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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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mit ihnen in Berührung kommen, das braucht ja wohl nicht ausdrücklich ge¬
sagt zu werden.

Merkwürdigerweise erkennnt aber der Verfasser des besprochnen Mittel¬
standsartikels, im Widerspruch mit seiner optimistischen Tendenz, die Urgesund-
heit unsers sozialen Zustandes an und nennt auch die wahre Ursache, die Grund¬
thatsache, von der alle unsre Betrachtungen ausgehen. Aber er erwähnt das nur
nebenbei, ohne Aolgerungen daraus zu ziehen, und in welcher Form! Zwar die
Arbeitslosen nennt er nicht, aber die Arbeiter, die es zu keinem menschenwür¬
digen Dasein bringen; dieser Zustand sei aber bei dem Mißverhältnis der Volks¬
zunahme zur Bodenflüche nicht abzuwenden. "Wenn sich das deutsche Volk deu
Luxus erlaubt, so viele Kinder zu erzeugen" u. s. w. Gilt denn nicht die
Ehe gerade im lutherischen Christentum als Pflicht, und wird nicht das "Seid
fruchtbar und mehret euch" zum Wesen der Ehe gerechnet? Wird nicht
den Deutschen seit beinahe vierhundert Jahren gepredigt, Kinder seien der
größte Segen? Ist diese Auffassung des Christentums und der Ehe nicht mit
der preußischen Staatsräson aufs innigste verschmolzen, und prämiirt nicht der
der König den siebenten Jungen? Als der edle Präsident von Kirchmann
die Arbeiter einmal auf die Schattenseiten dieser Auffassung und auf die ent¬
gegengesetzten Pflichten hingewiesen hatte, wurde er Knall und Fall abgesetzt
und hat sich auf seiue alten Tage sein Brot mit philosophischer Schriftstellers
verdienen müssen, die bekanntlich ein für den Brotverdienst ausnehmend ge¬
eignetes Gewerbe ist.

Zu den Feinden des "Kapitals" gehören wir selbstverständlich nicht.
Die Leute, die in allgemeinen und ungenauen Redensarten gegen das Kapital
eifern, worunter sie gewöhnlich nur das mobile Kapital verstehen, verdienen
nach unsrer Meinung überhaupt nicht, ernst genommen zu werden. Wir haben
uns auch bei diesem Gegenstande, so oft wir ihn behandelt haben, und es ist
sehr oft geschehen, der unzweideutigsten Genauigkeit befleißigt. Zunächst haben
wir Kapital und Vermögen unterschieden. Nicht jeder Vermögensbestandteil
wird als Kapital, d. h. zur Produktion, benutzt; zu deu Vermögensstücken,
denen der Kapitalcharakter abgeht, gehören u. a. Wohnung, Kleidung, Haus¬
gerät, Parke, Kunstsammlungen, Bibliotheken. Daß wir keine Gegner des
Privatvermögens, oder was dasselbe ist, des Privateigentums sind, brauchen
wir wohl nicht erst zu sagen; über die Art, wie wir das Eigentum von der
Gesetzgebung behandelt wissen wollen, haben wir uns vor kurzem ausgesprochen.

Unter Kapital versteht man, von unwichtigern Meinungsverschiedenheiten
abgesehen, dreierlei. Erstens die Gesamtheit der Produktionsmittel. Das
Kapital in diesem Sinne wünschen wir selbstverständlich zu vermehren, und es
giebt in ganz Deutschland keinen zurechnungsfähigen Menschen, der das nicht
wünschte. Nicht: fort mit dem Kapital, sondern: her mit dem Kapital ist die
sozialdemokratische Losung, sagte Frohne am 12. Januar im Reichstage.


Grenzbote" I 189S 20
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mit ihnen in Berührung kommen, das braucht ja wohl nicht ausdrücklich ge¬
sagt zu werden.

Merkwürdigerweise erkennnt aber der Verfasser des besprochnen Mittel¬
standsartikels, im Widerspruch mit seiner optimistischen Tendenz, die Urgesund-
heit unsers sozialen Zustandes an und nennt auch die wahre Ursache, die Grund¬
thatsache, von der alle unsre Betrachtungen ausgehen. Aber er erwähnt das nur
nebenbei, ohne Aolgerungen daraus zu ziehen, und in welcher Form! Zwar die
Arbeitslosen nennt er nicht, aber die Arbeiter, die es zu keinem menschenwür¬
digen Dasein bringen; dieser Zustand sei aber bei dem Mißverhältnis der Volks¬
zunahme zur Bodenflüche nicht abzuwenden. „Wenn sich das deutsche Volk deu
Luxus erlaubt, so viele Kinder zu erzeugen" u. s. w. Gilt denn nicht die
Ehe gerade im lutherischen Christentum als Pflicht, und wird nicht das „Seid
fruchtbar und mehret euch" zum Wesen der Ehe gerechnet? Wird nicht
den Deutschen seit beinahe vierhundert Jahren gepredigt, Kinder seien der
größte Segen? Ist diese Auffassung des Christentums und der Ehe nicht mit
der preußischen Staatsräson aufs innigste verschmolzen, und prämiirt nicht der
der König den siebenten Jungen? Als der edle Präsident von Kirchmann
die Arbeiter einmal auf die Schattenseiten dieser Auffassung und auf die ent¬
gegengesetzten Pflichten hingewiesen hatte, wurde er Knall und Fall abgesetzt
und hat sich auf seiue alten Tage sein Brot mit philosophischer Schriftstellers
verdienen müssen, die bekanntlich ein für den Brotverdienst ausnehmend ge¬
eignetes Gewerbe ist.

