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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Handwerkskammern

nachweis nicht mit ins Programm aufnahm, weil er ferner, anstatt einseitig
die Rechte der Meister zu stärken, auch den Gesellen die Fähigkeit zusprach,
in Angelegenheiten, die sie angingen, ein Wort mitzureden, und schließlich weil
er die Innungen unzweifelhaft auf den Aussterbeetat setzte, indem er die wesent¬
lichen Aufgaben der bestehenden Innungen andern Organen, teils den Fach-
genosseuschafteu, teils deu Handwerkskammern zuwies.

Im einzelnen rief die Abgrenzung zwischen Handwerk und Fabrikbetrieb, die
mit der Zahl von zwanzig beschäftigten Arbeitern gegeben werden sollte, Be¬
denken hervor; den einen erschien die Grenze als zu hoch und als zu viel zum
Großkapitalismus neigende Bestandteile umfassend, den andern schien die Zahl
zu niedrig gegriffen zu sein, und sie befürchteten, daß allzu viel gescheite Leute
aus der Organisation ausgeschlossen sein würden, wen" die Betriebe, die reget
mäßig mehr als zwanzig Arbeiter beschäftigen, keinen Teil daran haben sollten.
Die Gehilfcnausschüsse betrachtete man vielfach mit Mißbehagen als sozia¬
listische Agitationsmittel. Weiter wurde bemängelt, daß mau fürs erste deu
Handwerkskammern zu viel und zu schwierige Aufgaben zugedacht habe, und
daß diese unter solchen Umständen allzu schwerfällige Apparate der gewerb¬
lichen Selbstverwaltung werden würden. Schließlich sah man in der Bestim¬
mung, daß der dreijährige Betrieb eines Handwerks oder einer gleichartigen
Fabrik hinsichtlich des Lehrliugchaltens von einer Lehrzeit und von der Ge¬
sellenprüfung entbinden sollte, einen schwächlichen Kompromiß mit dem Kapi¬
talismus: mit einer solchen Übergangsbestimmung würden, so befürchtete man,
die wohlthätigen Vorschriften über das Lehrlingswesen ganz durchbrochen
werden.

Bei der öffentlichen Kritik kam auch in dieser Frage neben berechtigten
Einwendungen etwas von der alten deutschen illo in. piu'tes zur Erscheinung,
die fünf gesinnungsfesten Männern sechs Ansichten gestattet, was nicht eben
zu einer beschleunigten Erledigung der verwickelten Angelegenheit beitragen
kann. Und doch ist gerade für das Handwerk eine schleunige und durch¬
greifende Reform der innern Organisation notwendig. Natürlich soll nicht der
Standpunkt jeues Medizinmannes maßgebend sein, der, um den Kranken und
seine Angehörigen zu beruhigen, ein harmloses Rezept verschreibt, eine beliebige
augenehm gefärbte Medizin verordnet, ut g,1i"M<i tieri villsg-or. Mau soll
nicht ein paar Vorschläge zusammenraffen oder aus deu Plänen Verlepschs
ein Flickwerk machen, damit nur der Handwerker die tröstende Zuversicht er¬
halte, der Staat thue etwas für ihn; aber man wird, das ist gewiß, vorläufig
zu keinem Ergebnis kommen, wenn man sich auf zu weit gehende Forderungen
versteift und mit dem bekannten von Sachkenntnis ungetrübten Gleichmut die
gegebnen Vorarbeiten ignorirt. Es muß vielmehr gelingen, einen neutralen
Boden zu gewinnen, auf dem mehr oder minder alle mitarbeiten können, und
auf dem sich dann der weitere Organisatiousbau ausführen läßt. Als einen


Die Handwerkskammern

nachweis nicht mit ins Programm aufnahm, weil er ferner, anstatt einseitig
die Rechte der Meister zu stärken, auch den Gesellen die Fähigkeit zusprach,
in Angelegenheiten, die sie angingen, ein Wort mitzureden, und schließlich weil
er die Innungen unzweifelhaft auf den Aussterbeetat setzte, indem er die wesent¬
lichen Aufgaben der bestehenden Innungen andern Organen, teils den Fach-
genosseuschafteu, teils deu Handwerkskammern zuwies.

Im einzelnen rief die Abgrenzung zwischen Handwerk und Fabrikbetrieb, die
mit der Zahl von zwanzig beschäftigten Arbeitern gegeben werden sollte, Be¬
denken hervor; den einen erschien die Grenze als zu hoch und als zu viel zum
Großkapitalismus neigende Bestandteile umfassend, den andern schien die Zahl
zu niedrig gegriffen zu sein, und sie befürchteten, daß allzu viel gescheite Leute
aus der Organisation ausgeschlossen sein würden, wen» die Betriebe, die reget
mäßig mehr als zwanzig Arbeiter beschäftigen, keinen Teil daran haben sollten.
Die Gehilfcnausschüsse betrachtete man vielfach mit Mißbehagen als sozia¬
listische Agitationsmittel. Weiter wurde bemängelt, daß mau fürs erste deu
Handwerkskammern zu viel und zu schwierige Aufgaben zugedacht habe, und
daß diese unter solchen Umständen allzu schwerfällige Apparate der gewerb¬
lichen Selbstverwaltung werden würden. Schließlich sah man in der Bestim¬
mung, daß der dreijährige Betrieb eines Handwerks oder einer gleichartigen
Fabrik hinsichtlich des Lehrliugchaltens von einer Lehrzeit und von der Ge¬
sellenprüfung entbinden sollte, einen schwächlichen Kompromiß mit dem Kapi¬
talismus: mit einer solchen Übergangsbestimmung würden, so befürchtete man,
die wohlthätigen Vorschriften über das Lehrlingswesen ganz durchbrochen
werden.

Bei der öffentlichen Kritik kam auch in dieser Frage neben berechtigten
Einwendungen etwas von der alten deutschen illo in. piu'tes zur Erscheinung,
die fünf gesinnungsfesten Männern sechs Ansichten gestattet, was nicht eben
zu einer beschleunigten Erledigung der verwickelten Angelegenheit beitragen
kann. Und doch ist gerade für das Handwerk eine schleunige und durch¬
greifende Reform der innern Organisation notwendig. Natürlich soll nicht der
Standpunkt jeues Medizinmannes maßgebend sein, der, um den Kranken und
seine Angehörigen zu beruhigen, ein harmloses Rezept verschreibt, eine beliebige
augenehm gefärbte Medizin verordnet, ut g,1i«M<i tieri villsg-or. Mau soll
nicht ein paar Vorschläge zusammenraffen oder aus deu Plänen Verlepschs
ein Flickwerk machen, damit nur der Handwerker die tröstende Zuversicht er¬
halte, der Staat thue etwas für ihn; aber man wird, das ist gewiß, vorläufig
zu keinem Ergebnis kommen, wenn man sich auf zu weit gehende Forderungen
versteift und mit dem bekannten von Sachkenntnis ungetrübten Gleichmut die
gegebnen Vorarbeiten ignorirt. Es muß vielmehr gelingen, einen neutralen
Boden zu gewinnen, auf dem mehr oder minder alle mitarbeiten können, und
auf dem sich dann der weitere Organisatiousbau ausführen läßt. Als einen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/216>, abgerufen am 25.08.2024.