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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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eingeführt. Auch ihre neuen Novellen bewegen sich aus dem norddeutschen
Küstenboden, von dem aus deutsche Segel und deutsche Flaggen in alle Weit
gehen und auf dem man den Blick für die fernsten Länder hat und doch so
anhänglich an den geliebten Heimatboden ist. Ilse Frcipan hat ein offnes
Ange für jede Besonderheit dieses Lebens, selbst für das eigentümliche Phlegma
der in ihm erwachsenen Gestalten, das sich mit so sichrer Thatkraft und so
warmer Empfindung paart. Figuren wie der junge Steuermann Hartig Holevt,
der ein guter Seemann und ein treues Herz ist, aber sich weder "annvgeln"
(anschmeicheln), noch sich um das Mädchen, das er liebt, auf die gewöhnliche
Weise bewerben kann, am Ende aber doch die drei Reifen (das Zeichen der
Kapitänswürde) und in Manga Dehn "ne kleine nette Fran" erhält, wie die
alte Witwe Becke Vhdekarken, die nach fünfzig chrenreichen Witwenjahren keinen
höhern Wunsch kennt als bei ihrem Mann im Grabe zu liegen, damit sie
Hand in Hand mit ihm auferstehen könne, und weil ihr die kurzsichtige Be¬
schränktheit wohlmeinender Meuscheu den einen Wunsch versagt, ihre" alten
dreiundachtzigjährigen Leib nach Wedel hinter Blankenese schleppt und dort
auf dem Grabe des vergessenen Mannes stirbt, müssen warmen Anteil erwecken.
In ihrer lebensvollen Anschaulichkeit, mit ihrer frische" Empfindung sür alles
Leid, aber auch für alles Glück und sonnige Behagen des unscheinbaren alltäg¬
lichen Lebens, endlich mit der schlichten Sicherheit der Erzählung reihen sich
diese Novellen dem besten an, was uns in der neuesten Erzählnngslitteratur
begegnet ist.

Eine neue Sammlung Novelle" von Paul Heyse wird immer die wohl¬
verdiente Teilnahme des Publikums und die Teilnahme der Kritik finden, die
nicht haltlos von einem Extrem zum andern taumelt. Es ist das Geschick
dieses lebens- und anmuthvoller Dichters geworden, daß er, nachdem er mit
berechtigtem, hohem Anteil und selbst mit kritiklosen Enthusiasmus auf dem
größern Teile seines Weges begleitet worden ist, nun in dem letzten Drittel
dieses Wegs die Gegnerschaft, den Haß und die zu drei Vierteln sinnlosen
Angriffe der Modernen zu erdulden hat. In prophetischer Boraussicht dieser
Art von Kritik hat Gottfried Keller schon vor vierunddreißig Jahren über
Hesse geschrieben: "Diese schöne, spezifisch künstlerische Persönlichkeit gehört zu
den Erscheinungen, welche der schnöden Routine die größte Unbequemlichkeit
verursachen, und von denen sich die Unkräuter aller Art abwenden, wie die
Hunde von einem Glas Wein. An den ersten Wortreihen, welche ein solches
Talent hören läßt, erkennen sie die ihnen fremde Mundart des Schönen, den
Wohlklang der wirklichen Poesie, und sofort wird nach einem Schlag- oder
Scheltwort ausgeschaut, mit welchem das Verhaßte zu verpönen, zu isoliren
versucht wird" (G. Kellers Nachlaßschriften, S. 175). Statt des einen Schelt-
und Schlagworts "akademisch" hat man freilich seitdem hundert Worte in die
Welt geschleudert, in denen allen sich der Ingrimm verrät, daß man die still


eingeführt. Auch ihre neuen Novellen bewegen sich aus dem norddeutschen
Küstenboden, von dem aus deutsche Segel und deutsche Flaggen in alle Weit
gehen und auf dem man den Blick für die fernsten Länder hat und doch so
anhänglich an den geliebten Heimatboden ist. Ilse Frcipan hat ein offnes
Ange für jede Besonderheit dieses Lebens, selbst für das eigentümliche Phlegma
der in ihm erwachsenen Gestalten, das sich mit so sichrer Thatkraft und so
warmer Empfindung paart. Figuren wie der junge Steuermann Hartig Holevt,
der ein guter Seemann und ein treues Herz ist, aber sich weder „annvgeln"
(anschmeicheln), noch sich um das Mädchen, das er liebt, auf die gewöhnliche
Weise bewerben kann, am Ende aber doch die drei Reifen (das Zeichen der
Kapitänswürde) und in Manga Dehn „ne kleine nette Fran" erhält, wie die
alte Witwe Becke Vhdekarken, die nach fünfzig chrenreichen Witwenjahren keinen
höhern Wunsch kennt als bei ihrem Mann im Grabe zu liegen, damit sie
Hand in Hand mit ihm auferstehen könne, und weil ihr die kurzsichtige Be¬
schränktheit wohlmeinender Meuscheu den einen Wunsch versagt, ihre» alten
dreiundachtzigjährigen Leib nach Wedel hinter Blankenese schleppt und dort
auf dem Grabe des vergessenen Mannes stirbt, müssen warmen Anteil erwecken.
In ihrer lebensvollen Anschaulichkeit, mit ihrer frische» Empfindung sür alles
Leid, aber auch für alles Glück und sonnige Behagen des unscheinbaren alltäg¬
lichen Lebens, endlich mit der schlichten Sicherheit der Erzählung reihen sich
diese Novellen dem besten an, was uns in der neuesten Erzählnngslitteratur
begegnet ist.

