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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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uns als der Kern des asiatischen Festlands erscheint, und umgeben die indische
Halbinsel gegen Norden mit einem unüberschreitbaren Wall. Während die
Gebirge Europas den Verkehr wohl haben hemmen, aber nicht dauernd hindern
können, besteht zwischen dem Tafellande von Tibet und den Ebnen Hindustans
kein Handel, und keine moderne Armee würde den Marsch von dem Thale des
Ganges nach den Hochflächen von Innerasien ermöglichen. Gegen China hin
wird die Abschließung Indiens durch die südöstlichen Ausläufer des Himalaja
vervollständigt. Im Westen ziehen sich zwar die Ketten des Suleiman bis
hinab an den Arabischen Meerbusen und trennen die Ebene des Indus von
dem Plateau von Iran. Aber der Gebirgszug ist hier weniger hoch als im
Norden und Nordosten und von mehreren für größere Heere gangbaren Pässen
durchbrochen. Hier im Nordwesten liegt das Thor Indiens, und hier sind
durch den Khciiber-, den Botan- und andre Pässe zu wiederholten malen
fremde Eroberer eingedrungen. Von den Völkerwanderungen drawidischer,
arischer und sehthischer Stämme abgesehen, können wir sechs größere Invasionen
rechnen, von denen drei einen staatengründenden, drei einen rein zerstörenden
Charakter hatten. Aus Alexanders des Großen Heereszug (327 v. Chr.) ging
die baktro-griechische Herrschaft über Nvrdwestindien hervor; die Unterneh¬
mungen Muhammeds von Ghazni (1901 n. Chr.) und seiner Nachfolger legten
den Grund zu dem ersten muhammedanischen Reiche in Hindustan (Tnghlaks)
und der Einfall Baders (1524) zu dem zweiten (Großmoguln). Diesen beiden
muhammedanischen Staatenbildungen versetzten die Rnubzüge Timurs (1398)
und Nadir Schäds (1739) den' Todesstoß; die Einfälle Ahmed Schäds
(1760) brachen die aufstrebende Macht des Marathenbnndes. Indien hat
also zu Laude nur einen verwundbaren Punkt, aber auf diesem Punkte
scheint es ganz besonders leicht verwundbar zu sein, denn zwei Jahrtausende
hindurch siud die politischen Geschicke der Halbinsel hauptsächlich durch Au¬
griffe auf diese Stelle bestimmt worden. Es fragt sich nun: droht für die
englische Herrschaft von dieser Seite her eine Gefahr?

Es war um die Wende unsers Jahrhunderts, als die britischen Staats¬
männer am Hngli zum erstenmale ihre Augen über die Nordwestgrenze Indiens
hinaus lenkten. Zunächst störte Bonapartes Zug nach Syrien ihre Ruhe,
und als diese ziemlich eingebildete Gefahr vorüber war, begannen der Druck
des russischen Kolosses auf Persien und die Ausdehnung der russischen
Herrschaft in Zentralasien allmählich auch in Indien sich fühlbar zu macheu.
Die Engländer lernten bald jeden Fortschritt der Heere des Zaren und jede
Bewegung seiner Diplomatie mit eifersüchtigen Auge und mit einer gewissen
nervösen Aufregung verfolgen. Zweimal schon hat das Erscheinen eines rus¬
sischen Gesandten in Kabul und die übertriebne Besorgnis vor einem Über¬
greifen des russischen Einflusses auf Afghanistan die britischen Heere über den
Suleiman geführt. Zweimal hat England den Schah befehdet, weil dieser


Grenzboten IV 18W 78

uns als der Kern des asiatischen Festlands erscheint, und umgeben die indische
Halbinsel gegen Norden mit einem unüberschreitbaren Wall. Während die
Gebirge Europas den Verkehr wohl haben hemmen, aber nicht dauernd hindern
können, besteht zwischen dem Tafellande von Tibet und den Ebnen Hindustans
kein Handel, und keine moderne Armee würde den Marsch von dem Thale des
Ganges nach den Hochflächen von Innerasien ermöglichen. Gegen China hin
wird die Abschließung Indiens durch die südöstlichen Ausläufer des Himalaja
vervollständigt. Im Westen ziehen sich zwar die Ketten des Suleiman bis
hinab an den Arabischen Meerbusen und trennen die Ebene des Indus von
dem Plateau von Iran. Aber der Gebirgszug ist hier weniger hoch als im
Norden und Nordosten und von mehreren für größere Heere gangbaren Pässen
durchbrochen. Hier im Nordwesten liegt das Thor Indiens, und hier sind
durch den Khciiber-, den Botan- und andre Pässe zu wiederholten malen
fremde Eroberer eingedrungen. Von den Völkerwanderungen drawidischer,
arischer und sehthischer Stämme abgesehen, können wir sechs größere Invasionen
rechnen, von denen drei einen staatengründenden, drei einen rein zerstörenden
Charakter hatten. Aus Alexanders des Großen Heereszug (327 v. Chr.) ging
die baktro-griechische Herrschaft über Nvrdwestindien hervor; die Unterneh¬
mungen Muhammeds von Ghazni (1901 n. Chr.) und seiner Nachfolger legten
den Grund zu dem ersten muhammedanischen Reiche in Hindustan (Tnghlaks)
und der Einfall Baders (1524) zu dem zweiten (Großmoguln). Diesen beiden
muhammedanischen Staatenbildungen versetzten die Rnubzüge Timurs (1398)
und Nadir Schäds (1739) den' Todesstoß; die Einfälle Ahmed Schäds
(1760) brachen die aufstrebende Macht des Marathenbnndes. Indien hat
also zu Laude nur einen verwundbaren Punkt, aber auf diesem Punkte
scheint es ganz besonders leicht verwundbar zu sein, denn zwei Jahrtausende
hindurch siud die politischen Geschicke der Halbinsel hauptsächlich durch Au¬
griffe auf diese Stelle bestimmt worden. Es fragt sich nun: droht für die
englische Herrschaft von dieser Seite her eine Gefahr?

