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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Natur und Behandlung des Verbrechers

darauf hingewiesen. Unsers Erachtens würde die Übersicht, die allerdings
wegen der Verflechtung der verschiednen Entstehungsursachen der Verbrechen
und der verschiednen Gruppen der Verbrecher sehr schwierig ist, klarer aus¬
gefallen sein, wenn die S. 27 angeführten drei Hauptklassen von Ursachen:
kosmische (Temperatur, Jahreszeit, Klima u. s. w.), biologische (Vererbung,
Volkscharakter) und soziale, der Einteilung des Buches zu Grunde gelegt
worden wären, um so mehr, als die verschiedne Schätzung des Gewichts dieser
Ursachenklassen zur Spaltung der Kriminalanthropologen in zwei Schulen ge¬
führt hat, von denen die eine die biologischen Einflüsse sür ausschlaggebend
hält, wahrend die andre das Hauptgewicht auf die kosmischen und sozialen legt.

So interessant die beiden Kapitel von den Merkmalen des Verbrecher¬
typus sind, das nähere Eingehen darauf können wir uns ersparen, da Ellis
am Schluß des Abschnitts über die Physiognomien gesteht: "Der heimliche
Verbrecher kann sich damit trösten, daß wir vorläufig noch kein unfehlbares
Kennzeichen haben, vermöge dessen sein Verbrechen von seinem Gesichte ab¬
gelesen werden könnte." Und Virchow hat jüngst über die Anthropologie im
allgemeinen geurteilt, wir wüßten darin heute weniger als noch vor ein paar
Jahren. Ist doch die Einsicht, daß man nichts weiß und nichts wissen wird,
die gewöhnliche bittere Frucht menschlichen Forschens; nur die Arten von
Forschungen, die zum bessern Können führen, liefern positive Ergebnisse, und
auf solche wird sich auch hier die Aufmerksamkeit der Gelehrten zu richten
haben. Alle die unzähligen Messungen und Wägungen. die Lombroso und
seine vielen Gehilfen an Stirnen, Nasen, Ohren, Hirnschalen, Gehirnen, Armen,
Händen, Beinen u. s. w. von Verbrechern vornehmen, haben teils nichts
sicheres ergeben, teils nur Erfahrungen bestätigt, die der verständige Beob¬
achter des Lebens auch ohne wissenschaftliche Hilfsmittel macht. Wie wenig
Gewichtsnnterschiede der Gehirne zu bedeuten haben, das beweist nach Ellis
eignen Worten schon der Umstand, daß Gambettas Gehirn nicht schwerer war
als das eines Mikrozephalen Idioten, und mit großen abstehenden Ohren, die
zum Verbrechertypus gehören sollen, war einer der edelsten Männer verunziert,
die der Versasser dieses Aufsatzes in seinem Leben kennen gelernt hat. Lombroso
hat zu seiner Überraschung den Verbrechertypus, den er ermittelt zu haben
glaubt, auch an unbestraften Personen gefunden. Uns überrascht das nicht
um mindesten; wahrscheinlich würde er ihn an sehr vielen Personen finden,
wenn sich Leute, die nicht im Gefängnisse sitzen, zu solchen Untersuchungen
hergaben. Denn erstens können Leidenschaften, die leicht zum Verbrecher
macheu, niedergekämpft und gezügelt werden, zweitens kommen glücklicherweise
viele Menschen gar nicht in Lagen, die zum Verbrechen verleiten oder treiben,
drittens laufen, besonders in Italien, die größten Spitzbuben frei herum, und
viertens lassen es die widersprechenden Ergebnisse der Kriminalanthropologie
zweifelhaft, ob es überhaupt einen körperlichen Verbrechertypus giebt. Den


Natur und Behandlung des Verbrechers

darauf hingewiesen. Unsers Erachtens würde die Übersicht, die allerdings
wegen der Verflechtung der verschiednen Entstehungsursachen der Verbrechen
und der verschiednen Gruppen der Verbrecher sehr schwierig ist, klarer aus¬
gefallen sein, wenn die S. 27 angeführten drei Hauptklassen von Ursachen:
kosmische (Temperatur, Jahreszeit, Klima u. s. w.), biologische (Vererbung,
Volkscharakter) und soziale, der Einteilung des Buches zu Grunde gelegt
worden wären, um so mehr, als die verschiedne Schätzung des Gewichts dieser
Ursachenklassen zur Spaltung der Kriminalanthropologen in zwei Schulen ge¬
führt hat, von denen die eine die biologischen Einflüsse sür ausschlaggebend
hält, wahrend die andre das Hauptgewicht auf die kosmischen und sozialen legt.

