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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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zwei Fällen aus dem Leben. Der Daheimkalender erzählte einmal ein Ge¬
schichtchen, das, wenn es nicht wahr sein sollte, doch wahr sein könnte, aus
dem Anfang unsers Jahrhunderts. Ein süddeutscher Pastor habe eine Unzahl
Jungen, aber ein sehr dürftiges Einkommen gehabt. Da habe er denn einem
jeden nach der Konfirmation einen Thaler und seinen Segen gegeben und ihn
in die Welt geschickt. Einmal sei in der Nähe von Hamburg ein Handwerks¬
bursch, da er sich in einer schönen Sommernacht in den Straßengraben schlafen
legen wollte, auf einen Kameraden gefallen. Sie hätten sich gegenseitig vor¬
gestellt und die angenehme Entdeckung gemacht, daß sie Brüder seien, die sich
nun zum erstenmale im Leben zu sehen bekamen, Söhne eben jenes Pastors.
Wir werden diesen ehrwürdigen Herrn nicht gerade als das Muster eines evan¬
gelischen Geistlichen und christlichen Familienvaters preisen, dürfen ihn aber
auch nicht als gewissenlos verurteilen. Denn damals fand ein Junge überall
Arbeit, und fand er sie nicht gleich, mußte er eine Zeit lang fechten, so warf
ihn das nicht aus der Gesellschaft hinaus und hinderte nicht sein späteres
Fortkommen. Nun ein Bild aus der Gegenwart. Eine mittellose aber sehr
anständige nud nicht ungebildete Familie läßt den einzigen Sohn Schlosser
lernen in einer Werkstatt von Ruf. Das Lehrgeld und die Kosten der Frei¬
sprechung, wobei die Jnnnngsmeister traktirt werden müssen, sind nicht un¬
beträchtlich, der Knabe bekommt vom Lehrherrn das beste Zeugnis, und Ar¬
beiten seiner Hände, die seine Geschicklichkeit und Tüchtigkeit bekunden, haben
wir in unserm Arbeitszimmer stehen. Nach langem Suchen bekommt der fer¬
tige Geselle Arbeit in einer kleinen Werkstatt gegen freie Station und wöchentlich
1,50 Mark. Er schämt sich, da er sich fühlt, dieser geringen Löhnung, und
nach vielem vergeblichen Jnseriren geht er in die Provinzialhanptstadt, wo ein
Verwandter von ihm, der bei der Eisenbahn angestellt ist, in allen Werkstätten
hcrnmlüuft, um ihm Arbeit zu verschaffen -- vergebens, überall werden Ar¬
beiter entlassen statt angenommen. Er geht nach Hause und arbeitet bei einem
Schlosser des Städtchens, wo er wöchentlich 4 Mark und sonst nichts be¬
kommt; bei den Eltern schläft und ißt er. Dann erlangt er auswärts eine
Stelle, wo er freie Station (Hundefraß) und wöchentlich 3 Mark bekommt,
dabei in der rohesten Weise mißhandelt wird und infolge dessen schon einmal
zu einer Kur nach Hanse gemußt hat; er ist trotzdem wieder hingegangen.
Aber jedes Menschen Tragkraft hat ihre Grenzen, und so wird er es wohl
nicht gar zu lange aushalten. Der hat dann im Notfalle immer noch seine
Eltern, bei denen er eine Zuflucht finden kann. Tausende haben keine oder
keine solche Eltern und müssen auf die Walze, wo sie sozialer Unrat werden.
Von solchen reinlichen Plätzen, wie Kassel einer ist, wird der Unrat weg und
allmählich in den Großstädten zusammengefegt. Aber die Molekeln dieses Un¬
rath bleiben denkende und fühlende Menschen, und was sie denken, fühlen und,
wo sie zu Tausenden bei einander hocken, sprechen, nud was die denken, die


