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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Natur und Behandlung des Verbrechers

leben. An andern Stellen hebt er richtig hervor, man müsse mit dem Ge¬
brauche des Wortes Verbrecher sehr vorsichtig sein, weil z. B. die homerischen
Helden, wenn sie heute lebten, wahrscheinlich als Verbrecher gelten würden.
Er hätte aber nicht so weit zurückzugehen brauchen: von den Germanen der
Völkerwanderung, von den Rittern, die ihr Fehderecht ausübten, von den
deutschen Fürsten und den englischen Großen um das Jahr 1700, die mit
wenigen Ausnahmen notorische Trunkenbolde waren, von den meisten euro¬
päischen Großen des vorigen Jahrhunderts, die durch ihre Ausschweifungen
öffentliches Ärgernis gaben, gilt dasselbe, und teilweise in noch höherm Grade.
In einigen Gegenden Italiens und auf Korsika, wo das Räuberleben und die
Blutrache noch durch die Volkssitte gerechtfertigt werden, zeigen die Räuber
und die Mörder nicht den Charakter des Verbrechers, sondern den des Gentleman.
Diese Sitten erhalten sich namentlich in solchen Ländern, wo der Staat so
schlecht organisirt ist, daß das Volk auf Selbsthilfe augewiesen bleibt; Camvrra
und Maffia sind nichts als Staaten in einem Staate, der seiner Aufgabe
nicht gewachsen ist. Ähnlich verhält es sich mit Jonathan Wild, dem König
der Diebe, der 1725 gehängt worden ist. Auch dieser Mann hatte eine voll¬
ständige Camorra eingerichtet, die Diebe und Räuber von ganz England
organisirt und "arbeitete" im Einvernehmen mit der Polizei und mit dem
Publikum, indem die Bestohlenen durch ihn ihr Eigentum gegen eine ange¬
messene Entschädigung wiederbekamen.

In neuerer Zeit machen sich begabtere Verbrecher, namentlich in Italien
und Frankreich, eine Philosophie zurecht, die der politische Zustand dieser
beiden Länder einigermaßen rechtfertigt. Eine Gefängnisinschrift, die Lombroso
mitteilt, lautet: "Ich sitze hier, weil ich sechs Eier gestohlen habe; Minister,
die täglich Millionen stehlen, werden mit Ehren überhäuft. Armes Italien!"
Eine andre Inschrift sagt: "Ich kann nur raten, nicht Privatpersonen, sondern
öffentliche Kassen zu bestehlen; hätte ich das auch gethan, so säße ich nicht
hier." Dem Polizeipräfekten Gisquet sagte ein Gefangner: "Wenn ich nicht
aus inneren Drauge Dieb wäre, so würde ich es aus Berechnung sein, denn
nachdem ich die Licht- und Schattenseiten geprüft habe, halte ich das Stehlen
für das zweckmäßigere. Was wäre unter ehrlichen Leuten aus mir geworden?
Vielleicht ein Kommis mit 600 Franks Gehalt und der Aussicht, nach einem
mühevollen Leben im Hospital zu sterben. Nehmen Sie die Menschen en masso,
und sagen Sie, ob nicht alle Sklaven sind? Wir, in unserm Berufe, hängen
von niemand ab; wir genießen die Früchte unsrer Erfahrung und Geschicklich-
keit selbst. Ich weiß, daß ich mein Leben möglicherweise im Gefängnis be¬
schließen werde, aber da von den 18000 Pariser Dieben kaum ein Zehntel
gefangen sind, so kommt im Durchschnitt immer ein Jahr Haft ans neun Jahre
Freiheit, und ab und zu kommt ja für jeden Arbeiter eine Zeit, wo er keine
Beschäftigung hat. Und übrigens gehts dem Arbeiter in der Freiheit kümmerlich,


Natur und Behandlung des Verbrechers

leben. An andern Stellen hebt er richtig hervor, man müsse mit dem Ge¬
brauche des Wortes Verbrecher sehr vorsichtig sein, weil z. B. die homerischen
Helden, wenn sie heute lebten, wahrscheinlich als Verbrecher gelten würden.
Er hätte aber nicht so weit zurückzugehen brauchen: von den Germanen der
Völkerwanderung, von den Rittern, die ihr Fehderecht ausübten, von den
deutschen Fürsten und den englischen Großen um das Jahr 1700, die mit
wenigen Ausnahmen notorische Trunkenbolde waren, von den meisten euro¬
päischen Großen des vorigen Jahrhunderts, die durch ihre Ausschweifungen
öffentliches Ärgernis gaben, gilt dasselbe, und teilweise in noch höherm Grade.
In einigen Gegenden Italiens und auf Korsika, wo das Räuberleben und die
Blutrache noch durch die Volkssitte gerechtfertigt werden, zeigen die Räuber
und die Mörder nicht den Charakter des Verbrechers, sondern den des Gentleman.
Diese Sitten erhalten sich namentlich in solchen Ländern, wo der Staat so
schlecht organisirt ist, daß das Volk auf Selbsthilfe augewiesen bleibt; Camvrra
und Maffia sind nichts als Staaten in einem Staate, der seiner Aufgabe
nicht gewachsen ist. Ähnlich verhält es sich mit Jonathan Wild, dem König
der Diebe, der 1725 gehängt worden ist. Auch dieser Mann hatte eine voll¬
ständige Camorra eingerichtet, die Diebe und Räuber von ganz England
organisirt und „arbeitete" im Einvernehmen mit der Polizei und mit dem
Publikum, indem die Bestohlenen durch ihn ihr Eigentum gegen eine ange¬
messene Entschädigung wiederbekamen.

