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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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unter russischen Einflüsterungen zur Belagerung von Herat schritt. Aber wäh¬
rend Großbritannien so der geheimen Minirarbeit russischer Diplomatie an den
Höfen von Kabul und Teheran oft mit einem überflüssige" Aufwande von
Energie gegenübertrat, hat es den russischen Waffen in Zentralasien einen
Widerstand entgegenzusetzen weder den Mut noch die Berechtigung gefunden.
Und so haben sich denn die russischen Grenzen immer weiter gegen Indien
vorgeschoben. Nach einander sind die Kirghisen, die Khanate von Kokand,
Buchara und Chiwa und schließlich auch die Turkomanen von Geol-Tepe
und Merv den Heeren des Zaren erlegen. Nur Afghanistan liegt noch als
einziger unabhängiger Staat zwischen Rußland und Ungko-Jndien. Und schon
sind sich der Kosak und der Sepoy an den Ufern des Herirud begegnet, dies¬
mal noch zur friedlichen Festsetzung einer streitigen Grenze. Wann werden
sie im Kampfe aufeinanderstoßen? Rußland drängt nach dem offnen Meere,
dem Indischen Ozean zu, und England kann um der innern Ruhe seiner in¬
dischen Besitzungen willen eine solche Nachbarschaft nicht wünschen. Beide Reiche
streben nach der Vormachtstellung über ganz Asien, und die Rivalität zwischen
ihnen besteht unvermindert weiter. Sie könnten recht gut in Frieden neben¬
einander leben, ein jedes zufrieden im eignen Besitz. Aber ist es wahrschein¬
lich, daß sie es thun werden?")

Im Fall eines Kampfes um die Vormachtstellung in Asien hat Rußland
nur einen Weg, eine für sich günstige Entscheidung zu erzwingen, nämlich
den Angriff auf Indien. Es müßte ein Heer nach Hindustan hineinwerfen,
um dort die englische Herrschaft zu erschüttern. Wenn nun Ungko-Jndien
gegenüber einer solchen russischen Invasion allein in seinen eignen Streitkräften
Schutz suchen sollte, so wäre es wahrlich schlecht darum bestellt. Denn diese
Kräfte sind verschwind gering gegenüber denen des nordischen Gegners. Ru߬
land hat die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Bei einer Bevölkerung von
ungefähr 100 Millionen zählt sein Heer ans Friedensfuß über 800000 Mann
und kaun im Kriege auf mehr als 4000000 gebracht werden. Gegen etwaige
englische Laudungsversuche braucht nur ein kleiner Bruchteil bereit gehalten zu
werden; und wenn anch Rußland seine Westgrenze durch drei Millionen Sol¬
daten gegen unvorhergesehene Fälle deckt, so bleiben doch immer noch mehr als
eine Million zur Verwendung auf dem asiatischen Kriegsschauplatz übrig. Die
erste Staffel bilden die transkaspischen Regimenter mit einer Kriegsstärke von
20000 Mann und das turkestnnische Korps von 70000 Mann. Dahinter stehen
in zweiter Linie die Garnisonen des Kaukasus, deren Friedensstärke verschieden
auf 100000 bis 150000 Mann angegeben wird, während auf Kriegsfuß ihre
Zahl auf 300000 Mnun anschwillt; und hinter diesen wieder die gewaltigen



Das Folgende im Anschluß an des Verfassers Studie "Rußland und Ungko-Jndien."
Militärwochenblatt, Ur. tOttff.

unter russischen Einflüsterungen zur Belagerung von Herat schritt. Aber wäh¬
rend Großbritannien so der geheimen Minirarbeit russischer Diplomatie an den
Höfen von Kabul und Teheran oft mit einem überflüssige» Aufwande von
Energie gegenübertrat, hat es den russischen Waffen in Zentralasien einen
Widerstand entgegenzusetzen weder den Mut noch die Berechtigung gefunden.
Und so haben sich denn die russischen Grenzen immer weiter gegen Indien
vorgeschoben. Nach einander sind die Kirghisen, die Khanate von Kokand,
Buchara und Chiwa und schließlich auch die Turkomanen von Geol-Tepe
und Merv den Heeren des Zaren erlegen. Nur Afghanistan liegt noch als
einziger unabhängiger Staat zwischen Rußland und Ungko-Jndien. Und schon
sind sich der Kosak und der Sepoy an den Ufern des Herirud begegnet, dies¬
mal noch zur friedlichen Festsetzung einer streitigen Grenze. Wann werden
sie im Kampfe aufeinanderstoßen? Rußland drängt nach dem offnen Meere,
dem Indischen Ozean zu, und England kann um der innern Ruhe seiner in¬
dischen Besitzungen willen eine solche Nachbarschaft nicht wünschen. Beide Reiche
streben nach der Vormachtstellung über ganz Asien, und die Rivalität zwischen
ihnen besteht unvermindert weiter. Sie könnten recht gut in Frieden neben¬
einander leben, ein jedes zufrieden im eignen Besitz. Aber ist es wahrschein¬
lich, daß sie es thun werden?")

