche Kühle. Mit dem Eintreten des jünger"
Fräuleins von Mechtshausen wurde er zu seiner Erleichterung aus dem Mittel¬
punkt gerückt, so sehr, daß er nur flüchtig vorgestellt wurde. Das kränkte
ihn ein wenig, und er fühlte sich erst sicher, als er glücklich im Eßzimmer vor
seinem Stuhle stand und, nachdem der Geistliche ein Gebet gesprochen hatte,
während des allgemeinen Stühlerückens in seiner Nachbarin das schöne junge
Mädchen in Trauer erkannte. Freilich eine Unterhaltung mit ihr anzuknüpfen
schien in dein kleinen Kreise schwer, da eine gewisse steife Würde herrschte,
wenigstens beim Beginn der Mahlzeit, und modisches Konversationsmachen nicht
am Platze war, um so weniger, als ihm seine Nachbarin offenbar nicht deshalb
gegeben war, damit sich die jungen Leutchen in ihrer Art gefallen sollten,
sondern weil er und sie die jüngsten waren. Zudem war das junge Fräulein
von einer Art, die ihn etwas fernhielt; sie schien zwar anmutig und freundlich,
aber doch aus einem andern Stoff gemacht als die jungen Mädchen, an die
er bisher fein Herz für kurze Zeit ausgeliehen hatte. In der Absicht der


Der Streit der Fakultäten

höchstens vorübergehend geduldet- Solche Luft ist tötlich, den Atem benehmend,
die schönsten Gedanken erstickend für den, der nicht verwandt, kein Neffe oder
keine Nichte ist, oder der kein Pastor sein will nach der Weise der Damen von
Marienzelle.

Dem Pastor Klages konnten hier alle seine guten Zeugnisse nichts helfen,
nichts seine guten Manieren und seine Einleitungssütze, nichts Bibelkritik und
Gesellschaftswissenschaft, wenn er nicht den Ton traf, der ganzen Geschlechtern
von Predigern hier angegeben war, und in den sie hatten einstimmen müssen,
wenn sie an schönen Mittagstafeln ansitzen und das trauliche Lied der sil¬
bernen Theekessel mitsummen hören wollten. Er konnte als kenntnisreicher,
wohlerzogner, vielversprechender junger Mann gelten, wenn er den Ton traf
oder treffen wollte; und wenn er es nicht wollte oder nicht konnte, mußte er
als vorlauter, gezierter, anmaßender junger Mensch des entarteten neunzehnten
Jahrhunderts vorlieb nehmen.

Ohne Ahnung von dieser Alternative kam der junge Manu oder Mensch
— wer konnte es wissen — an die Pforte, und ahnungslos ließ er sich von
dem stiftgerecht erzognen Madchen melden. Der Stiftsdiencr, der allen Damen
gemeinsam angehörte und in alle» Häusern Bescheid wußte, hantirte schon
geschäftig in den untern Räumen, jeden Augenblick bereit, die Handschuhe
anzuziehen und mit dem Auftragen der Speisen zu beginnen. Der junge
Geistliche wurde von ihm in die Zimmer geleitet.

Nicht ohne Verlegenheit ging er auf Fräulein von Mechtshausen zu,
wurde dann den anwesenden Damen vorgestellt und begrüßte, ehe die Frau
Äbtissin Gelegenheit gehabt hatte, den verfehlten Besuch zu bedauern, das ihm
bekannte geistliche Ehepaar. Das Hütte er nicht thun dürfen, denn er bemerkte
nun an dem Stiftsgeistlichen, der sonst so wohlwollend und amtsbrüderlich
gesinnt schien, eine befremdliche Kühle. Mit dem Eintreten des jünger»
Fräuleins von Mechtshausen wurde er zu seiner Erleichterung aus dem Mittel¬
punkt gerückt, so sehr, daß er nur flüchtig vorgestellt wurde. Das kränkte
ihn ein wenig, und er fühlte sich erst sicher, als er glücklich im Eßzimmer vor
seinem Stuhle stand und, nachdem der Geistliche ein Gebet gesprochen hatte,
während des allgemeinen Stühlerückens in seiner Nachbarin das schöne junge
Mädchen in Trauer erkannte. Freilich eine Unterhaltung mit ihr anzuknüpfen
schien in dein kleinen Kreise schwer, da eine gewisse steife Würde herrschte,
wenigstens beim Beginn der Mahlzeit, und modisches Konversationsmachen nicht
am Platze war, um so weniger, als ihm seine Nachbarin offenbar nicht deshalb
gegeben war, damit sich die jungen Leutchen in ihrer Art gefallen sollten,
sondern weil er und sie die jüngsten waren. Zudem war das junge Fräulein
von einer Art, die ihn etwas fernhielt; sie schien zwar anmutig und freundlich,
aber doch aus einem andern Stoff gemacht als die jungen Mädchen, an die
er bisher fein Herz für kurze Zeit ausgeliehen hatte. In der Absicht der