Es war um die Wende unsers Jahrhunderts, als die britischen Staats¬
männer am Hngli zum erstenmale ihre Augen über die Nordwestgrenze Indiens
hinaus lenkten. Zunächst störte Bonapartes Zug nach Syrien ihre Ruhe,
und als diese ziemlich eingebildete Gefahr vorüber war, begannen der Druck
des russischen Kolosses auf Persien und die Ausdehnung der russischen
Herrschaft in Zentralasien allmählich auch in Indien sich fühlbar zu macheu.
Die Engländer lernten bald jeden Fortschritt der Heere des Zaren und jede
Bewegung seiner Diplomatie mit eifersüchtigen Auge und mit einer gewissen
nervösen Aufregung verfolgen. Zweimal schon hat das Erscheinen eines rus¬
sischen Gesandten in Kabul und die übertriebne Besorgnis vor einem Über¬
greifen des russischen Einflusses auf Afghanistan die britischen Heere über den
Suleiman geführt. Zweimal hat England den Schah befehdet, weil dieser


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[0625] uns als der Kern des asiatischen Festlands erscheint, und umgeben die indische Halbinsel gegen Norden mit einem unüberschreitbaren Wall. Während die Gebirge Europas den Verkehr wohl haben hemmen, aber nicht dauernd hindern können, besteht zwischen dem Tafellande von Tibet und den Ebnen Hindustans kein Handel, und keine moderne Armee würde den Marsch von dem Thale des Ganges nach den Hochflächen von Innerasien ermöglichen. Gegen China hin wird die Abschließung Indiens durch die südöstlichen Ausläufer des Himalaja vervollständigt. Im Westen ziehen sich zwar die Ketten des Suleiman bis hinab an den Arabischen Meerbusen und trennen die Ebene des Indus von dem Plateau von Iran. Aber der Gebirgszug ist hier weniger hoch als im Norden und Nordosten und von mehreren für größere Heere gangbaren Pässen durchbrochen. Hier im Nordwesten liegt das Thor Indiens, und hier sind durch den Khciiber-, den Botan- und andre Pässe zu wiederholten malen fremde Eroberer eingedrungen. Von den Völkerwanderungen drawidischer, arischer und sehthischer Stämme abgesehen, können wir sechs größere Invasionen rechnen, von denen drei einen staatengründenden, drei einen rein zerstörenden Charakter hatten. Aus Alexanders des Großen Heereszug (327 v. Chr.) ging die baktro-griechische Herrschaft über Nvrdwestindien hervor; die Unterneh¬ mungen Muhammeds von Ghazni (1901 n. Chr.) und seiner Nachfolger legten den Grund zu dem ersten muhammedanischen Reiche in Hindustan (Tnghlaks) und der Einfall Baders (1524) zu dem zweiten (Großmoguln). Diesen beiden muhammedanischen Staatenbildungen versetzten die Rnubzüge Timurs (1398) und Nadir Schäds (1739) den' Todesstoß; die Einfälle Ahmed Schäds (1760) brachen die aufstrebende Macht des Marathenbnndes. Indien hat also zu Laude nur einen verwundbaren Punkt, aber auf diesem Punkte scheint es ganz besonders leicht verwundbar zu sein, denn zwei Jahrtausende hindurch siud die politischen Geschicke der Halbinsel hauptsächlich durch Au¬ griffe auf diese Stelle bestimmt worden. Es fragt sich nun: droht für die englische Herrschaft von dieser Seite her eine Gefahr? Es war um die Wende unsers Jahrhunderts, als die britischen Staats¬ männer am Hngli zum erstenmale ihre Augen über die Nordwestgrenze Indiens hinaus lenkten. Zunächst störte Bonapartes Zug nach Syrien ihre Ruhe, und als diese ziemlich eingebildete Gefahr vorüber war, begannen der Druck des russischen Kolosses auf Persien und die Ausdehnung der russischen Herrschaft in Zentralasien allmählich auch in Indien sich fühlbar zu macheu. Die Engländer lernten bald jeden Fortschritt der Heere des Zaren und jede Bewegung seiner Diplomatie mit eifersüchtigen Auge und mit einer gewissen nervösen Aufregung verfolgen. Zweimal schon hat das Erscheinen eines rus¬ sischen Gesandten in Kabul und die übertriebne Besorgnis vor einem Über¬ greifen des russischen Einflusses auf Afghanistan die britischen Heere über den Suleiman geführt. Zweimal hat England den Schah befehdet, weil dieser Grenzboten IV 18W 78

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/625>, abgerufen am 22.07.2024.