Im Fall eines Kampfes um die Vormachtstellung in Asien hat Rußland
nur einen Weg, eine für sich günstige Entscheidung zu erzwingen, nämlich
den Angriff auf Indien. Es müßte ein Heer nach Hindustan hineinwerfen,
um dort die englische Herrschaft zu erschüttern. Wenn nun Ungko-Jndien
gegenüber einer solchen russischen Invasion allein in seinen eignen Streitkräften
Schutz suchen sollte, so wäre es wahrlich schlecht darum bestellt. Denn diese
Kräfte sind verschwind gering gegenüber denen des nordischen Gegners. Ru߬
land hat die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Bei einer Bevölkerung von
ungefähr 100 Millionen zählt sein Heer ans Friedensfuß über 800000 Mann
und kaun im Kriege auf mehr als 4000000 gebracht werden. Gegen etwaige
englische Laudungsversuche braucht nur ein kleiner Bruchteil bereit gehalten zu
werden; und wenn anch Rußland seine Westgrenze durch drei Millionen Sol¬
daten gegen unvorhergesehene Fälle deckt, so bleiben doch immer noch mehr als
eine Million zur Verwendung auf dem asiatischen Kriegsschauplatz übrig. Die
erste Staffel bilden die transkaspischen Regimenter mit einer Kriegsstärke von
20000 Mann und das turkestnnische Korps von 70000 Mann. Dahinter stehen
in zweiter Linie die Garnisonen des Kaukasus, deren Friedensstärke verschieden
auf 100000 bis 150000 Mann angegeben wird, während auf Kriegsfuß ihre
Zahl auf 300000 Mnun anschwillt; und hinter diesen wieder die gewaltigen



Das Folgende im Anschluß an des Verfassers Studie „Rußland und Ungko-Jndien."
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[0626] unter russischen Einflüsterungen zur Belagerung von Herat schritt. Aber wäh¬ rend Großbritannien so der geheimen Minirarbeit russischer Diplomatie an den Höfen von Kabul und Teheran oft mit einem überflüssige» Aufwande von Energie gegenübertrat, hat es den russischen Waffen in Zentralasien einen Widerstand entgegenzusetzen weder den Mut noch die Berechtigung gefunden. Und so haben sich denn die russischen Grenzen immer weiter gegen Indien vorgeschoben. Nach einander sind die Kirghisen, die Khanate von Kokand, Buchara und Chiwa und schließlich auch die Turkomanen von Geol-Tepe und Merv den Heeren des Zaren erlegen. Nur Afghanistan liegt noch als einziger unabhängiger Staat zwischen Rußland und Ungko-Jndien. Und schon sind sich der Kosak und der Sepoy an den Ufern des Herirud begegnet, dies¬ mal noch zur friedlichen Festsetzung einer streitigen Grenze. Wann werden sie im Kampfe aufeinanderstoßen? Rußland drängt nach dem offnen Meere, dem Indischen Ozean zu, und England kann um der innern Ruhe seiner in¬ dischen Besitzungen willen eine solche Nachbarschaft nicht wünschen. Beide Reiche streben nach der Vormachtstellung über ganz Asien, und die Rivalität zwischen ihnen besteht unvermindert weiter. Sie könnten recht gut in Frieden neben¬ einander leben, ein jedes zufrieden im eignen Besitz. Aber ist es wahrschein¬ lich, daß sie es thun werden?") Im Fall eines Kampfes um die Vormachtstellung in Asien hat Rußland nur einen Weg, eine für sich günstige Entscheidung zu erzwingen, nämlich den Angriff auf Indien. Es müßte ein Heer nach Hindustan hineinwerfen, um dort die englische Herrschaft zu erschüttern. Wenn nun Ungko-Jndien gegenüber einer solchen russischen Invasion allein in seinen eignen Streitkräften Schutz suchen sollte, so wäre es wahrlich schlecht darum bestellt. Denn diese Kräfte sind verschwind gering gegenüber denen des nordischen Gegners. Ru߬ land hat die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Bei einer Bevölkerung von ungefähr 100 Millionen zählt sein Heer ans Friedensfuß über 800000 Mann und kaun im Kriege auf mehr als 4000000 gebracht werden. Gegen etwaige englische Laudungsversuche braucht nur ein kleiner Bruchteil bereit gehalten zu werden; und wenn anch Rußland seine Westgrenze durch drei Millionen Sol¬ daten gegen unvorhergesehene Fälle deckt, so bleiben doch immer noch mehr als eine Million zur Verwendung auf dem asiatischen Kriegsschauplatz übrig. Die erste Staffel bilden die transkaspischen Regimenter mit einer Kriegsstärke von 20000 Mann und das turkestnnische Korps von 70000 Mann. Dahinter stehen in zweiter Linie die Garnisonen des Kaukasus, deren Friedensstärke verschieden auf 100000 bis 150000 Mann angegeben wird, während auf Kriegsfuß ihre Zahl auf 300000 Mnun anschwillt; und hinter diesen wieder die gewaltigen Das Folgende im Anschluß an des Verfassers Studie „Rußland und Ungko-Jndien." Militärwochenblatt, Ur. tOttff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/626>, abgerufen am 22.07.2024.