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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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möglich ist, lehrt die Geschichte. Aber die Verpflegung der Truppen bietet
gewaltige Schwierigkeiten, und daß sich die russische Heeresleitung, deren schwächste
Seite gerade die Intendantur ist, diesen gewachsen zeigen würde, ist zweifelhaft.
Ans keinen Fall kann Rußland hoffen, seine Überlegenheit in der Zahl aus
dem Schlachtfelde auszunutzen. Wenn es ihm gelänge, ein der anglo-indischen
Feldarmee (100000 Mann) gewachsenes Heer nach Indien zu werfen, so hätte
es sehr viel erreicht.

Nehmen wir nun einmal an, daß all die geschilderten Schwierigkeiten
glücklich bewältigt wären, und das russische Heer den Weg bis zur indischen
Grenze zurückgelegt hätte. Ob dann die Engländer die Richtung des letzten
Borstoßes früh genug erkennen würden, um sich rechtzeitig vor den Pässen
sammeln und den Feind beim Hervorbrechen angreifen zu können, läßt sich
natürlich nicht vorher bestimmen. Aber auch wenn den Russen der Einbruch
in die Ebne gelungen wäre, würden sie immer noch ein großes Hindernis im
Indus zu überwinden haben. Gerade zu der Zeit, wo allein die Ankunft des
russischen Heeres erfolgen könnte, d, h. im Spätsommer, ist der Fluß besonders
breit und reißend.

Der Verteidiger würde mit frischen Truppen in starker Stellung hinter
einem mächtigen Strome stehen. Er könnte verschanzte Lager errichten nach
dem Muster von Plewna, zu deren Bewältigung der Angreifer uur über Feld¬
geschütz verfüge,? würde. Mit einem fruchtbaren Gebiet, gewerblichen Hilfs¬
quellen und Eisenbahnen in seinem Rücken brauchte er keinen Mangel an
Munition oder Lebensmitteln zu befürchten. Für den Entscheidungskampf
würden also immer noch die materiellen Bordelle ans Seiten der Engländer
sein, das moralische Übergewicht dagegen auf Seite der Russen. Denn die
Engländer würden fechten nnter dem Eindrucke des trotz aller Schutzwälle er¬
folgten Einbruchs des feindlichen Heeres; sie würden kämpfen, den Aufruhr
im Rücken und vielleicht Währung im eignen Lager. Wie anders ihre Gegner!
Führer und Truppe aneinander gekettet durch die Erinnerung gemeinsam be¬
standner Gefahren, gemeinsam überwundner Hindernisse; das Vertrauen in die
eigne Kraft gehoben durch das Bewußtsein vollbrachter Großthaten, würden
sie durch die Begeisterung über die Erreichung des weiten Zieles angespornt
werden, durch eine letzte Anstrengung den Preis für alle frühern Mühen zu
pflücken. Der Ausgang würde natürlich von der beiderseitigen Führung ab¬
hängen. Eine Niederlage des britischen Heeres aber würde das anglo-indische
Reich bis in den Grund erschüttern. Sie wäre, wenn nicht das Ende, sicher
der Anfang vom Ende.

Ein russischer Angriff also, verbunden mit einer gleichzeitigen Erhebung
ihrer innern Feinde, ist die einzige Gefahr, die in absehbarer Zeit die englische
Herrschaft auf der Halbinsel ernstlich bedrohen könnte. Mit dieser Möglichkeit
sollten die Engländer rechnen, mehr rechnen, als sie es thun. Die Briten


möglich ist, lehrt die Geschichte. Aber die Verpflegung der Truppen bietet
gewaltige Schwierigkeiten, und daß sich die russische Heeresleitung, deren schwächste
Seite gerade die Intendantur ist, diesen gewachsen zeigen würde, ist zweifelhaft.
Ans keinen Fall kann Rußland hoffen, seine Überlegenheit in der Zahl aus
dem Schlachtfelde auszunutzen. Wenn es ihm gelänge, ein der anglo-indischen
Feldarmee (100000 Mann) gewachsenes Heer nach Indien zu werfen, so hätte
es sehr viel erreicht.

Nehmen wir nun einmal an, daß all die geschilderten Schwierigkeiten
glücklich bewältigt wären, und das russische Heer den Weg bis zur indischen
Grenze zurückgelegt hätte. Ob dann die Engländer die Richtung des letzten
Borstoßes früh genug erkennen würden, um sich rechtzeitig vor den Pässen
sammeln und den Feind beim Hervorbrechen angreifen zu können, läßt sich
natürlich nicht vorher bestimmen. Aber auch wenn den Russen der Einbruch
in die Ebne gelungen wäre, würden sie immer noch ein großes Hindernis im
Indus zu überwinden haben. Gerade zu der Zeit, wo allein die Ankunft des
russischen Heeres erfolgen könnte, d, h. im Spätsommer, ist der Fluß besonders
breit und reißend.

Der Verteidiger würde mit frischen Truppen in starker Stellung hinter
einem mächtigen Strome stehen. Er könnte verschanzte Lager errichten nach
dem Muster von Plewna, zu deren Bewältigung der Angreifer uur über Feld¬
geschütz verfüge,? würde. Mit einem fruchtbaren Gebiet, gewerblichen Hilfs¬
quellen und Eisenbahnen in seinem Rücken brauchte er keinen Mangel an
Munition oder Lebensmitteln zu befürchten. Für den Entscheidungskampf
würden also immer noch die materiellen Bordelle ans Seiten der Engländer
sein, das moralische Übergewicht dagegen auf Seite der Russen. Denn die
Engländer würden fechten nnter dem Eindrucke des trotz aller Schutzwälle er¬
folgten Einbruchs des feindlichen Heeres; sie würden kämpfen, den Aufruhr
im Rücken und vielleicht Währung im eignen Lager. Wie anders ihre Gegner!
Führer und Truppe aneinander gekettet durch die Erinnerung gemeinsam be¬
standner Gefahren, gemeinsam überwundner Hindernisse; das Vertrauen in die
eigne Kraft gehoben durch das Bewußtsein vollbrachter Großthaten, würden
sie durch die Begeisterung über die Erreichung des weiten Zieles angespornt
werden, durch eine letzte Anstrengung den Preis für alle frühern Mühen zu
pflücken. Der Ausgang würde natürlich von der beiderseitigen Führung ab¬
hängen. Eine Niederlage des britischen Heeres aber würde das anglo-indische
Reich bis in den Grund erschüttern. Sie wäre, wenn nicht das Ende, sicher
der Anfang vom Ende.

Ein russischer Angriff also, verbunden mit einer gleichzeitigen Erhebung
ihrer innern Feinde, ist die einzige Gefahr, die in absehbarer Zeit die englische
Herrschaft auf der Halbinsel ernstlich bedrohen könnte. Mit dieser Möglichkeit
sollten die Engländer rechnen, mehr rechnen, als sie es thun. Die Briten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/631>, abgerufen am 22.07.2024.