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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Der Streit der Fakultäten

statthaft schien, abtragen sehen, ohne mit dem Messer darüber herzufallen. Und
daS war sein Glück. Denn bei den Stiftsdamen von Marienzelle, die liebevoll
eine arme Wöchnerin besuchen und versorgen konnten, denen aber selbst die
große französische Revolution im Grunde als frivoler Einfall nenerungssüch-
tiger Plebejer galt, hätte er für alle Zeiten verspielt gehabt, wenn sie ein
Messer hätten in seinem Munde sehen müssen. Pastor Klages konnte auch
sonst seinen Mann stellen, selbst in den dämmerigen Räumen der Stiftskurien
von Marienzelle. Er kannte Jung-Stilling so gut wie Zschokkes Stunden der
Andacht; Tiecks Waldeinsamkeit und Jean Pauls Lianen waren ihm nicht
fremder als der Lichtfreunde Thorheiten und Friederike Bremers und der
Mnrlitt seelenlose, gespenstische Gestalten. Denn gelesen hatte er zeitlebens,
was ihm in die Hände gekommen war, aber er hatte noch keine Zeit gehabt,
zu sichten und den Dingen und Dichtern ins Gesicht zu sehen. Wie zwischen
Ritschl und dem Konsistorium, war er anch noch in der Schwebe zwischen
glaubensfroher Sehnsucht und plattverständigcr Nüchternheit. Er hatte das
Zeug dazu, einmal vornehme Bibelstunden und Gebetsgemeinschaften zu leiten,
und zugleich wieder soviel praktischen Sinn, Zeremonienmeister bei den sonn-
und festtäglichen Empfängen in einer schönen alten Stadtkirche zu werden.

Er legte sich ein paar Einleituugssütze zurecht, die aber alle Aussicht
hatten, seiner zukünftigen Lehrmeisterin auf der hohen Schule der Demut trivial
und abgestanden vorzukommen. Er machte, ehe er sich dem Hause seiner frei¬
willigen Lehrerin zuwandte, einen pflichtschuldigen Bestich bei der Frau Äbtissin,
wurde nicht angenommen und beschloß um, um die Berechnung der Zeit wieder
in Ordnung zu bringen, einen Gang durch das Birkenwäldchen, das das Stift
traulich umgab. Ins Gras mochte er sich aus Rücksicht auf sein Festgewand
nicht legen, und die alten moosbewachsenen Steinbarke lockten ihn auch uicht,
er ging ziellos, uur um Zeit zu verlieren, auf den gut gepflegten Wegen dahin.
,^ein Mensch begegnete ihm um diese heiße Mittagsstunde. Dieser Ort wußte
nichts von der Welt draußen; selbst fast zeitlos, ließ er die Ereignisse an sich
vorüberrauschen, uur der Wechsel der Jahreszeiten bekümmerte ihn und die
einigen Gesetze der Natur. Das ganze Stift war ein Ruhepunkt in der rast¬
losen Zeitlichkeit, ein Petrefakt in einer völlig neuen Gesellschaftsschichtung.
Nirgends war mau vornehmer, grundsätzlicher, ablehnender, gedächtnisstärker,
patriarchalischer und fürsorglicher als in diesen altersgrauen Mauern mit ihren
tiefen Fensternischen und rauchenden Öfen, in diesen Häusern, die nur in
Einzelheiten der innern Einrichtung ein paar Fortschritte der Technik mit¬
gemacht hatten, und in denen es sich doch so behaglich leben ließ. An Fürsten¬
höfen und auf stolzen Rittergütern werden dem modernen Leben mehr Zu¬
geständnisse gemacht als in solch einem Stift, wohin uur Vetter", Neffen und
Nichten die neuen und neuesten Formen der Welt vorsichtig und mit Schonung
als Kontrebande einzuführen wagen dürfen; angenommen werden sie nicht,


Der Streit der Fakultäten

statthaft schien, abtragen sehen, ohne mit dem Messer darüber herzufallen. Und
daS war sein Glück. Denn bei den Stiftsdamen von Marienzelle, die liebevoll
eine arme Wöchnerin besuchen und versorgen konnten, denen aber selbst die
große französische Revolution im Grunde als frivoler Einfall nenerungssüch-
tiger Plebejer galt, hätte er für alle Zeiten verspielt gehabt, wenn sie ein
Messer hätten in seinem Munde sehen müssen. Pastor Klages konnte auch
sonst seinen Mann stellen, selbst in den dämmerigen Räumen der Stiftskurien
von Marienzelle. Er kannte Jung-Stilling so gut wie Zschokkes Stunden der
Andacht; Tiecks Waldeinsamkeit und Jean Pauls Lianen waren ihm nicht
fremder als der Lichtfreunde Thorheiten und Friederike Bremers und der
Mnrlitt seelenlose, gespenstische Gestalten. Denn gelesen hatte er zeitlebens,
was ihm in die Hände gekommen war, aber er hatte noch keine Zeit gehabt,
zu sichten und den Dingen und Dichtern ins Gesicht zu sehen. Wie zwischen
Ritschl und dem Konsistorium, war er anch noch in der Schwebe zwischen
glaubensfroher Sehnsucht und plattverständigcr Nüchternheit. Er hatte das
Zeug dazu, einmal vornehme Bibelstunden und Gebetsgemeinschaften zu leiten,
und zugleich wieder soviel praktischen Sinn, Zeremonienmeister bei den sonn-
und festtäglichen Empfängen in einer schönen alten Stadtkirche zu werden.

