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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Indische Zustände

den politischen Wechselfällen und ewigen Katastrophen der indischen Geschichte,
erklärt es sich, daß ein Land, das schon vor zweitausend Jahren zwei so große
volkstümliche Religionen, wie Brahmanismus und Buddhismus, hervorgebracht
hatte, noch heutigestags mit religiöser Anarchie kämpft. Jetzt aber hat die
englische Herrschaft die ganze gesellschaftliche Atmosphäre, in der der Brahma¬
nismus lebt, von Grund aus verändert, und wir müssen erwarten, daß sich
über kurz oder lang in Indien große Wandlungen auf religiösem Gebiete voll¬
ziehen werden. Vor dem hellen, frei hereinbringenden Lichte der modernen
Wissenschaft müssen die rohen, abergläubische" Vorstellungen der Massen ver¬
schwinden; in der milden, gleichmüßigen Wärme des britischen Friedens wird
sich der Hinduismus unter neuen Glaubensformen, die vorherzusagen unmög¬
lich ist, voraussichtlich befestigen, er wird der innern Anarchie Herr werden
und dadurch nach außen hin an Widerstandskraft gewinnen. Gleichzeitig aber
hat der indische Islam, vom politischen Gebiete mehr ans das religiöse zurück¬
gedrängt und durch die Vernichtung des Sikhreiches wieder mit der übrigen
muhammedanischen Welt in unmittelbaren Zusammenhang gebracht, Veranlassung
gefunden' mehr zu der ursprünglichen Reinheit der Lehren Muhammeds zurück¬
zustreben und die in vergangnen Jahrhunderten aus dem Brahmatum über-
nommnen Glaubenssätze und Gebräuche abzustreifen. Daraus muß sich not-
wendigerweise eine Verschärfung des Gegensatzes zwischen Hindus und Moslim
ergeben, also ein wirksames Gegengewicht gegen die Gefahren, die sonst aus
großen religiösen Bewegungen in Indien für die Herrschaft einer christlichen
Negierung erwachsen müßten.

Wir wenden uus nun von der Betrachtung der innern zu der etwaiger
äußerer Gefahren. Die Grenze Indiens bildet in ihrer größern Hälfte die
See; hier droht der englischen Herrschaft in Indien keine Gefahr. Albion
wird wohl noch für lange Zeit die Herrin der Meere bleiben. Zwar kann
die englische Flotte nicht mehr wie einst gegen die ganze Welt einstehen: die
vereinten Flotten allein zweier Großmächte, z. B. Frankreichs und Italiens, sind
ihr vielleicht schon gewachsen; aber keine denkbare Koalition von feindlichen
Mächten würde imstande sein, ein Heer nach Indien zu werfe", das mit den
anglo-indischen Truppen den Kampf aufnehmen könnte, oder auch nur die Ver¬
bindung zwischen England und Indien wirksam zu unterbrechen. Denn von
Gibraltar. Malta, Cypern, Ägypten, Perim und Aden aus beherrscht Gro߬
britannien die Straße durch das Mittelmeer, deu Kanal und das Note Meer;
von Se. Helena, dem Kap und Mauritius aus ebenso den Weg um die Süd¬
spitze Afrikas.

Zu Lande folgt die Grenze Indiens dem Zuge der Gebirge. In einer
Breite von etwa fünfzig Meilen, in einer Länge von ungefähr vierhundert
Meilen und in einer Kammhöhe von mehr als 4500 Metern ziehen sich die
gewaltigen Ketten des Himalaja am Süden jenes großen Hochlandes hin, das


Indische Zustände

den politischen Wechselfällen und ewigen Katastrophen der indischen Geschichte,
erklärt es sich, daß ein Land, das schon vor zweitausend Jahren zwei so große
volkstümliche Religionen, wie Brahmanismus und Buddhismus, hervorgebracht
hatte, noch heutigestags mit religiöser Anarchie kämpft. Jetzt aber hat die
englische Herrschaft die ganze gesellschaftliche Atmosphäre, in der der Brahma¬
nismus lebt, von Grund aus verändert, und wir müssen erwarten, daß sich
über kurz oder lang in Indien große Wandlungen auf religiösem Gebiete voll¬
ziehen werden. Vor dem hellen, frei hereinbringenden Lichte der modernen
Wissenschaft müssen die rohen, abergläubische» Vorstellungen der Massen ver¬
schwinden; in der milden, gleichmüßigen Wärme des britischen Friedens wird
sich der Hinduismus unter neuen Glaubensformen, die vorherzusagen unmög¬
lich ist, voraussichtlich befestigen, er wird der innern Anarchie Herr werden
und dadurch nach außen hin an Widerstandskraft gewinnen. Gleichzeitig aber
hat der indische Islam, vom politischen Gebiete mehr ans das religiöse zurück¬
gedrängt und durch die Vernichtung des Sikhreiches wieder mit der übrigen
muhammedanischen Welt in unmittelbaren Zusammenhang gebracht, Veranlassung
gefunden' mehr zu der ursprünglichen Reinheit der Lehren Muhammeds zurück¬
zustreben und die in vergangnen Jahrhunderten aus dem Brahmatum über-
nommnen Glaubenssätze und Gebräuche abzustreifen. Daraus muß sich not-
wendigerweise eine Verschärfung des Gegensatzes zwischen Hindus und Moslim
ergeben, also ein wirksames Gegengewicht gegen die Gefahren, die sonst aus
großen religiösen Bewegungen in Indien für die Herrschaft einer christlichen
Negierung erwachsen müßten.