Lin kleines Repetitoriuin

zwei Fällen aus dem Leben. Der Daheimkalender erzählte einmal ein Ge¬
schichtchen, das, wenn es nicht wahr sein sollte, doch wahr sein könnte, aus
dem Anfang unsers Jahrhunderts. Ein süddeutscher Pastor habe eine Unzahl
Jungen, aber ein sehr dürftiges Einkommen gehabt. Da habe er denn einem
jeden nach der Konfirmation einen Thaler und seinen Segen gegeben und ihn
in die Welt geschickt. Einmal sei in der Nähe von Hamburg ein Handwerks¬
bursch, da er sich in einer schönen Sommernacht in den Straßengraben schlafen
legen wollte, auf einen Kameraden gefallen. Sie hätten sich gegenseitig vor¬
gestellt und die angenehme Entdeckung gemacht, daß sie Brüder seien, die sich
nun zum erstenmale im Leben zu sehen bekamen, Söhne eben jenes Pastors.
Wir werden diesen ehrwürdigen Herrn nicht gerade als das Muster eines evan¬
gelischen Geistlichen und christlichen Familienvaters preisen, dürfen ihn aber
auch nicht als gewissenlos verurteilen. Denn damals fand ein Junge überall
Arbeit, und fand er sie nicht gleich, mußte er eine Zeit lang fechten, so warf
ihn das nicht aus der Gesellschaft hinaus und hinderte nicht sein späteres
Fortkommen. Nun ein Bild aus der Gegenwart. Eine mittellose aber sehr
anständige nud nicht ungebildete Familie läßt den einzigen Sohn Schlosser
lernen in einer Werkstatt von Ruf. Das Lehrgeld und die Kosten der Frei¬
sprechung, wobei die Jnnnngsmeister traktirt werden müssen, sind nicht un¬
beträchtlich, der Knabe bekommt vom Lehrherrn das beste Zeugnis, und Ar¬
beiten seiner Hände, die seine Geschicklichkeit und Tüchtigkeit bekunden, haben
wir in unserm Arbeitszimmer stehen. Nach langem Suchen bekommt der fer¬
tige Geselle Arbeit in einer kleinen Werkstatt gegen freie Station und wöchentlich
1,50 Mark. Er schämt sich, da er sich fühlt, dieser geringen Löhnung, und
nach vielem vergeblichen Jnseriren geht er in die Provinzialhanptstadt, wo ein
Verwandter von ihm, der bei der Eisenbahn angestellt ist, in allen Werkstätten
hcrnmlüuft, um ihm Arbeit zu verschaffen — vergebens, überall werden Ar¬
beiter entlassen statt angenommen. Er geht nach Hause und arbeitet bei einem
Schlosser des Städtchens, wo er wöchentlich 4 Mark und sonst nichts be¬
kommt; bei den Eltern schläft und ißt er. Dann erlangt er auswärts eine
Stelle, wo er freie Station (Hundefraß) und wöchentlich 3 Mark bekommt,
dabei in der rohesten Weise mißhandelt wird und infolge dessen schon einmal
zu einer Kur nach Hanse gemußt hat; er ist trotzdem wieder hingegangen.
Aber jedes Menschen Tragkraft hat ihre Grenzen, und so wird er es wohl
nicht gar zu lange aushalten. Der hat dann im Notfalle immer noch seine
Eltern, bei denen er eine Zuflucht finden kann. Tausende haben keine oder
keine solche Eltern und müssen auf die Walze, wo sie sozialer Unrat werden.
Von solchen reinlichen Plätzen, wie Kassel einer ist, wird der Unrat weg und
allmählich in den Großstädten zusammengefegt. Aber die Molekeln dieses Un¬
rath bleiben denkende und fühlende Menschen, und was sie denken, fühlen und,
wo sie zu Tausenden bei einander hocken, sprechen, nud was die denken, die


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[0160] Lin kleines Repetitoriuin zwei Fällen aus dem Leben. Der Daheimkalender erzählte einmal ein Ge¬ schichtchen, das, wenn es nicht wahr sein sollte, doch wahr sein könnte, aus dem Anfang unsers Jahrhunderts. Ein süddeutscher Pastor habe eine Unzahl Jungen, aber ein sehr dürftiges Einkommen gehabt. Da habe er denn einem jeden nach der Konfirmation einen Thaler und seinen Segen gegeben und ihn in die Welt geschickt. Einmal sei in der Nähe von Hamburg ein Handwerks¬ bursch, da er sich in einer schönen Sommernacht in den Straßengraben schlafen legen wollte, auf einen Kameraden gefallen. Sie hätten sich gegenseitig vor¬ gestellt und die angenehme Entdeckung gemacht, daß sie Brüder seien, die sich nun zum erstenmale im Leben zu sehen bekamen, Söhne eben jenes Pastors. Wir werden diesen ehrwürdigen Herrn nicht gerade als das Muster eines evan¬ gelischen Geistlichen und christlichen Familienvaters preisen, dürfen ihn aber auch nicht als gewissenlos verurteilen. Denn damals fand ein Junge überall Arbeit, und fand er sie nicht gleich, mußte er eine Zeit lang fechten, so warf ihn das nicht aus der Gesellschaft hinaus und hinderte nicht sein späteres Fortkommen. Nun ein Bild aus der Gegenwart. Eine mittellose aber sehr anständige nud nicht ungebildete Familie läßt den einzigen Sohn Schlosser lernen in einer Werkstatt von Ruf. Das Lehrgeld und die Kosten der Frei¬ sprechung, wobei die Jnnnngsmeister traktirt werden müssen, sind nicht un¬ beträchtlich, der Knabe bekommt vom Lehrherrn das beste Zeugnis, und Ar¬ beiten seiner Hände, die seine Geschicklichkeit und Tüchtigkeit bekunden, haben wir in unserm Arbeitszimmer stehen. Nach langem Suchen bekommt der fer¬ tige Geselle Arbeit in einer kleinen Werkstatt gegen freie Station und wöchentlich 1,50 Mark. Er schämt sich, da er sich fühlt, dieser geringen Löhnung, und nach vielem vergeblichen Jnseriren geht er in die Provinzialhanptstadt, wo ein Verwandter von ihm, der bei der Eisenbahn angestellt ist, in allen Werkstätten hcrnmlüuft, um ihm Arbeit zu verschaffen — vergebens, überall werden Ar¬ beiter entlassen statt angenommen. Er geht nach Hause und arbeitet bei einem Schlosser des Städtchens, wo er wöchentlich 4 Mark und sonst nichts be¬ kommt; bei den Eltern schläft und ißt er. Dann erlangt er auswärts eine Stelle, wo er freie Station (Hundefraß) und wöchentlich 3 Mark bekommt, dabei in der rohesten Weise mißhandelt wird und infolge dessen schon einmal zu einer Kur nach Hanse gemußt hat; er ist trotzdem wieder hingegangen. Aber jedes Menschen Tragkraft hat ihre Grenzen, und so wird er es wohl nicht gar zu lange aushalten. Der hat dann im Notfalle immer noch seine Eltern, bei denen er eine Zuflucht finden kann. Tausende haben keine oder keine solche Eltern und müssen auf die Walze, wo sie sozialer Unrat werden. Von solchen reinlichen Plätzen, wie Kassel einer ist, wird der Unrat weg und allmählich in den Großstädten zusammengefegt. Aber die Molekeln dieses Un¬ rath bleiben denkende und fühlende Menschen, und was sie denken, fühlen und, wo sie zu Tausenden bei einander hocken, sprechen, nud was die denken, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/160>, abgerufen am 23.07.2024.