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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Lage des Bauernstandes haben wir so oft und so ausführlich darge¬
legt, daß wir Anstand nehmen müssen, auch nur Kapitelüberschriften zu wieder¬
holen. Den Bauern, die unter dem eingangs erwähnten Prozesse nicht gelitten
haben, deren Güter hinlänglich groß und nur mäßig oder gar nicht verschuldet
sind, geht es auch heute uoch gut; sollten die Agrarier Recht haben mit ihrer
Behauptung, daß es auch diesem schlecht gehe, dann umso schlimmer für allen
Optimismus, dann wäre das deutsche Volk heute schon verloren. Schlecht geht
es den Bauern, deren Gut zu klein oder überschüttet ist, und den Sprößlingen
ehemaliger Bauern, die als Lohnarbeiter, sei es in der Landwirtschaft, sei es in
der Industrie, ihr Leben fristen müssen. Die große Zahl der Überschüssigen,
die alljährlich von der Landwirtschaft und von der Industrie abgestoßen werden,
macht eine Menge überflüssiger und zum Teil schädlicher Industriell möglich,
z. V. die Buntpapierfabrikation, in der Reklamebilder hergestellt werden, ver¬
mehrt die Zahl der Kneipen, treibt den Gewerben der Schwindler, Kuppler,
"Künstler," unnützen Hcinsirer u. s. w. zahllose Anwärter zu. Das allge¬
meine Ergebnis dieser Entwicklung besteht darin, daß sich die Zahl der Besitz¬
losen, der Abhängigen, der Mittelspersonen stärker vermehrt als die der Be¬
sitzenden, der Unabhängigen, der Produktiven, und wir wiederholen hier, daß
die notwendigen Vermitteler, z. V. die Kolonialwarenhändler und die Verkehrs¬
beamten, die die Kolonialwaren befördern, zu den produktiven, dagegen die
überflüssigen, z. B. der obengenannte Lieferant für die Gefängnisanstalten einer
preußischen Provinz und die Bahnbeamten, die diese Lieferungen hin und her
spazieren fahren müssen, zu den uiivrvduktiveu gehören. Carey, die große
Autorität unsrer Schutzzöllner, hat diesen Verhältnissen seine besondre Auf¬
merksamkeit gewidmet. In seinem Buche 'I.'it<?. H-irmov/ ot' Intörssts variirt
er den Satz: Ein Volk ist desto glücklicher, je kleiner die Zahl der besitzlosen
Lohnarbeiter im Verhältnis zu den Bauern lind Handwerkern, und die Zahl
der Mittelspersonen im Verhältnis zu den eigentlichen Produzenten ist, je
näher der Ambos beim Bergwerk, der Schmied beim Bauer, der Webstuhl
beim Flachs- oder Baumwollenfeld, der Getreidemarkt beim Acker steht oder
liegt; und es ist desto elender, je mehr das umgekehrte Verhältnis vorherrscht.

Was dann die preußische Einkommenstenerstatistik anlangt, so haben wir
früher schon hervorgehoben und müssen wir im Anschluß an das soeben ge¬
sagte wiederholen, daß die Zahl an sich, wenn sie nicht sehr groß oder sehr
klein ist, über die Lage des Steuerpflichtigen gar keine Auskunft giebt. Eine
Vauerufamilie, deren Einkommen auf 2000 Mark geschätzt wird, lebt, wenn
die Frau tüchtig ist, sehr behaglich und erfreut sich, wenn der Mann tüchtig
ist, der größten Existenzsicherheit. Ein Kellnerbursche, der ebensoviel Geld
einnimmt (bei gleichem Einkommen sogar mehr, da daS Einkommen der bäuer¬
lichen Familie zum Teil in Naturalien besteht), vertrödelt das meistens, auch
wenn er nicht besonders liederlich ist, weil er den ganzen Tag herumgehetzt