Wir wenden uus nun von der Betrachtung der innern zu der etwaiger
äußerer Gefahren. Die Grenze Indiens bildet in ihrer größern Hälfte die
See; hier droht der englischen Herrschaft in Indien keine Gefahr. Albion
wird wohl noch für lange Zeit die Herrin der Meere bleiben. Zwar kann
die englische Flotte nicht mehr wie einst gegen die ganze Welt einstehen: die
vereinten Flotten allein zweier Großmächte, z. B. Frankreichs und Italiens, sind
ihr vielleicht schon gewachsen; aber keine denkbare Koalition von feindlichen
Mächten würde imstande sein, ein Heer nach Indien zu werfe«, das mit den
anglo-indischen Truppen den Kampf aufnehmen könnte, oder auch nur die Ver¬
bindung zwischen England und Indien wirksam zu unterbrechen. Denn von
Gibraltar. Malta, Cypern, Ägypten, Perim und Aden aus beherrscht Gro߬
britannien die Straße durch das Mittelmeer, deu Kanal und das Note Meer;
von Se. Helena, dem Kap und Mauritius aus ebenso den Weg um die Süd¬
spitze Afrikas.

Zu Lande folgt die Grenze Indiens dem Zuge der Gebirge. In einer
Breite von etwa fünfzig Meilen, in einer Länge von ungefähr vierhundert
Meilen und in einer Kammhöhe von mehr als 4500 Metern ziehen sich die
gewaltigen Ketten des Himalaja am Süden jenes großen Hochlandes hin, das


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[0624] Indische Zustände den politischen Wechselfällen und ewigen Katastrophen der indischen Geschichte, erklärt es sich, daß ein Land, das schon vor zweitausend Jahren zwei so große volkstümliche Religionen, wie Brahmanismus und Buddhismus, hervorgebracht hatte, noch heutigestags mit religiöser Anarchie kämpft. Jetzt aber hat die englische Herrschaft die ganze gesellschaftliche Atmosphäre, in der der Brahma¬ nismus lebt, von Grund aus verändert, und wir müssen erwarten, daß sich über kurz oder lang in Indien große Wandlungen auf religiösem Gebiete voll¬ ziehen werden. Vor dem hellen, frei hereinbringenden Lichte der modernen Wissenschaft müssen die rohen, abergläubische» Vorstellungen der Massen ver¬ schwinden; in der milden, gleichmüßigen Wärme des britischen Friedens wird sich der Hinduismus unter neuen Glaubensformen, die vorherzusagen unmög¬ lich ist, voraussichtlich befestigen, er wird der innern Anarchie Herr werden und dadurch nach außen hin an Widerstandskraft gewinnen. Gleichzeitig aber hat der indische Islam, vom politischen Gebiete mehr ans das religiöse zurück¬ gedrängt und durch die Vernichtung des Sikhreiches wieder mit der übrigen muhammedanischen Welt in unmittelbaren Zusammenhang gebracht, Veranlassung gefunden' mehr zu der ursprünglichen Reinheit der Lehren Muhammeds zurück¬ zustreben und die in vergangnen Jahrhunderten aus dem Brahmatum über- nommnen Glaubenssätze und Gebräuche abzustreifen. Daraus muß sich not- wendigerweise eine Verschärfung des Gegensatzes zwischen Hindus und Moslim ergeben, also ein wirksames Gegengewicht gegen die Gefahren, die sonst aus großen religiösen Bewegungen in Indien für die Herrschaft einer christlichen Negierung erwachsen müßten. Wir wenden uus nun von der Betrachtung der innern zu der etwaiger äußerer Gefahren. Die Grenze Indiens bildet in ihrer größern Hälfte die See; hier droht der englischen Herrschaft in Indien keine Gefahr. Albion wird wohl noch für lange Zeit die Herrin der Meere bleiben. Zwar kann die englische Flotte nicht mehr wie einst gegen die ganze Welt einstehen: die vereinten Flotten allein zweier Großmächte, z. B. Frankreichs und Italiens, sind ihr vielleicht schon gewachsen; aber keine denkbare Koalition von feindlichen Mächten würde imstande sein, ein Heer nach Indien zu werfe«, das mit den anglo-indischen Truppen den Kampf aufnehmen könnte, oder auch nur die Ver¬ bindung zwischen England und Indien wirksam zu unterbrechen. Denn von Gibraltar. Malta, Cypern, Ägypten, Perim und Aden aus beherrscht Gro߬ britannien die Straße durch das Mittelmeer, deu Kanal und das Note Meer; von Se. Helena, dem Kap und Mauritius aus ebenso den Weg um die Süd¬ spitze Afrikas. Zu Lande folgt die Grenze Indiens dem Zuge der Gebirge. In einer Breite von etwa fünfzig Meilen, in einer Länge von ungefähr vierhundert Meilen und in einer Kammhöhe von mehr als 4500 Metern ziehen sich die gewaltigen Ketten des Himalaja am Süden jenes großen Hochlandes hin, das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/624>, abgerufen am 22.07.2024.