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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Auch ein Linbänder

Dichters selber sei, wage ich zwar nicht zu behaupten, aber warum stellt er
denn eine Figur wie die Lacryma auf, die, wenn sie keinen Halt in Horts
eigner Überzeugung hat, ganz gewiß keinen in der außer ihm befindlichen Welt
erlangen kann. Kann es überhaupt ein Menschenkind wie die Lacryma geben,
so ist es gewiß eine solche Seltenheit, daß sie der Dichter höchstens zur
Schattirung gebrauchen kann, will er sie aber als Typus der Weiblichkeit
angesehen wissen, dann ist sie eine so grauenhafte Unwahrheit, wie sie nur jemals
aus der Retorte eines "modernen" Menschenschöpfers hervorgegangen ist.

Lacryma ist kein Wesen von natürlichem Fleisch und Blut, sondern ein
uoniunenws aus der Schmelzpfanne des Müiichhansen bei Immermann, außer¬
dem ein Medium. Was giebt es Moderneres als Hypnotismus und Spiri¬
tismus? Sie sind da, um wie vor hundert Jahren der Mesmerismus einer
an Geist und Gemüt bankerotten Gesellschaft in ihrer Not wieder einmal auf
die lahmen Beine zu helfen. Deshalb giebt es auch keine Ecke, keinen noch
so verlassenen Winkel des gesellschaftlichen Treibens, worin die beiden nicht
ihr Wesen hätten. Der "Mediumismus" ist überall, er will sogar wissenschaft¬
lich werden, oder ist es vielmehr schon. Hochmodern! Wenn Du Pret und
andre Größen der Wissenschaft die Sache ernsthaft nehmen, dann ist es die
höchste Zeit, auch in der Litteratur vorzugehen. Wie kein Salon ohne Musik¬
begleitung, so sollte kein Roman ohne sein Medium sein. Weshalb auch nicht?
Gewiß, der Dichter kann die Figuren, die er in sein Kunstwerk einstellen will,
nehmen, woher er Lust hat, aber es sind doch noch einige Bemerkungen dazu
zu macheu. Wenn Julius Hart die Sache in objektiver, echt dichterischer
Weise behandelt hätte, wenn er uns ein Medium von der betrügenden oder
betrognen, von irgend einer ernsthaften oder komischen, von der hypersensitiven
oder krankhaften Art vorführen, oder wenn er alle diese einzelnen und noch
mehr Züge hätte zu einer Erscheinung zusammenziehen wollen, um uns damit
einen Blick in das Leben der Gegenwart thun zu lassen, so würde gewiß nie¬
mand, der ein Urteil hat, an der Aufstellung eines solchen Bildes etwas aus¬
zusetzen haben. Aber so verfährt der Verfasser der "Sehnsucht" nicht, sondern
er erscheint selber als in der Sache befangen, als von der Überzeugung irgend
eines transcendenter Vermögens im Menschen durchdrungen. Deshalb kann
auch das Medium in seiner Dichtung nicht eine Nebenfigur sein, sondern es
muß die beherrschende Hauptstellung einnehmen, es giebt den Anlaß zu
aller Handlung, wie es auch ihr Ende bestimmt. Der Leser ist nicht sehr weit
in der Lektüre vorgedrungen, und er steht unter der Überzeugung, daß Hart
irgend einer Leserwelt den Glauben beibringen will, es,gebe in Wahrheit noch
eine andre Lücke, als die von jeher überlieferte, durch die man den Kopf aus
der Welt der Notwendigkeit in die der Freiheit hineinstecken könne.

Der Dichter Hart beherrscht nicht das Medium, sondern das Medium be¬
herrscht ihn, und das kommt unzweifelhaft daher, daß er sich an eine Sache


Auch ein Linbänder

Dichters selber sei, wage ich zwar nicht zu behaupten, aber warum stellt er
denn eine Figur wie die Lacryma auf, die, wenn sie keinen Halt in Horts
eigner Überzeugung hat, ganz gewiß keinen in der außer ihm befindlichen Welt
erlangen kann. Kann es überhaupt ein Menschenkind wie die Lacryma geben,
so ist es gewiß eine solche Seltenheit, daß sie der Dichter höchstens zur
Schattirung gebrauchen kann, will er sie aber als Typus der Weiblichkeit
angesehen wissen, dann ist sie eine so grauenhafte Unwahrheit, wie sie nur jemals
aus der Retorte eines „modernen" Menschenschöpfers hervorgegangen ist.