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Die Lage des Bauernstandes haben wir so oft und so ausführlich darge¬
legt, daß wir Anstand nehmen müssen, auch nur Kapitelüberschriften zu wieder¬
holen. Den Bauern, die unter dem eingangs erwähnten Prozesse nicht gelitten
haben, deren Güter hinlänglich groß und nur mäßig oder gar nicht verschuldet
sind, geht es auch heute uoch gut; sollten die Agrarier Recht haben mit ihrer
Behauptung, daß es auch diesem schlecht gehe, dann umso schlimmer für allen
Optimismus, dann wäre das deutsche Volk heute schon verloren. Schlecht geht
es den Bauern, deren Gut zu klein oder überschüttet ist, und den Sprößlingen
ehemaliger Bauern, die als Lohnarbeiter, sei es in der Landwirtschaft, sei es in
der Industrie, ihr Leben fristen müssen. Die große Zahl der Überschüssigen,
die alljährlich von der Landwirtschaft und von der Industrie abgestoßen werden,
macht eine Menge überflüssiger und zum Teil schädlicher Industriell möglich,
z. V. die Buntpapierfabrikation, in der Reklamebilder hergestellt werden, ver¬
mehrt die Zahl der Kneipen, treibt den Gewerben der Schwindler, Kuppler,
„Künstler," unnützen Hcinsirer u. s. w. zahllose Anwärter zu. Das allge¬
meine Ergebnis dieser Entwicklung besteht darin, daß sich die Zahl der Besitz¬
losen, der Abhängigen, der Mittelspersonen stärker vermehrt als die der Be¬
sitzenden, der Unabhängigen, der Produktiven, und wir wiederholen hier, daß
die notwendigen Vermitteler, z. V. die Kolonialwarenhändler und die Verkehrs¬
beamten, die die Kolonialwaren befördern, zu den produktiven, dagegen die
überflüssigen, z. B. der obengenannte Lieferant für die Gefängnisanstalten einer
preußischen Provinz und die Bahnbeamten, die diese Lieferungen hin und her
spazieren fahren müssen, zu den uiivrvduktiveu gehören. Carey, die große
Autorität unsrer Schutzzöllner, hat diesen Verhältnissen seine besondre Auf¬
merksamkeit gewidmet. In seinem Buche 'I.'it<?. H-irmov/ ot' Intörssts variirt
er den Satz: Ein Volk ist desto glücklicher, je kleiner die Zahl der besitzlosen
Lohnarbeiter im Verhältnis zu den Bauern lind Handwerkern, und die Zahl
der Mittelspersonen im Verhältnis zu den eigentlichen Produzenten ist, je
näher der Ambos beim Bergwerk, der Schmied beim Bauer, der Webstuhl
beim Flachs- oder Baumwollenfeld, der Getreidemarkt beim Acker steht oder
liegt; und es ist desto elender, je mehr das umgekehrte Verhältnis vorherrscht.

Was dann die preußische Einkommenstenerstatistik anlangt, so haben wir
früher schon hervorgehoben und müssen wir im Anschluß an das soeben ge¬
sagte wiederholen, daß die Zahl an sich, wenn sie nicht sehr groß oder sehr
klein ist, über die Lage des Steuerpflichtigen gar keine Auskunft giebt. Eine
Vauerufamilie, deren Einkommen auf 2000 Mark geschätzt wird, lebt, wenn
die Frau tüchtig ist, sehr behaglich und erfreut sich, wenn der Mann tüchtig
ist, der größten Existenzsicherheit. Ein Kellnerbursche, der ebensoviel Geld
einnimmt (bei gleichem Einkommen sogar mehr, da daS Einkommen der bäuer¬
lichen Familie zum Teil in Naturalien besteht), vertrödelt das meistens, auch
wenn er nicht besonders liederlich ist, weil er den ganzen Tag herumgehetzt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/157>, abgerufen am 25.08.2024.