Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen? und Schneider weniger vorhanden sind, im Vergleich mit den unzähligen Ge¬ Zur Ergänzung dieser Darstellung müßten wir freilich auch noch die länd¬ Es giebt aber noch ein weiteres Mittel, die Verteilung des Wohl¬ Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen? und Schneider weniger vorhanden sind, im Vergleich mit den unzähligen Ge¬ Zur Ergänzung dieser Darstellung müßten wir freilich auch noch die länd¬ Es giebt aber noch ein weiteres Mittel, die Verteilung des Wohl¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0110" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219112"/> <fw type="header" place="top"> Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen?</fw><lb/> <p xml:id="ID_316" prev="#ID_315"> und Schneider weniger vorhanden sind, im Vergleich mit den unzähligen Ge¬<lb/> schäften, die sich teils vermehrt, teils ganz neu gebildet haben! Es ist auch<lb/> nicht richtig, wenn man glaubt, daß jedenfalls das Handwerk im allgemeinen<lb/> im Schwinden begriffen sei. Ein bedeutender Teil des Handwerks ist für die<lb/> bürgerliche Gesellschaft auch heute noch unentbehrlich und wird das voraus¬<lb/> sichtlich auch in Zukunft bleiben. Vor allem hat sich das höhere Handwerk,<lb/> das auf Kunstfertigkeit beruht, nicht vermindert, sondern stark vermehrt. Ist<lb/> aber auch ein Teil des Handwerks zurückgegangen, so ist dafür der Handels¬<lb/> betrieb um so mehr gewachsen. Die Vermehrung des gesamten Geschäfts¬<lb/> betriebs giebt sich schon in einer äußern Erscheinung kund. Früher gab es in<lb/> Kassel Läden fast nur in den mittlern (ältern) Stadtteilen. Sie waren nicht sehr<lb/> zahlreich und meist sehr bescheiden. Heute sieht man die Hauptladen, die alle<lb/> in Pracht wetteifern, gerade in den neuesten, schönsten Stadtteilen. Es giebt dort<lb/> kaum noch ein Haus, das nicht in seinem Erdgeschoß einen oder mehrere Läden<lb/> hätte. Alle Inhaber dieser Geschäfte, wenn anders sie Bestand haben — denn<lb/> manche gehen auch bald wieder ein —, wird man zum Mittelstande rechnen<lb/> dürfen. Dahin gehört auch ein Teil des in den Fabriken beschäftigten Per¬<lb/> sonals (z. B. Buchhalter, Aufsichtsbeamte, Werkmeister). Dazu kommt dann<lb/> noch das große Heer der Beamten der Eisenbahn, der Telegraphie und des<lb/> heutigen Postdienstes, mit dem der frühere Postdienst gar nicht zu vergleichen<lb/> ist. Auch diese Beamten zählen, wenigstens zum großen Teil, zum Mittel¬<lb/> stande und helfen diesen gegen früher vermehren. Rechnet man das alles zu¬<lb/> sammen, so wird man schwerlich sagen können, daß innerhalb der Städte der<lb/> Mittelstand im ganzen zurückgegangen sei.</p><lb/> <p xml:id="ID_317"> Zur Ergänzung dieser Darstellung müßten wir freilich auch noch die länd¬<lb/> lichen Verhältnisse in Betracht ziehen. Das ist aber schon deshalb schwierig,<lb/> weil diese in den einzelnen Teilen Deutschlands sehr verschieden sind. In den<lb/> Ländern jenseits der Elbe herrscht der Großgrundbesitz vor. Manche Gro߬<lb/> grundbesitzer haben allerdings ihre Güter vergrößert, und dadurch sind manche<lb/> Vauernsitze verschwunden. Viele Großgrundbesitzer sind aber auch in ihrem<lb/> Einkommen so zurückgegangen, daß man sie zum Mittelstande wird rechnen<lb/> müssen. In den westlichen und süddeutschen Ländern herrscht der Bauernstand<lb/> vor. Von diesem gehören die großen Bauern auch dem Mittelstande an,<lb/> während man viele „kleine Bauern" kaum noch dahin wird rechnen dürfen.<lb/> Ganz zum Proletariat gehören die ländlichen Arbeiter und Tagelöhner. Jeden¬<lb/> falls haben sich die Verhältnisse auf dem Lande bei weitem nicht in der Art<lb/> verschoben, wie in den Städten; und deshalb kann von einem Verschwinden<lb/> des Mittelstandes, soweit ein solcher überhaupt dort vorhanden ist, ebenfalls<lb/> nicht die Rede sein.</p><lb/> <p xml:id="ID_318" next="#ID_319"> Es giebt aber noch ein weiteres Mittel, die Verteilung des Wohl¬<lb/> standes in unserm Volke uns anschaulich zu machen und dadurch auch über</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0110]
Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen?