Eine neue Sammlung Novelle» von Paul Heyse wird immer die wohl¬
verdiente Teilnahme des Publikums und die Teilnahme der Kritik finden, die
nicht haltlos von einem Extrem zum andern taumelt. Es ist das Geschick
dieses lebens- und anmuthvoller Dichters geworden, daß er, nachdem er mit
berechtigtem, hohem Anteil und selbst mit kritiklosen Enthusiasmus auf dem
größern Teile seines Weges begleitet worden ist, nun in dem letzten Drittel
dieses Wegs die Gegnerschaft, den Haß und die zu drei Vierteln sinnlosen
Angriffe der Modernen zu erdulden hat. In prophetischer Boraussicht dieser
Art von Kritik hat Gottfried Keller schon vor vierunddreißig Jahren über
Hesse geschrieben: „Diese schöne, spezifisch künstlerische Persönlichkeit gehört zu
den Erscheinungen, welche der schnöden Routine die größte Unbequemlichkeit
verursachen, und von denen sich die Unkräuter aller Art abwenden, wie die
Hunde von einem Glas Wein. An den ersten Wortreihen, welche ein solches
Talent hören läßt, erkennen sie die ihnen fremde Mundart des Schönen, den
Wohlklang der wirklichen Poesie, und sofort wird nach einem Schlag- oder
Scheltwort ausgeschaut, mit welchem das Verhaßte zu verpönen, zu isoliren
versucht wird" (G. Kellers Nachlaßschriften, S. 175). Statt des einen Schelt-
und Schlagworts „akademisch" hat man freilich seitdem hundert Worte in die
Welt geschleudert, in denen allen sich der Ingrimm verrät, daß man die still


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[0228] eingeführt. Auch ihre neuen Novellen bewegen sich aus dem norddeutschen Küstenboden, von dem aus deutsche Segel und deutsche Flaggen in alle Weit gehen und auf dem man den Blick für die fernsten Länder hat und doch so anhänglich an den geliebten Heimatboden ist. Ilse Frcipan hat ein offnes Ange für jede Besonderheit dieses Lebens, selbst für das eigentümliche Phlegma der in ihm erwachsenen Gestalten, das sich mit so sichrer Thatkraft und so warmer Empfindung paart. Figuren wie der junge Steuermann Hartig Holevt, der ein guter Seemann und ein treues Herz ist, aber sich weder „annvgeln" (anschmeicheln), noch sich um das Mädchen, das er liebt, auf die gewöhnliche Weise bewerben kann, am Ende aber doch die drei Reifen (das Zeichen der Kapitänswürde) und in Manga Dehn „ne kleine nette Fran" erhält, wie die alte Witwe Becke Vhdekarken, die nach fünfzig chrenreichen Witwenjahren keinen höhern Wunsch kennt als bei ihrem Mann im Grabe zu liegen, damit sie Hand in Hand mit ihm auferstehen könne, und weil ihr die kurzsichtige Be¬ schränktheit wohlmeinender Meuscheu den einen Wunsch versagt, ihre» alten dreiundachtzigjährigen Leib nach Wedel hinter Blankenese schleppt und dort auf dem Grabe des vergessenen Mannes stirbt, müssen warmen Anteil erwecken. In ihrer lebensvollen Anschaulichkeit, mit ihrer frische» Empfindung sür alles Leid, aber auch für alles Glück und sonnige Behagen des unscheinbaren alltäg¬ lichen Lebens, endlich mit der schlichten Sicherheit der Erzählung reihen sich diese Novellen dem besten an, was uns in der neuesten Erzählnngslitteratur begegnet ist. Eine neue Sammlung Novelle» von Paul Heyse wird immer die wohl¬ verdiente Teilnahme des Publikums und die Teilnahme der Kritik finden, die nicht haltlos von einem Extrem zum andern taumelt. Es ist das Geschick dieses lebens- und anmuthvoller Dichters geworden, daß er, nachdem er mit berechtigtem, hohem Anteil und selbst mit kritiklosen Enthusiasmus auf dem größern Teile seines Weges begleitet worden ist, nun in dem letzten Drittel dieses Wegs die Gegnerschaft, den Haß und die zu drei Vierteln sinnlosen Angriffe der Modernen zu erdulden hat. In prophetischer Boraussicht dieser Art von Kritik hat Gottfried Keller schon vor vierunddreißig Jahren über Hesse geschrieben: „Diese schöne, spezifisch künstlerische Persönlichkeit gehört zu den Erscheinungen, welche der schnöden Routine die größte Unbequemlichkeit verursachen, und von denen sich die Unkräuter aller Art abwenden, wie die Hunde von einem Glas Wein. An den ersten Wortreihen, welche ein solches Talent hören läßt, erkennen sie die ihnen fremde Mundart des Schönen, den Wohlklang der wirklichen Poesie, und sofort wird nach einem Schlag- oder Scheltwort ausgeschaut, mit welchem das Verhaßte zu verpönen, zu isoliren versucht wird" (G. Kellers Nachlaßschriften, S. 175). Statt des einen Schelt- und Schlagworts „akademisch" hat man freilich seitdem hundert Worte in die Welt geschleudert, in denen allen sich der Ingrimm verrät, daß man die still

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/228>, abgerufen am 23.07.2024.