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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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und die Lehrer, zu den gesunden und natürlichen Elementen des Mittelstandes
zu rechnen, wobei jedoch zu bemerken ist, daß Eisenbahn, Post und Telegraphie
nur an sich, keineswegs in dem ganzen Umfange ihrer heutigen Benutzung pro¬
duktiv siud; denn ein großer Teil der Güter wird unnützerweise, zum Schaden
von Produzenten und Konsumenten, spazieren gefahren (so z. B. kauft die
Strafanstalt zu T dem benachbarten Bauer die Kartoffeln, die er anbietet,
nicht ab, sondern dieser muß sie zwölf Meilen weit zum jüdischen Händler in
die Stadt schicken, und von diesem, der sie nach X zurückschickt, nimmt sie dann
die Anstalt im Auftrage des Oberstaatsanwalts); und daß sich die Postbeamten
überarbeiten müssen, um zahllose Stammtischtelegramme, alberne Neujahrs¬
karten u. dergl. zu befördern, ist kein gesunder Zustand. Dagegen sind die
Verwaltuugs-, Gerichts- und Polizeibeamten zwar unter den obwaltenden Um¬
ständen, aber nicht an sich notwendig und nur in sehr uneigentlichen Sinne
produktiv zu nennen; denn Selbstverwaltung ist an sich besser als Verwaltung
durch bezahlte Beamte, und eine Gemeinde, wo gar nicht gestohlen wird -- es
giebt solche in entlegnen Winkeln auch heute noch ---, ist gesünder als eine,
in der eine Schar von Gerichts- und Polizeibeamten damit beschäftigt ist, nicht
etwa Diebstähle zu verhindern, sondern die Diebe zu verfolgen und abzuurteilen.

Für die Entwicklung des Gewerbes wird im vorigen Heft als Muster --
Kassel gewühlt. Die dortigen Verhältnisse, heißt es, könnten für alle mittlern
deutschen Städte, die nicht gerade Fabrikstüdte seien, als typisch gelten. Ja,
wenn es nur nicht gerade die Großstädte, die Fabrikstädte, die Fabrik- und
Grubenbezirke wären, die sür die moderne Entwicklung typisch sind! Sähe es
überall so aus wie in Kassel, Wiesbaden oder Bonn, so hätten wir eben keine
soziale Frage. Die Gewerbestatistik jener Stadt bildet eine ganz hübsche Illu¬
stration unsrer eignen zahlreichen Ausführungen. Wir haben u. ni. dargelegt, daß
die Borstellung, als ob im Gewerbe oder sonstwo die Lebensformen wie Guck-
kastenbilder aufeinanderfolgten, sodaß jede frühere durch die spätere verdrängt
würde, irrig sei; daß vielmehr die ältern neben den jüngern auf dem Welt¬
theater blieben, und eben in der so sich entfaltenden Fülle der Kulturfortschritt
bestehe. Wir haben die Gewerbe durchgemustert und gezeigt, welche Hand¬
werke von der Maschine, oder vom Großkapital, oder von beiden bedroht
seien, und welche nicht; welche verschwinden müßten, welche eingeschränkt
würden, welche unter allen Umständen am Leben blieben, welche neu hinzu¬
kamen, in welchen Gewerken die Großindustrie notwendig, in welchen möglich
aber überflüssig, in welchen unanwendbar sei. Wir haben gezeigt, daß "die
Not des Handwerks" eine ebenso verderbliche Redensart sei wie die "Not
der Landwirtschaft," weil sie in ihrer Unbestimmtheit eine wüste, plan- und
zwecklose Agitation hervorrufe, wobei die Hauptsache unterbleibe, nämlich die
Unterscheidung der Gewerbe in bedrohte und nichtbedrohte, die Untersuchung
der in den verschiednen Fällen sehr verschiednen Ursachen der Bedrohung und


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und die Lehrer, zu den gesunden und natürlichen Elementen des Mittelstandes
zu rechnen, wobei jedoch zu bemerken ist, daß Eisenbahn, Post und Telegraphie
nur an sich, keineswegs in dem ganzen Umfange ihrer heutigen Benutzung pro¬
duktiv siud; denn ein großer Teil der Güter wird unnützerweise, zum Schaden
von Produzenten und Konsumenten, spazieren gefahren (so z. B. kauft die
Strafanstalt zu T dem benachbarten Bauer die Kartoffeln, die er anbietet,
nicht ab, sondern dieser muß sie zwölf Meilen weit zum jüdischen Händler in
die Stadt schicken, und von diesem, der sie nach X zurückschickt, nimmt sie dann
die Anstalt im Auftrage des Oberstaatsanwalts); und daß sich die Postbeamten
überarbeiten müssen, um zahllose Stammtischtelegramme, alberne Neujahrs¬
karten u. dergl. zu befördern, ist kein gesunder Zustand. Dagegen sind die
Verwaltuugs-, Gerichts- und Polizeibeamten zwar unter den obwaltenden Um¬
ständen, aber nicht an sich notwendig und nur in sehr uneigentlichen Sinne
produktiv zu nennen; denn Selbstverwaltung ist an sich besser als Verwaltung
durch bezahlte Beamte, und eine Gemeinde, wo gar nicht gestohlen wird — es
giebt solche in entlegnen Winkeln auch heute noch -—, ist gesünder als eine,
in der eine Schar von Gerichts- und Polizeibeamten damit beschäftigt ist, nicht
etwa Diebstähle zu verhindern, sondern die Diebe zu verfolgen und abzuurteilen.

