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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Indische Zustände

meinen erwiesen haben, indem sie der furchtbaren Verwirrung, der Räuber-
Wirtschaft, der Säbelherrschaft ein Eude machten, namentlich einer Klasse zu
gute, die, wenn auch bei weitem die zahlreichste, doch wenig politischen Ein¬
fluß und ein kurzes Gedächtnis hat, nämlich den kleinen Landleuten (rMs)."
Je länger die englische Herrschaft besteht, desto mehr werden die frühern Leiden
vergessen, denen sie ein Ende machte. Und gesetzt auch, sie würden nicht ver¬
gessen, gesetzt, der Ryve bliebe sich stets der ihm von seinen jetzigen Herren
erwiesenen Wohlthaten bewußt, so ist doch kein Grund vorhanden, anzunehmen,
daß sich im Falle einer Bedrohung der englischen Herrschaft von andrer Seite
dieses Gefühl der Dankbarkeit auch in Thaten umsetzen würde. Der indische
Bauer ist seit Jahrtausenden zu sehr gewöhnt, den Wechsel feiner Herrscher
stumm über sich ergehen zu lasten, und es wäre sehr zu verwundern, wenn
ihm jetzt auf einmal der Gedanke käme, er könne eigentlich die politischen Ge¬
schicke seines Landes selbst mit bestimmen und sich zum Herrn setzen, wer ihm
gefiele. Die große Masse dieser Landbevölkerung kommt aber auch so wenig
in unmittelbare Berührung mit den Engländern, steht ihrem Wesen so fremd
gegenüber und hat so wenig eigentliches Verständnis für ihre Politik, daß es
gelegentlich gar nicht einmal schwer wäre, die Absichten ihrer britischen Herren
bei ihr zu verdächtigen. Neben der kleinen Landbevölkerung ist es vor allem
der Handelsstand, der den augenscheinlichsten Vorteil von der jetzigen Ordnung
zieht, und da er im allgemeinen aus leidlich urteilsfähigen Menschen besteht,
so wünscht er gewiß den Bestand der englischen Herrschaft. Leider wird es
nnr mich bei ihm meistens bei dem Wünschen bleiben. Kein Zweifel: "die
Klassen, die den ewigen Kriegen früherer Zeiten, der Bedrückung, dem Raube,
dem Morde preisgegeben waren, sollten ihre Befreier segnen, aber es ist wenig
wahrscheinlich, daß die Bedrücker, Räuber und Mörder dasselbe thun; und
diese bilden, wenn auch eine kleine Minderheit, doch den einflußreichsten Teil
der Bevölkerung" (Seeley). So sind wirklich feindselig gesinnt zunächst die
zahlreichen militärischen Abenteurer und Glücksritter meist zentralasiatischer
Abkunft, die seit Jahrhunderten in den indischen Heeren und an den indischen
Höfen die allgemeine Verwirrung für ihren persönlichen Ehrgeiz auszunutzen
pflegten, und deren Treiben die feste Ordnung der englischen Herrschaft ein
Ende gemacht hat. Ferner die Angehörigen abgesetzter Dynastien samt ihren
Gefolgsleuten. Dann überhaupt die höhern Schichten der Muhammedaner,
die unter der mongolischen Dynastie als die Vertreter der herrschenden Re¬
ligion alle einflußreichen Posten monopolisirten, und die Brahmanen, deren
soziale Stellung durch das Eindringen europäischer Bildung und Aufklärung
allmählich untergraben wird. Alle diese früher herrschenden Klassen schreiben
mit Recht das Schwinden ihres Einflusses auf Rechnung der "bauernfreund¬
lichen" Politik der Engländer und würden den Sturz der jetzigen Machthaber
mit Freuden begrüßen. Glücklicherweise entspricht aber ihre Macht nicht ihren