und Schneider weniger vorhanden sind, im Vergleich mit den unzähligen Ge¬
schäften, die sich teils vermehrt, teils ganz neu gebildet haben! Es ist auch
nicht richtig, wenn man glaubt, daß jedenfalls das Handwerk im allgemeinen
im Schwinden begriffen sei. Ein bedeutender Teil des Handwerks ist für die
bürgerliche Gesellschaft auch heute noch unentbehrlich und wird das voraus¬
sichtlich auch in Zukunft bleiben. Vor allem hat sich das höhere Handwerk,
das auf Kunstfertigkeit beruht, nicht vermindert, sondern stark vermehrt. Ist
aber auch ein Teil des Handwerks zurückgegangen, so ist dafür der Handels¬
betrieb um so mehr gewachsen. Die Vermehrung des gesamten Geschäfts¬
betriebs giebt sich schon in einer äußern Erscheinung kund. Früher gab es in
Kassel Läden fast nur in den mittlern (ältern) Stadtteilen. Sie waren nicht sehr
zahlreich und meist sehr bescheiden. Heute sieht man die Hauptladen, die alle
in Pracht wetteifern, gerade in den neuesten, schönsten Stadtteilen. Es giebt dort
kaum noch ein Haus, das nicht in seinem Erdgeschoß einen oder mehrere Läden
hätte. Alle Inhaber dieser Geschäfte, wenn anders sie Bestand haben — denn
manche gehen auch bald wieder ein —, wird man zum Mittelstande rechnen
dürfen. Dahin gehört auch ein Teil des in den Fabriken beschäftigten Per¬
sonals (z. B. Buchhalter, Aufsichtsbeamte, Werkmeister). Dazu kommt dann
noch das große Heer der Beamten der Eisenbahn, der Telegraphie und des
heutigen Postdienstes, mit dem der frühere Postdienst gar nicht zu vergleichen
ist. Auch diese Beamten zählen, wenigstens zum großen Teil, zum Mittel¬
stande und helfen diesen gegen früher vermehren. Rechnet man das alles zu¬
sammen, so wird man schwerlich sagen können, daß innerhalb der Städte der
Mittelstand im ganzen zurückgegangen sei.
Zur Ergänzung dieser Darstellung müßten wir freilich auch noch die länd¬
lichen Verhältnisse in Betracht ziehen. Das ist aber schon deshalb schwierig,
weil diese in den einzelnen Teilen Deutschlands sehr verschieden sind. In den
Ländern jenseits der Elbe herrscht der Großgrundbesitz vor. Manche Gro߬
grundbesitzer haben allerdings ihre Güter vergrößert, und dadurch sind manche
Vauernsitze verschwunden. Viele Großgrundbesitzer sind aber auch in ihrem
Einkommen so zurückgegangen, daß man sie zum Mittelstande wird rechnen
müssen. In den westlichen und süddeutschen Ländern herrscht der Bauernstand
vor. Von diesem gehören die großen Bauern auch dem Mittelstande an,
während man viele „kleine Bauern" kaum noch dahin wird rechnen dürfen.
Ganz zum Proletariat gehören die ländlichen Arbeiter und Tagelöhner. Jeden¬
falls haben sich die Verhältnisse auf dem Lande bei weitem nicht in der Art
verschoben, wie in den Städten; und deshalb kann von einem Verschwinden
des Mittelstandes, soweit ein solcher überhaupt dort vorhanden ist, ebenfalls
nicht die Rede sein.
Es giebt aber noch ein weiteres Mittel, die Verteilung des Wohl¬
standes in unserm Volke uns anschaulich zu machen und dadurch auch über
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