Zu den Feinden des „Kapitals" gehören wir selbstverständlich nicht.
Die Leute, die in allgemeinen und ungenauen Redensarten gegen das Kapital
eifern, worunter sie gewöhnlich nur das mobile Kapital verstehen, verdienen
nach unsrer Meinung überhaupt nicht, ernst genommen zu werden. Wir haben
uns auch bei diesem Gegenstande, so oft wir ihn behandelt haben, und es ist
sehr oft geschehen, der unzweideutigsten Genauigkeit befleißigt. Zunächst haben
wir Kapital und Vermögen unterschieden. Nicht jeder Vermögensbestandteil
wird als Kapital, d. h. zur Produktion, benutzt; zu deu Vermögensstücken,
denen der Kapitalcharakter abgeht, gehören u. a. Wohnung, Kleidung, Haus¬
gerät, Parke, Kunstsammlungen, Bibliotheken. Daß wir keine Gegner des
Privatvermögens, oder was dasselbe ist, des Privateigentums sind, brauchen
wir wohl nicht erst zu sagen; über die Art, wie wir das Eigentum von der
Gesetzgebung behandelt wissen wollen, haben wir uns vor kurzem ausgesprochen.

Unter Kapital versteht man, von unwichtigern Meinungsverschiedenheiten
abgesehen, dreierlei. Erstens die Gesamtheit der Produktionsmittel. Das
Kapital in diesem Sinne wünschen wir selbstverständlich zu vermehren, und es
giebt in ganz Deutschland keinen zurechnungsfähigen Menschen, der das nicht
wünschte. Nicht: fort mit dem Kapital, sondern: her mit dem Kapital ist die
sozialdemokratische Losung, sagte Frohne am 12. Januar im Reichstage.


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[0161] Lin kleines Repetitorium mit ihnen in Berührung kommen, das braucht ja wohl nicht ausdrücklich ge¬ sagt zu werden. Merkwürdigerweise erkennnt aber der Verfasser des besprochnen Mittel¬ standsartikels, im Widerspruch mit seiner optimistischen Tendenz, die Urgesund- heit unsers sozialen Zustandes an und nennt auch die wahre Ursache, die Grund¬ thatsache, von der alle unsre Betrachtungen ausgehen. Aber er erwähnt das nur nebenbei, ohne Aolgerungen daraus zu ziehen, und in welcher Form! Zwar die Arbeitslosen nennt er nicht, aber die Arbeiter, die es zu keinem menschenwür¬ digen Dasein bringen; dieser Zustand sei aber bei dem Mißverhältnis der Volks¬ zunahme zur Bodenflüche nicht abzuwenden. „Wenn sich das deutsche Volk deu Luxus erlaubt, so viele Kinder zu erzeugen" u. s. w. Gilt denn nicht die Ehe gerade im lutherischen Christentum als Pflicht, und wird nicht das „Seid fruchtbar und mehret euch" zum Wesen der Ehe gerechnet? Wird nicht den Deutschen seit beinahe vierhundert Jahren gepredigt, Kinder seien der größte Segen? Ist diese Auffassung des Christentums und der Ehe nicht mit der preußischen Staatsräson aufs innigste verschmolzen, und prämiirt nicht der der König den siebenten Jungen? Als der edle Präsident von Kirchmann die Arbeiter einmal auf die Schattenseiten dieser Auffassung und auf die ent¬ gegengesetzten Pflichten hingewiesen hatte, wurde er Knall und Fall abgesetzt und hat sich auf seiue alten Tage sein Brot mit philosophischer Schriftstellers verdienen müssen, die bekanntlich ein für den Brotverdienst ausnehmend ge¬ eignetes Gewerbe ist. Zu den Feinden des „Kapitals" gehören wir selbstverständlich nicht. Die Leute, die in allgemeinen und ungenauen Redensarten gegen das Kapital eifern, worunter sie gewöhnlich nur das mobile Kapital verstehen, verdienen nach unsrer Meinung überhaupt nicht, ernst genommen zu werden. Wir haben uns auch bei diesem Gegenstande, so oft wir ihn behandelt haben, und es ist sehr oft geschehen, der unzweideutigsten Genauigkeit befleißigt. Zunächst haben wir Kapital und Vermögen unterschieden. Nicht jeder Vermögensbestandteil wird als Kapital, d. h. zur Produktion, benutzt; zu deu Vermögensstücken, denen der Kapitalcharakter abgeht, gehören u. a. Wohnung, Kleidung, Haus¬ gerät, Parke, Kunstsammlungen, Bibliotheken. Daß wir keine Gegner des Privatvermögens, oder was dasselbe ist, des Privateigentums sind, brauchen wir wohl nicht erst zu sagen; über die Art, wie wir das Eigentum von der Gesetzgebung behandelt wissen wollen, haben wir uns vor kurzem ausgesprochen. Unter Kapital versteht man, von unwichtigern Meinungsverschiedenheiten abgesehen, dreierlei. Erstens die Gesamtheit der Produktionsmittel. Das Kapital in diesem Sinne wünschen wir selbstverständlich zu vermehren, und es giebt in ganz Deutschland keinen zurechnungsfähigen Menschen, der das nicht wünschte. Nicht: fort mit dem Kapital, sondern: her mit dem Kapital ist die sozialdemokratische Losung, sagte Frohne am 12. Januar im Reichstage. Grenzbote» I 189S 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/161>, abgerufen am 23.07.2024.