Er legte sich ein paar Einleituugssütze zurecht, die aber alle Aussicht
hatten, seiner zukünftigen Lehrmeisterin auf der hohen Schule der Demut trivial
und abgestanden vorzukommen. Er machte, ehe er sich dem Hause seiner frei¬
willigen Lehrerin zuwandte, einen pflichtschuldigen Bestich bei der Frau Äbtissin,
wurde nicht angenommen und beschloß um, um die Berechnung der Zeit wieder
in Ordnung zu bringen, einen Gang durch das Birkenwäldchen, das das Stift
traulich umgab. Ins Gras mochte er sich aus Rücksicht auf sein Festgewand
nicht legen, und die alten moosbewachsenen Steinbarke lockten ihn auch uicht,
er ging ziellos, uur um Zeit zu verlieren, auf den gut gepflegten Wegen dahin.
,^ein Mensch begegnete ihm um diese heiße Mittagsstunde. Dieser Ort wußte
nichts von der Welt draußen; selbst fast zeitlos, ließ er die Ereignisse an sich
vorüberrauschen, uur der Wechsel der Jahreszeiten bekümmerte ihn und die
einigen Gesetze der Natur. Das ganze Stift war ein Ruhepunkt in der rast¬
losen Zeitlichkeit, ein Petrefakt in einer völlig neuen Gesellschaftsschichtung.
Nirgends war mau vornehmer, grundsätzlicher, ablehnender, gedächtnisstärker,
patriarchalischer und fürsorglicher als in diesen altersgrauen Mauern mit ihren
tiefen Fensternischen und rauchenden Öfen, in diesen Häusern, die nur in
Einzelheiten der innern Einrichtung ein paar Fortschritte der Technik mit¬
gemacht hatten, und in denen es sich doch so behaglich leben ließ. An Fürsten¬
höfen und auf stolzen Rittergütern werden dem modernen Leben mehr Zu¬
geständnisse gemacht als in solch einem Stift, wohin uur Vetter», Neffen und
Nichten die neuen und neuesten Formen der Welt vorsichtig und mit Schonung
als Kontrebande einzuführen wagen dürfen; angenommen werden sie nicht,


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[0234] Der Streit der Fakultäten statthaft schien, abtragen sehen, ohne mit dem Messer darüber herzufallen. Und daS war sein Glück. Denn bei den Stiftsdamen von Marienzelle, die liebevoll eine arme Wöchnerin besuchen und versorgen konnten, denen aber selbst die große französische Revolution im Grunde als frivoler Einfall nenerungssüch- tiger Plebejer galt, hätte er für alle Zeiten verspielt gehabt, wenn sie ein Messer hätten in seinem Munde sehen müssen. Pastor Klages konnte auch sonst seinen Mann stellen, selbst in den dämmerigen Räumen der Stiftskurien von Marienzelle. Er kannte Jung-Stilling so gut wie Zschokkes Stunden der Andacht; Tiecks Waldeinsamkeit und Jean Pauls Lianen waren ihm nicht fremder als der Lichtfreunde Thorheiten und Friederike Bremers und der Mnrlitt seelenlose, gespenstische Gestalten. Denn gelesen hatte er zeitlebens, was ihm in die Hände gekommen war, aber er hatte noch keine Zeit gehabt, zu sichten und den Dingen und Dichtern ins Gesicht zu sehen. Wie zwischen Ritschl und dem Konsistorium, war er anch noch in der Schwebe zwischen glaubensfroher Sehnsucht und plattverständigcr Nüchternheit. Er hatte das Zeug dazu, einmal vornehme Bibelstunden und Gebetsgemeinschaften zu leiten, und zugleich wieder soviel praktischen Sinn, Zeremonienmeister bei den sonn- und festtäglichen Empfängen in einer schönen alten Stadtkirche zu werden. Er legte sich ein paar Einleituugssütze zurecht, die aber alle Aussicht hatten, seiner zukünftigen Lehrmeisterin auf der hohen Schule der Demut trivial und abgestanden vorzukommen. Er machte, ehe er sich dem Hause seiner frei¬ willigen Lehrerin zuwandte, einen pflichtschuldigen Bestich bei der Frau Äbtissin, wurde nicht angenommen und beschloß um, um die Berechnung der Zeit wieder in Ordnung zu bringen, einen Gang durch das Birkenwäldchen, das das Stift traulich umgab. Ins Gras mochte er sich aus Rücksicht auf sein Festgewand nicht legen, und die alten moosbewachsenen Steinbarke lockten ihn auch uicht, er ging ziellos, uur um Zeit zu verlieren, auf den gut gepflegten Wegen dahin. ,^ein Mensch begegnete ihm um diese heiße Mittagsstunde. Dieser Ort wußte nichts von der Welt draußen; selbst fast zeitlos, ließ er die Ereignisse an sich vorüberrauschen, uur der Wechsel der Jahreszeiten bekümmerte ihn und die einigen Gesetze der Natur. Das ganze Stift war ein Ruhepunkt in der rast¬ losen Zeitlichkeit, ein Petrefakt in einer völlig neuen Gesellschaftsschichtung. Nirgends war mau vornehmer, grundsätzlicher, ablehnender, gedächtnisstärker, patriarchalischer und fürsorglicher als in diesen altersgrauen Mauern mit ihren tiefen Fensternischen und rauchenden Öfen, in diesen Häusern, die nur in Einzelheiten der innern Einrichtung ein paar Fortschritte der Technik mit¬ gemacht hatten, und in denen es sich doch so behaglich leben ließ. An Fürsten¬ höfen und auf stolzen Rittergütern werden dem modernen Leben mehr Zu¬ geständnisse gemacht als in solch einem Stift, wohin uur Vetter», Neffen und Nichten die neuen und neuesten Formen der Welt vorsichtig und mit Schonung als Kontrebande einzuführen wagen dürfen; angenommen werden sie nicht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/234>, abgerufen am 23.07.2024.