Lacryma ist kein Wesen von natürlichem Fleisch und Blut, sondern ein
uoniunenws aus der Schmelzpfanne des Müiichhansen bei Immermann, außer¬
dem ein Medium. Was giebt es Moderneres als Hypnotismus und Spiri¬
tismus? Sie sind da, um wie vor hundert Jahren der Mesmerismus einer
an Geist und Gemüt bankerotten Gesellschaft in ihrer Not wieder einmal auf
die lahmen Beine zu helfen. Deshalb giebt es auch keine Ecke, keinen noch
so verlassenen Winkel des gesellschaftlichen Treibens, worin die beiden nicht
ihr Wesen hätten. Der „Mediumismus" ist überall, er will sogar wissenschaft¬
lich werden, oder ist es vielmehr schon. Hochmodern! Wenn Du Pret und
andre Größen der Wissenschaft die Sache ernsthaft nehmen, dann ist es die
höchste Zeit, auch in der Litteratur vorzugehen. Wie kein Salon ohne Musik¬
begleitung, so sollte kein Roman ohne sein Medium sein. Weshalb auch nicht?
Gewiß, der Dichter kann die Figuren, die er in sein Kunstwerk einstellen will,
nehmen, woher er Lust hat, aber es sind doch noch einige Bemerkungen dazu
zu macheu. Wenn Julius Hart die Sache in objektiver, echt dichterischer
Weise behandelt hätte, wenn er uns ein Medium von der betrügenden oder
betrognen, von irgend einer ernsthaften oder komischen, von der hypersensitiven
oder krankhaften Art vorführen, oder wenn er alle diese einzelnen und noch
mehr Züge hätte zu einer Erscheinung zusammenziehen wollen, um uns damit
einen Blick in das Leben der Gegenwart thun zu lassen, so würde gewiß nie¬
mand, der ein Urteil hat, an der Aufstellung eines solchen Bildes etwas aus¬
zusetzen haben. Aber so verfährt der Verfasser der „Sehnsucht" nicht, sondern
er erscheint selber als in der Sache befangen, als von der Überzeugung irgend
eines transcendenter Vermögens im Menschen durchdrungen. Deshalb kann
auch das Medium in seiner Dichtung nicht eine Nebenfigur sein, sondern es
muß die beherrschende Hauptstellung einnehmen, es giebt den Anlaß zu
aller Handlung, wie es auch ihr Ende bestimmt. Der Leser ist nicht sehr weit
in der Lektüre vorgedrungen, und er steht unter der Überzeugung, daß Hart
irgend einer Leserwelt den Glauben beibringen will, es,gebe in Wahrheit noch
eine andre Lücke, als die von jeher überlieferte, durch die man den Kopf aus
der Welt der Notwendigkeit in die der Freiheit hineinstecken könne.

Der Dichter Hart beherrscht nicht das Medium, sondern das Medium be¬
herrscht ihn, und das kommt unzweifelhaft daher, daß er sich an eine Sache


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[0076] Auch ein Linbänder Dichters selber sei, wage ich zwar nicht zu behaupten, aber warum stellt er denn eine Figur wie die Lacryma auf, die, wenn sie keinen Halt in Horts eigner Überzeugung hat, ganz gewiß keinen in der außer ihm befindlichen Welt erlangen kann. Kann es überhaupt ein Menschenkind wie die Lacryma geben, so ist es gewiß eine solche Seltenheit, daß sie der Dichter höchstens zur Schattirung gebrauchen kann, will er sie aber als Typus der Weiblichkeit angesehen wissen, dann ist sie eine so grauenhafte Unwahrheit, wie sie nur jemals aus der Retorte eines „modernen" Menschenschöpfers hervorgegangen ist. Lacryma ist kein Wesen von natürlichem Fleisch und Blut, sondern ein uoniunenws aus der Schmelzpfanne des Müiichhansen bei Immermann, außer¬ dem ein Medium. Was giebt es Moderneres als Hypnotismus und Spiri¬ tismus? Sie sind da, um wie vor hundert Jahren der Mesmerismus einer an Geist und Gemüt bankerotten Gesellschaft in ihrer Not wieder einmal auf die lahmen Beine zu helfen. Deshalb giebt es auch keine Ecke, keinen noch so verlassenen Winkel des gesellschaftlichen Treibens, worin die beiden nicht ihr Wesen hätten. Der „Mediumismus" ist überall, er will sogar wissenschaft¬ lich werden, oder ist es vielmehr schon. Hochmodern! Wenn Du Pret und andre Größen der Wissenschaft die Sache ernsthaft nehmen, dann ist es die höchste Zeit, auch in der Litteratur vorzugehen. Wie kein Salon ohne Musik¬ begleitung, so sollte kein Roman ohne sein Medium sein. Weshalb auch nicht? Gewiß, der Dichter kann die Figuren, die er in sein Kunstwerk einstellen will, nehmen, woher er Lust hat, aber es sind doch noch einige Bemerkungen dazu zu macheu. Wenn Julius Hart die Sache in objektiver, echt dichterischer Weise behandelt hätte, wenn er uns ein Medium von der betrügenden oder betrognen, von irgend einer ernsthaften oder komischen, von der hypersensitiven oder krankhaften Art vorführen, oder wenn er alle diese einzelnen und noch mehr Züge hätte zu einer Erscheinung zusammenziehen wollen, um uns damit einen Blick in das Leben der Gegenwart thun zu lassen, so würde gewiß nie¬ mand, der ein Urteil hat, an der Aufstellung eines solchen Bildes etwas aus¬ zusetzen haben. Aber so verfährt der Verfasser der „Sehnsucht" nicht, sondern er erscheint selber als in der Sache befangen, als von der Überzeugung irgend eines transcendenter Vermögens im Menschen durchdrungen. Deshalb kann auch das Medium in seiner Dichtung nicht eine Nebenfigur sein, sondern es muß die beherrschende Hauptstellung einnehmen, es giebt den Anlaß zu aller Handlung, wie es auch ihr Ende bestimmt. Der Leser ist nicht sehr weit in der Lektüre vorgedrungen, und er steht unter der Überzeugung, daß Hart irgend einer Leserwelt den Glauben beibringen will, es,gebe in Wahrheit noch eine andre Lücke, als die von jeher überlieferte, durch die man den Kopf aus der Welt der Notwendigkeit in die der Freiheit hineinstecken könne. Der Dichter Hart beherrscht nicht das Medium, sondern das Medium be¬ herrscht ihn, und das kommt unzweifelhaft daher, daß er sich an eine Sache

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/76>, abgerufen am 25.08.2024.