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[0235] Der Streit der Fakultäten höchstens vorübergehend geduldet- Solche Luft ist tötlich, den Atem benehmend, die schönsten Gedanken erstickend für den, der nicht verwandt, kein Neffe oder keine Nichte ist, oder der kein Pastor sein will nach der Weise der Damen von Marienzelle. Dem Pastor Klages konnten hier alle seine guten Zeugnisse nichts helfen, nichts seine guten Manieren und seine Einleitungssütze, nichts Bibelkritik und Gesellschaftswissenschaft, wenn er nicht den Ton traf, der ganzen Geschlechtern von Predigern hier angegeben war, und in den sie hatten einstimmen müssen, wenn sie an schönen Mittagstafeln ansitzen und das trauliche Lied der sil¬ bernen Theekessel mitsummen hören wollten. Er konnte als kenntnisreicher, wohlerzogner, vielversprechender junger Mann gelten, wenn er den Ton traf oder treffen wollte; und wenn er es nicht wollte oder nicht konnte, mußte er als vorlauter, gezierter, anmaßender junger Mensch des entarteten neunzehnten Jahrhunderts vorlieb nehmen. Ohne Ahnung von dieser Alternative kam der junge Manu oder Mensch — wer konnte es wissen — an die Pforte, und ahnungslos ließ er sich von dem stiftgerecht erzognen Madchen melden. Der Stiftsdiencr, der allen Damen gemeinsam angehörte und in alle» Häusern Bescheid wußte, hantirte schon geschäftig in den untern Räumen, jeden Augenblick bereit, die Handschuhe anzuziehen und mit dem Auftragen der Speisen zu beginnen. Der junge Geistliche wurde von ihm in die Zimmer geleitet. Nicht ohne Verlegenheit ging er auf Fräulein von Mechtshausen zu, wurde dann den anwesenden Damen vorgestellt und begrüßte, ehe die Frau Äbtissin Gelegenheit gehabt hatte, den verfehlten Besuch zu bedauern, das ihm bekannte geistliche Ehepaar. Das Hütte er nicht thun dürfen, denn er bemerkte nun an dem Stiftsgeistlichen, der sonst so wohlwollend und amtsbrüderlich gesinnt schien, eine befremdliche Kühle. Mit dem Eintreten des jünger» Fräuleins von Mechtshausen wurde er zu seiner Erleichterung aus dem Mittel¬ punkt gerückt, so sehr, daß er nur flüchtig vorgestellt wurde. Das kränkte ihn ein wenig, und er fühlte sich erst sicher, als er glücklich im Eßzimmer vor seinem Stuhle stand und, nachdem der Geistliche ein Gebet gesprochen hatte, während des allgemeinen Stühlerückens in seiner Nachbarin das schöne junge Mädchen in Trauer erkannte. Freilich eine Unterhaltung mit ihr anzuknüpfen schien in dein kleinen Kreise schwer, da eine gewisse steife Würde herrschte, wenigstens beim Beginn der Mahlzeit, und modisches Konversationsmachen nicht am Platze war, um so weniger, als ihm seine Nachbarin offenbar nicht deshalb gegeben war, damit sich die jungen Leutchen in ihrer Art gefallen sollten, sondern weil er und sie die jüngsten waren. Zudem war das junge Fräulein von einer Art, die ihn etwas fernhielt; sie schien zwar anmutig und freundlich, aber doch aus einem andern Stoff gemacht als die jungen Mädchen, an die er bisher fein Herz für kurze Zeit ausgeliehen hatte. In der Absicht der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/235>, abgerufen am 23.07.2024.