Für die Entwicklung des Gewerbes wird im vorigen Heft als Muster —
Kassel gewühlt. Die dortigen Verhältnisse, heißt es, könnten für alle mittlern
deutschen Städte, die nicht gerade Fabrikstüdte seien, als typisch gelten. Ja,
wenn es nur nicht gerade die Großstädte, die Fabrikstädte, die Fabrik- und
Grubenbezirke wären, die sür die moderne Entwicklung typisch sind! Sähe es
überall so aus wie in Kassel, Wiesbaden oder Bonn, so hätten wir eben keine
soziale Frage. Die Gewerbestatistik jener Stadt bildet eine ganz hübsche Illu¬
stration unsrer eignen zahlreichen Ausführungen. Wir haben u. ni. dargelegt, daß
die Borstellung, als ob im Gewerbe oder sonstwo die Lebensformen wie Guck-
kastenbilder aufeinanderfolgten, sodaß jede frühere durch die spätere verdrängt
würde, irrig sei; daß vielmehr die ältern neben den jüngern auf dem Welt¬
theater blieben, und eben in der so sich entfaltenden Fülle der Kulturfortschritt
bestehe. Wir haben die Gewerbe durchgemustert und gezeigt, welche Hand¬
werke von der Maschine, oder vom Großkapital, oder von beiden bedroht
seien, und welche nicht; welche verschwinden müßten, welche eingeschränkt
würden, welche unter allen Umständen am Leben blieben, welche neu hinzu¬
kamen, in welchen Gewerken die Großindustrie notwendig, in welchen möglich
aber überflüssig, in welchen unanwendbar sei. Wir haben gezeigt, daß „die
Not des Handwerks" eine ebenso verderbliche Redensart sei wie die „Not
der Landwirtschaft," weil sie in ihrer Unbestimmtheit eine wüste, plan- und
zwecklose Agitation hervorrufe, wobei die Hauptsache unterbleibe, nämlich die
Unterscheidung der Gewerbe in bedrohte und nichtbedrohte, die Untersuchung
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[0155] Lin kleines Repetitorium und die Lehrer, zu den gesunden und natürlichen Elementen des Mittelstandes zu rechnen, wobei jedoch zu bemerken ist, daß Eisenbahn, Post und Telegraphie nur an sich, keineswegs in dem ganzen Umfange ihrer heutigen Benutzung pro¬ duktiv siud; denn ein großer Teil der Güter wird unnützerweise, zum Schaden von Produzenten und Konsumenten, spazieren gefahren (so z. B. kauft die Strafanstalt zu T dem benachbarten Bauer die Kartoffeln, die er anbietet, nicht ab, sondern dieser muß sie zwölf Meilen weit zum jüdischen Händler in die Stadt schicken, und von diesem, der sie nach X zurückschickt, nimmt sie dann die Anstalt im Auftrage des Oberstaatsanwalts); und daß sich die Postbeamten überarbeiten müssen, um zahllose Stammtischtelegramme, alberne Neujahrs¬ karten u. dergl. zu befördern, ist kein gesunder Zustand. Dagegen sind die Verwaltuugs-, Gerichts- und Polizeibeamten zwar unter den obwaltenden Um¬ ständen, aber nicht an sich notwendig und nur in sehr uneigentlichen Sinne produktiv zu nennen; denn Selbstverwaltung ist an sich besser als Verwaltung durch bezahlte Beamte, und eine Gemeinde, wo gar nicht gestohlen wird — es giebt solche in entlegnen Winkeln auch heute noch -—, ist gesünder als eine, in der eine Schar von Gerichts- und Polizeibeamten damit beschäftigt ist, nicht etwa Diebstähle zu verhindern, sondern die Diebe zu verfolgen und abzuurteilen. Für die Entwicklung des Gewerbes wird im vorigen Heft als Muster — Kassel gewühlt. Die dortigen Verhältnisse, heißt es, könnten für alle mittlern deutschen Städte, die nicht gerade Fabrikstüdte seien, als typisch gelten. Ja, wenn es nur nicht gerade die Großstädte, die Fabrikstädte, die Fabrik- und Grubenbezirke wären, die sür die moderne Entwicklung typisch sind! Sähe es überall so aus wie in Kassel, Wiesbaden oder Bonn, so hätten wir eben keine soziale Frage. Die Gewerbestatistik jener Stadt bildet eine ganz hübsche Illu¬ stration unsrer eignen zahlreichen Ausführungen. Wir haben u. ni. dargelegt, daß die Borstellung, als ob im Gewerbe oder sonstwo die Lebensformen wie Guck- kastenbilder aufeinanderfolgten, sodaß jede frühere durch die spätere verdrängt würde, irrig sei; daß vielmehr die ältern neben den jüngern auf dem Welt¬ theater blieben, und eben in der so sich entfaltenden Fülle der Kulturfortschritt bestehe. Wir haben die Gewerbe durchgemustert und gezeigt, welche Hand¬ werke von der Maschine, oder vom Großkapital, oder von beiden bedroht seien, und welche nicht; welche verschwinden müßten, welche eingeschränkt würden, welche unter allen Umständen am Leben blieben, welche neu hinzu¬ kamen, in welchen Gewerken die Großindustrie notwendig, in welchen möglich aber überflüssig, in welchen unanwendbar sei. Wir haben gezeigt, daß „die Not des Handwerks" eine ebenso verderbliche Redensart sei wie die „Not der Landwirtschaft," weil sie in ihrer Unbestimmtheit eine wüste, plan- und zwecklose Agitation hervorrufe, wobei die Hauptsache unterbleibe, nämlich die Unterscheidung der Gewerbe in bedrohte und nichtbedrohte, die Untersuchung der in den verschiednen Fällen sehr verschiednen Ursachen der Bedrohung und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/155>, abgerufen am 23.07.2024.