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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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während wir herrlich und in Freuden leben. Werden wir schließlich einmal
eingesperrt, so leben wir auf Kosten der Gestohlenen." Im Interesse der
gründlichern Ausbildung in seinem Berufe bedauert er dann noch, daß er nicht
fünf Jahre bekommen habe statt eines Jahres.

Ein philosophischer Verbrecher höherer Art war der aus Bulwers Roman
bekannte Eugen Aram, der sich beim Spazierengehen in Acht nahm, kein Würm¬
lein zu zertreten, der aber an einem seiner Ansicht nach der Welt unnützen
Menschen einen Raubmord verübte, um sich die Mittel zu einem der Wissen¬
schaft und dem Wohle der Menschheit gewidmeten Leben zu verschaffen. Ellis
zählt ihn mit Unrecht in einer Reihe von Verbrechern auf, die Grausamkeit
mit Sentimentalität verbanden. In Uräus Charakter liegt kein Widerspruch;
er handelte so, wie feinfühlende Fürsten bei Ausübung ihrer Strafgewalt oder
als Eroberer handeln. Er unterlag nur dein Irrtum, daß auch dem Privat¬
mann erlaubt sein könne, was nach der gewöhnlichen Ansicht nur dem Staat
und der Obrigkeit erlaubt ist. Fanatiker der Konsequenz wie Tolstoi lassen
allerdings den Unterschied nicht gelten und verurteilen nicht allein die Eugen
Uräus, sondern alle heutigen Staatsregierungen als unmoralisch. Mischungen
entgegengesetzter Gemütseigenschaften, z. B. eben von Grausamkeit und Em¬
pfindsamkeit, kommen allerdings vor, aber auch in dieser Beziehung ist der
Widerspruch, den die von Ellis mitgeteilten Beobachtungen zu enthalten scheinen,
meistens nur scheinbar. Wenn einmal von der völligen seelischen Unempfindlich-
keit der Verbrecher gesprochen wird, und dann von ihrer großen Empfänglichkeit
für religiösen Zuspruch, so haben wir, abgesehen von den Fällen berechneter
Heuchelei, an verschiedne Personen zu denken. Wo wir nicht bloß Äußerungen
der Empfindsamkeit, sondern feinster und edelster Empfindung begegnen, da ist
es klar, daß wir es mit einem von Natur edeln Menschen zu thun haben, der
nur durch Leidenschaft, Verstandesverwirrung oder ungünstige Lebensverhältnisse
zum Verbrecher geworden ist. Ein höchst merkwürdiges Beispiel, das Ellis
mitteilt, ist folgendes. Die Gefangnen der Musteranstalt Elmira im Staate
Newhork geben eine Zeitung heraus, die sich vou mancher andern Zeitung
"vorteilhaft unterscheidet." Für dieses Blatt hat ein achtzehnjähriger Ein¬
brecher eine Geschichte geschrieben: Gott und das Rotkehlchen. Darin erzählt
er, er sei einst beim Gesang eines solchen Tierchens eingeschlafen und habe
geträumt, er befinde sich an der See. Auf dem Grasplatz vor einem Hause
habe er ein Rotkehlchen herumhüpfen sehen, Futter sür seine Jungen suchend.
Da habe sich der Himmel verdüstert; ein Sturm habe sich erhoben und das
Tierchen hinausgeführt über den Ozean. Sein verzweifelter Kampf wird des
längern beschrieben. "Sein entsetzter Schrei, lautet der Schluß, schien zu sagen:
"O, wo finden meine müden Flügel Ruhe!" Aber der brausende Ozean gab
ihm keine Antwort, und so konnte es weiter nichts thun, als immer weiter
fliegen, bis zur Dunkelheit, wo es, ganz entkräftet, in die grausamen Wellen


während wir herrlich und in Freuden leben. Werden wir schließlich einmal
eingesperrt, so leben wir auf Kosten der Gestohlenen." Im Interesse der
gründlichern Ausbildung in seinem Berufe bedauert er dann noch, daß er nicht
fünf Jahre bekommen habe statt eines Jahres.

Ein philosophischer Verbrecher höherer Art war der aus Bulwers Roman
bekannte Eugen Aram, der sich beim Spazierengehen in Acht nahm, kein Würm¬
lein zu zertreten, der aber an einem seiner Ansicht nach der Welt unnützen
Menschen einen Raubmord verübte, um sich die Mittel zu einem der Wissen¬
schaft und dem Wohle der Menschheit gewidmeten Leben zu verschaffen. Ellis
zählt ihn mit Unrecht in einer Reihe von Verbrechern auf, die Grausamkeit
mit Sentimentalität verbanden. In Uräus Charakter liegt kein Widerspruch;
er handelte so, wie feinfühlende Fürsten bei Ausübung ihrer Strafgewalt oder
als Eroberer handeln. Er unterlag nur dein Irrtum, daß auch dem Privat¬
mann erlaubt sein könne, was nach der gewöhnlichen Ansicht nur dem Staat
und der Obrigkeit erlaubt ist. Fanatiker der Konsequenz wie Tolstoi lassen
allerdings den Unterschied nicht gelten und verurteilen nicht allein die Eugen
Uräus, sondern alle heutigen Staatsregierungen als unmoralisch. Mischungen
entgegengesetzter Gemütseigenschaften, z. B. eben von Grausamkeit und Em¬
pfindsamkeit, kommen allerdings vor, aber auch in dieser Beziehung ist der
Widerspruch, den die von Ellis mitgeteilten Beobachtungen zu enthalten scheinen,
meistens nur scheinbar. Wenn einmal von der völligen seelischen Unempfindlich-
keit der Verbrecher gesprochen wird, und dann von ihrer großen Empfänglichkeit
für religiösen Zuspruch, so haben wir, abgesehen von den Fällen berechneter
Heuchelei, an verschiedne Personen zu denken. Wo wir nicht bloß Äußerungen
der Empfindsamkeit, sondern feinster und edelster Empfindung begegnen, da ist
es klar, daß wir es mit einem von Natur edeln Menschen zu thun haben, der
nur durch Leidenschaft, Verstandesverwirrung oder ungünstige Lebensverhältnisse
zum Verbrecher geworden ist. Ein höchst merkwürdiges Beispiel, das Ellis
mitteilt, ist folgendes. Die Gefangnen der Musteranstalt Elmira im Staate
Newhork geben eine Zeitung heraus, die sich vou mancher andern Zeitung
„vorteilhaft unterscheidet." Für dieses Blatt hat ein achtzehnjähriger Ein¬
brecher eine Geschichte geschrieben: Gott und das Rotkehlchen. Darin erzählt
er, er sei einst beim Gesang eines solchen Tierchens eingeschlafen und habe
geträumt, er befinde sich an der See. Auf dem Grasplatz vor einem Hause
habe er ein Rotkehlchen herumhüpfen sehen, Futter sür seine Jungen suchend.
Da habe sich der Himmel verdüstert; ein Sturm habe sich erhoben und das
Tierchen hinausgeführt über den Ozean. Sein verzweifelter Kampf wird des
längern beschrieben. „Sein entsetzter Schrei, lautet der Schluß, schien zu sagen:
»O, wo finden meine müden Flügel Ruhe!« Aber der brausende Ozean gab
ihm keine Antwort, und so konnte es weiter nichts thun, als immer weiter
fliegen, bis zur Dunkelheit, wo es, ganz entkräftet, in die grausamen Wellen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/123>, abgerufen am 25.08.2024.