Indische Zustände

meinen erwiesen haben, indem sie der furchtbaren Verwirrung, der Räuber-
Wirtschaft, der Säbelherrschaft ein Eude machten, namentlich einer Klasse zu
gute, die, wenn auch bei weitem die zahlreichste, doch wenig politischen Ein¬
fluß und ein kurzes Gedächtnis hat, nämlich den kleinen Landleuten (rMs)."
Je länger die englische Herrschaft besteht, desto mehr werden die frühern Leiden
vergessen, denen sie ein Ende machte. Und gesetzt auch, sie würden nicht ver¬
gessen, gesetzt, der Ryve bliebe sich stets der ihm von seinen jetzigen Herren
erwiesenen Wohlthaten bewußt, so ist doch kein Grund vorhanden, anzunehmen,
daß sich im Falle einer Bedrohung der englischen Herrschaft von andrer Seite
dieses Gefühl der Dankbarkeit auch in Thaten umsetzen würde. Der indische
Bauer ist seit Jahrtausenden zu sehr gewöhnt, den Wechsel feiner Herrscher
stumm über sich ergehen zu lasten, und es wäre sehr zu verwundern, wenn
ihm jetzt auf einmal der Gedanke käme, er könne eigentlich die politischen Ge¬
schicke seines Landes selbst mit bestimmen und sich zum Herrn setzen, wer ihm
gefiele. Die große Masse dieser Landbevölkerung kommt aber auch so wenig
in unmittelbare Berührung mit den Engländern, steht ihrem Wesen so fremd
gegenüber und hat so wenig eigentliches Verständnis für ihre Politik, daß es
gelegentlich gar nicht einmal schwer wäre, die Absichten ihrer britischen Herren
bei ihr zu verdächtigen. Neben der kleinen Landbevölkerung ist es vor allem
der Handelsstand, der den augenscheinlichsten Vorteil von der jetzigen Ordnung
zieht, und da er im allgemeinen aus leidlich urteilsfähigen Menschen besteht,
so wünscht er gewiß den Bestand der englischen Herrschaft. Leider wird es
nnr mich bei ihm meistens bei dem Wünschen bleiben. Kein Zweifel: „die
Klassen, die den ewigen Kriegen früherer Zeiten, der Bedrückung, dem Raube,
dem Morde preisgegeben waren, sollten ihre Befreier segnen, aber es ist wenig
wahrscheinlich, daß die Bedrücker, Räuber und Mörder dasselbe thun; und
diese bilden, wenn auch eine kleine Minderheit, doch den einflußreichsten Teil
der Bevölkerung" (Seeley). So sind wirklich feindselig gesinnt zunächst die
zahlreichen militärischen Abenteurer und Glücksritter meist zentralasiatischer
Abkunft, die seit Jahrhunderten in den indischen Heeren und an den indischen
Höfen die allgemeine Verwirrung für ihren persönlichen Ehrgeiz auszunutzen
pflegten, und deren Treiben die feste Ordnung der englischen Herrschaft ein
Ende gemacht hat. Ferner die Angehörigen abgesetzter Dynastien samt ihren
Gefolgsleuten. Dann überhaupt die höhern Schichten der Muhammedaner,
die unter der mongolischen Dynastie als die Vertreter der herrschenden Re¬
ligion alle einflußreichen Posten monopolisirten, und die Brahmanen, deren
soziale Stellung durch das Eindringen europäischer Bildung und Aufklärung
allmählich untergraben wird. Alle diese früher herrschenden Klassen schreiben
mit Recht das Schwinden ihres Einflusses auf Rechnung der „bauernfreund¬
lichen" Politik der Engländer und würden den Sturz der jetzigen Machthaber
mit Freuden begrüßen. Glücklicherweise entspricht aber ihre Macht nicht ihren


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[0621] Indische Zustände meinen erwiesen haben, indem sie der furchtbaren Verwirrung, der Räuber- Wirtschaft, der Säbelherrschaft ein Eude machten, namentlich einer Klasse zu gute, die, wenn auch bei weitem die zahlreichste, doch wenig politischen Ein¬ fluß und ein kurzes Gedächtnis hat, nämlich den kleinen Landleuten (rMs)." Je länger die englische Herrschaft besteht, desto mehr werden die frühern Leiden vergessen, denen sie ein Ende machte. Und gesetzt auch, sie würden nicht ver¬ gessen, gesetzt, der Ryve bliebe sich stets der ihm von seinen jetzigen Herren erwiesenen Wohlthaten bewußt, so ist doch kein Grund vorhanden, anzunehmen, daß sich im Falle einer Bedrohung der englischen Herrschaft von andrer Seite dieses Gefühl der Dankbarkeit auch in Thaten umsetzen würde. Der indische Bauer ist seit Jahrtausenden zu sehr gewöhnt, den Wechsel feiner Herrscher stumm über sich ergehen zu lasten, und es wäre sehr zu verwundern, wenn ihm jetzt auf einmal der Gedanke käme, er könne eigentlich die politischen Ge¬ schicke seines Landes selbst mit bestimmen und sich zum Herrn setzen, wer ihm gefiele. Die große Masse dieser Landbevölkerung kommt aber auch so wenig in unmittelbare Berührung mit den Engländern, steht ihrem Wesen so fremd gegenüber und hat so wenig eigentliches Verständnis für ihre Politik, daß es gelegentlich gar nicht einmal schwer wäre, die Absichten ihrer britischen Herren bei ihr zu verdächtigen. Neben der kleinen Landbevölkerung ist es vor allem der Handelsstand, der den augenscheinlichsten Vorteil von der jetzigen Ordnung zieht, und da er im allgemeinen aus leidlich urteilsfähigen Menschen besteht, so wünscht er gewiß den Bestand der englischen Herrschaft. Leider wird es nnr mich bei ihm meistens bei dem Wünschen bleiben. Kein Zweifel: „die Klassen, die den ewigen Kriegen früherer Zeiten, der Bedrückung, dem Raube, dem Morde preisgegeben waren, sollten ihre Befreier segnen, aber es ist wenig wahrscheinlich, daß die Bedrücker, Räuber und Mörder dasselbe thun; und diese bilden, wenn auch eine kleine Minderheit, doch den einflußreichsten Teil der Bevölkerung" (Seeley). So sind wirklich feindselig gesinnt zunächst die zahlreichen militärischen Abenteurer und Glücksritter meist zentralasiatischer Abkunft, die seit Jahrhunderten in den indischen Heeren und an den indischen Höfen die allgemeine Verwirrung für ihren persönlichen Ehrgeiz auszunutzen pflegten, und deren Treiben die feste Ordnung der englischen Herrschaft ein Ende gemacht hat. Ferner die Angehörigen abgesetzter Dynastien samt ihren Gefolgsleuten. Dann überhaupt die höhern Schichten der Muhammedaner, die unter der mongolischen Dynastie als die Vertreter der herrschenden Re¬ ligion alle einflußreichen Posten monopolisirten, und die Brahmanen, deren soziale Stellung durch das Eindringen europäischer Bildung und Aufklärung allmählich untergraben wird. Alle diese früher herrschenden Klassen schreiben mit Recht das Schwinden ihres Einflusses auf Rechnung der „bauernfreund¬ lichen" Politik der Engländer und würden den Sturz der jetzigen Machthaber mit Freuden begrüßen. Glücklicherweise entspricht aber ihre Macht nicht ihren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/621>, abgerufen am 04.07.2024.