So interessant die beiden Kapitel von den Merkmalen des Verbrecher¬
typus sind, das nähere Eingehen darauf können wir uns ersparen, da Ellis
am Schluß des Abschnitts über die Physiognomien gesteht: „Der heimliche
Verbrecher kann sich damit trösten, daß wir vorläufig noch kein unfehlbares
Kennzeichen haben, vermöge dessen sein Verbrechen von seinem Gesichte ab¬
gelesen werden könnte." Und Virchow hat jüngst über die Anthropologie im
allgemeinen geurteilt, wir wüßten darin heute weniger als noch vor ein paar
Jahren. Ist doch die Einsicht, daß man nichts weiß und nichts wissen wird,
die gewöhnliche bittere Frucht menschlichen Forschens; nur die Arten von
Forschungen, die zum bessern Können führen, liefern positive Ergebnisse, und
auf solche wird sich auch hier die Aufmerksamkeit der Gelehrten zu richten
haben. Alle die unzähligen Messungen und Wägungen. die Lombroso und
seine vielen Gehilfen an Stirnen, Nasen, Ohren, Hirnschalen, Gehirnen, Armen,
Händen, Beinen u. s. w. von Verbrechern vornehmen, haben teils nichts
sicheres ergeben, teils nur Erfahrungen bestätigt, die der verständige Beob¬
achter des Lebens auch ohne wissenschaftliche Hilfsmittel macht. Wie wenig
Gewichtsnnterschiede der Gehirne zu bedeuten haben, das beweist nach Ellis
eignen Worten schon der Umstand, daß Gambettas Gehirn nicht schwerer war
als das eines Mikrozephalen Idioten, und mit großen abstehenden Ohren, die
zum Verbrechertypus gehören sollen, war einer der edelsten Männer verunziert,
die der Versasser dieses Aufsatzes in seinem Leben kennen gelernt hat. Lombroso
hat zu seiner Überraschung den Verbrechertypus, den er ermittelt zu haben
glaubt, auch an unbestraften Personen gefunden. Uns überrascht das nicht
um mindesten; wahrscheinlich würde er ihn an sehr vielen Personen finden,
wenn sich Leute, die nicht im Gefängnisse sitzen, zu solchen Untersuchungen
hergaben. Denn erstens können Leidenschaften, die leicht zum Verbrecher
macheu, niedergekämpft und gezügelt werden, zweitens kommen glücklicherweise
viele Menschen gar nicht in Lagen, die zum Verbrechen verleiten oder treiben,
drittens laufen, besonders in Italien, die größten Spitzbuben frei herum, und
viertens lassen es die widersprechenden Ergebnisse der Kriminalanthropologie
zweifelhaft, ob es überhaupt einen körperlichen Verbrechertypus giebt. Den


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[0119] Natur und Behandlung des Verbrechers darauf hingewiesen. Unsers Erachtens würde die Übersicht, die allerdings wegen der Verflechtung der verschiednen Entstehungsursachen der Verbrechen und der verschiednen Gruppen der Verbrecher sehr schwierig ist, klarer aus¬ gefallen sein, wenn die S. 27 angeführten drei Hauptklassen von Ursachen: kosmische (Temperatur, Jahreszeit, Klima u. s. w.), biologische (Vererbung, Volkscharakter) und soziale, der Einteilung des Buches zu Grunde gelegt worden wären, um so mehr, als die verschiedne Schätzung des Gewichts dieser Ursachenklassen zur Spaltung der Kriminalanthropologen in zwei Schulen ge¬ führt hat, von denen die eine die biologischen Einflüsse sür ausschlaggebend hält, wahrend die andre das Hauptgewicht auf die kosmischen und sozialen legt. So interessant die beiden Kapitel von den Merkmalen des Verbrecher¬ typus sind, das nähere Eingehen darauf können wir uns ersparen, da Ellis am Schluß des Abschnitts über die Physiognomien gesteht: „Der heimliche Verbrecher kann sich damit trösten, daß wir vorläufig noch kein unfehlbares Kennzeichen haben, vermöge dessen sein Verbrechen von seinem Gesichte ab¬ gelesen werden könnte." Und Virchow hat jüngst über die Anthropologie im allgemeinen geurteilt, wir wüßten darin heute weniger als noch vor ein paar Jahren. Ist doch die Einsicht, daß man nichts weiß und nichts wissen wird, die gewöhnliche bittere Frucht menschlichen Forschens; nur die Arten von Forschungen, die zum bessern Können führen, liefern positive Ergebnisse, und auf solche wird sich auch hier die Aufmerksamkeit der Gelehrten zu richten haben. Alle die unzähligen Messungen und Wägungen. die Lombroso und seine vielen Gehilfen an Stirnen, Nasen, Ohren, Hirnschalen, Gehirnen, Armen, Händen, Beinen u. s. w. von Verbrechern vornehmen, haben teils nichts sicheres ergeben, teils nur Erfahrungen bestätigt, die der verständige Beob¬ achter des Lebens auch ohne wissenschaftliche Hilfsmittel macht. Wie wenig Gewichtsnnterschiede der Gehirne zu bedeuten haben, das beweist nach Ellis eignen Worten schon der Umstand, daß Gambettas Gehirn nicht schwerer war als das eines Mikrozephalen Idioten, und mit großen abstehenden Ohren, die zum Verbrechertypus gehören sollen, war einer der edelsten Männer verunziert, die der Versasser dieses Aufsatzes in seinem Leben kennen gelernt hat. Lombroso hat zu seiner Überraschung den Verbrechertypus, den er ermittelt zu haben glaubt, auch an unbestraften Personen gefunden. Uns überrascht das nicht um mindesten; wahrscheinlich würde er ihn an sehr vielen Personen finden, wenn sich Leute, die nicht im Gefängnisse sitzen, zu solchen Untersuchungen hergaben. Denn erstens können Leidenschaften, die leicht zum Verbrecher macheu, niedergekämpft und gezügelt werden, zweitens kommen glücklicherweise viele Menschen gar nicht in Lagen, die zum Verbrechen verleiten oder treiben, drittens laufen, besonders in Italien, die größten Spitzbuben frei herum, und viertens lassen es die widersprechenden Ergebnisse der Kriminalanthropologie zweifelhaft, ob es überhaupt einen körperlichen Verbrechertypus giebt. Den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/119>, abgerufen am 23.07.2024.