In neuerer Zeit machen sich begabtere Verbrecher, namentlich in Italien
und Frankreich, eine Philosophie zurecht, die der politische Zustand dieser
beiden Länder einigermaßen rechtfertigt. Eine Gefängnisinschrift, die Lombroso
mitteilt, lautet: „Ich sitze hier, weil ich sechs Eier gestohlen habe; Minister,
die täglich Millionen stehlen, werden mit Ehren überhäuft. Armes Italien!"
Eine andre Inschrift sagt: „Ich kann nur raten, nicht Privatpersonen, sondern
öffentliche Kassen zu bestehlen; hätte ich das auch gethan, so säße ich nicht
hier." Dem Polizeipräfekten Gisquet sagte ein Gefangner: „Wenn ich nicht
aus inneren Drauge Dieb wäre, so würde ich es aus Berechnung sein, denn
nachdem ich die Licht- und Schattenseiten geprüft habe, halte ich das Stehlen
für das zweckmäßigere. Was wäre unter ehrlichen Leuten aus mir geworden?
Vielleicht ein Kommis mit 600 Franks Gehalt und der Aussicht, nach einem
mühevollen Leben im Hospital zu sterben. Nehmen Sie die Menschen en masso,
und sagen Sie, ob nicht alle Sklaven sind? Wir, in unserm Berufe, hängen
von niemand ab; wir genießen die Früchte unsrer Erfahrung und Geschicklich-
keit selbst. Ich weiß, daß ich mein Leben möglicherweise im Gefängnis be¬
schließen werde, aber da von den 18000 Pariser Dieben kaum ein Zehntel
gefangen sind, so kommt im Durchschnitt immer ein Jahr Haft ans neun Jahre
Freiheit, und ab und zu kommt ja für jeden Arbeiter eine Zeit, wo er keine
Beschäftigung hat. Und übrigens gehts dem Arbeiter in der Freiheit kümmerlich,


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[0122] Natur und Behandlung des Verbrechers leben. An andern Stellen hebt er richtig hervor, man müsse mit dem Ge¬ brauche des Wortes Verbrecher sehr vorsichtig sein, weil z. B. die homerischen Helden, wenn sie heute lebten, wahrscheinlich als Verbrecher gelten würden. Er hätte aber nicht so weit zurückzugehen brauchen: von den Germanen der Völkerwanderung, von den Rittern, die ihr Fehderecht ausübten, von den deutschen Fürsten und den englischen Großen um das Jahr 1700, die mit wenigen Ausnahmen notorische Trunkenbolde waren, von den meisten euro¬ päischen Großen des vorigen Jahrhunderts, die durch ihre Ausschweifungen öffentliches Ärgernis gaben, gilt dasselbe, und teilweise in noch höherm Grade. In einigen Gegenden Italiens und auf Korsika, wo das Räuberleben und die Blutrache noch durch die Volkssitte gerechtfertigt werden, zeigen die Räuber und die Mörder nicht den Charakter des Verbrechers, sondern den des Gentleman. Diese Sitten erhalten sich namentlich in solchen Ländern, wo der Staat so schlecht organisirt ist, daß das Volk auf Selbsthilfe augewiesen bleibt; Camvrra und Maffia sind nichts als Staaten in einem Staate, der seiner Aufgabe nicht gewachsen ist. Ähnlich verhält es sich mit Jonathan Wild, dem König der Diebe, der 1725 gehängt worden ist. Auch dieser Mann hatte eine voll¬ ständige Camorra eingerichtet, die Diebe und Räuber von ganz England organisirt und „arbeitete" im Einvernehmen mit der Polizei und mit dem Publikum, indem die Bestohlenen durch ihn ihr Eigentum gegen eine ange¬ messene Entschädigung wiederbekamen. In neuerer Zeit machen sich begabtere Verbrecher, namentlich in Italien und Frankreich, eine Philosophie zurecht, die der politische Zustand dieser beiden Länder einigermaßen rechtfertigt. Eine Gefängnisinschrift, die Lombroso mitteilt, lautet: „Ich sitze hier, weil ich sechs Eier gestohlen habe; Minister, die täglich Millionen stehlen, werden mit Ehren überhäuft. Armes Italien!" Eine andre Inschrift sagt: „Ich kann nur raten, nicht Privatpersonen, sondern öffentliche Kassen zu bestehlen; hätte ich das auch gethan, so säße ich nicht hier." Dem Polizeipräfekten Gisquet sagte ein Gefangner: „Wenn ich nicht aus inneren Drauge Dieb wäre, so würde ich es aus Berechnung sein, denn nachdem ich die Licht- und Schattenseiten geprüft habe, halte ich das Stehlen für das zweckmäßigere. Was wäre unter ehrlichen Leuten aus mir geworden? Vielleicht ein Kommis mit 600 Franks Gehalt und der Aussicht, nach einem mühevollen Leben im Hospital zu sterben. Nehmen Sie die Menschen en masso, und sagen Sie, ob nicht alle Sklaven sind? Wir, in unserm Berufe, hängen von niemand ab; wir genießen die Früchte unsrer Erfahrung und Geschicklich- keit selbst. Ich weiß, daß ich mein Leben möglicherweise im Gefängnis be¬ schließen werde, aber da von den 18000 Pariser Dieben kaum ein Zehntel gefangen sind, so kommt im Durchschnitt immer ein Jahr Haft ans neun Jahre Freiheit, und ab und zu kommt ja für jeden Arbeiter eine Zeit, wo er keine Beschäftigung hat. Und übrigens gehts dem Arbeiter in der Freiheit kümmerlich,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/122>, abgerufen am 23.07.2024.