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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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tondo eingetragen, sondern er betrachtet sie als einen Besitz, der niemals ver¬
äußert werden dürfe. Aber es hat von jeher Rechts- und Versassungsrevisioneu
gegeben; darüber belehren uns die englischen Revolutionen, wie mich die große
französische zur Genüge.

Noch eine andre Eigentümlichkeit haben alle Revolutionen gemein. Man
kann kein Beispiel dafür anführen, daß gewaltsame Erhebungen gegen ein be¬
stehendes Recht ohne Aufruf zur Teilnahme an das ganze Volk geschehen wären.
Dennoch ist allen das charakteristisch, daß nur ein Teil dieses Ganzen mit der
Beute durchgeht, und daß er obendrein der unerschütterlichen Überzeugung ist,
die von ihm nnn begründete Rechtsordnung sei für alle Zeiten maßgebend.
Das Verfahren des deutschen Liberalismus hat hier, von allem andern
abgesehen, zwei Fehler. Wie? höre ich fragen, der Liberalismus, im be¬
sondern der deutsche, könnte überhaupt Fehler begehen? Er, der Geist der
Freiheit, der allen Erdenbewohnern Erlösung aus den Ketten schmählicher
Knechtschaft verheißt, könnte sich selber untren werden und auf Wege geraten,
die, statt vorwärts in das Land des Lichtes, zurück in die Dunkelheit führen?
Hierauf kauu ich nur antworten, daß es mit dein Liberalismus genau so ist,
wie mit allem andern Streben der Menschen, wohin es sich anch immer er¬
strecken mag. Um lebendig sein zu können, hat alles menschliche Denken und
Fühlen die Form nötig, aber es ist nicht möglich, daß die einmal angenom¬
mene und uuter einem bestimmten Zwang der Umstände notwendige Form für
"lie Zeit zur Fassung des Geistes ausreichend sei. Der Liberalismus war
einmal die giltige Form für den freien Gedanken in den Hauptrichtungen des
Menschenlebens, der Religion und der Politik; aber wie er sich im Augenblick
giebt, und wie er auch von der großen Masse verstanden und aufgefaßt wird,
ist der wahre Gehalt der Freiheit lange aus ihm gewichen und sucht andern
Unterschlupf.

Als der Gedanke von der bürgerlichen Freiheit die Burg des Feudalismus
stürmte, seine Mauern niederlegte, da vergaß er. das neue Haus, das er jetzt
^ errichten hatte, gleich so auszubauen, daß alles Volk Platz in ihm fand.
Das siegreiche Bürgertum dachte nicht daran, daß hinter seinen Reihen noch
unzählige Menge des arbeitenden Volks stand, der eine Verfassung mit der
Gewährleistung gleicher Rechte keineswegs genügte. Die dachte, wenn auch
^or der Hand noch träumend und in unartikulirter Lauten redend, nicht an
das Recht und die Freiheit des Besitzes, denn den hatte sie nicht, sondern an
das Recht und die Freiheit der Arbeit, denn die sollte sie zwar haben, aber
"hre ein Wort zu ihrer Regelung sprechen zu dürfen. Aber aus dem unsichern
Stammeln wurde bald ein festes, die Ziele klar bezeichnendes Reden. Hinter
der Phalanx der Bürger marschierten nnter der Führung bedeutender Männer
alsbald die Arbeiterbataillone auf. So geschah, was zu aller Zeit an andern
Orten auch geschehen ist. Als die athenischen Bourgeois, die in Attikn Pnrnler


tondo eingetragen, sondern er betrachtet sie als einen Besitz, der niemals ver¬
äußert werden dürfe. Aber es hat von jeher Rechts- und Versassungsrevisioneu
gegeben; darüber belehren uns die englischen Revolutionen, wie mich die große
französische zur Genüge.

Noch eine andre Eigentümlichkeit haben alle Revolutionen gemein. Man
kann kein Beispiel dafür anführen, daß gewaltsame Erhebungen gegen ein be¬
stehendes Recht ohne Aufruf zur Teilnahme an das ganze Volk geschehen wären.
Dennoch ist allen das charakteristisch, daß nur ein Teil dieses Ganzen mit der
Beute durchgeht, und daß er obendrein der unerschütterlichen Überzeugung ist,
die von ihm nnn begründete Rechtsordnung sei für alle Zeiten maßgebend.
Das Verfahren des deutschen Liberalismus hat hier, von allem andern
abgesehen, zwei Fehler. Wie? höre ich fragen, der Liberalismus, im be¬
sondern der deutsche, könnte überhaupt Fehler begehen? Er, der Geist der
Freiheit, der allen Erdenbewohnern Erlösung aus den Ketten schmählicher
Knechtschaft verheißt, könnte sich selber untren werden und auf Wege geraten,
die, statt vorwärts in das Land des Lichtes, zurück in die Dunkelheit führen?
Hierauf kauu ich nur antworten, daß es mit dein Liberalismus genau so ist,
wie mit allem andern Streben der Menschen, wohin es sich anch immer er¬
strecken mag. Um lebendig sein zu können, hat alles menschliche Denken und
Fühlen die Form nötig, aber es ist nicht möglich, daß die einmal angenom¬
mene und uuter einem bestimmten Zwang der Umstände notwendige Form für
"lie Zeit zur Fassung des Geistes ausreichend sei. Der Liberalismus war
einmal die giltige Form für den freien Gedanken in den Hauptrichtungen des
Menschenlebens, der Religion und der Politik; aber wie er sich im Augenblick
giebt, und wie er auch von der großen Masse verstanden und aufgefaßt wird,
ist der wahre Gehalt der Freiheit lange aus ihm gewichen und sucht andern
Unterschlupf.

Als der Gedanke von der bürgerlichen Freiheit die Burg des Feudalismus
stürmte, seine Mauern niederlegte, da vergaß er. das neue Haus, das er jetzt
^ errichten hatte, gleich so auszubauen, daß alles Volk Platz in ihm fand.
Das siegreiche Bürgertum dachte nicht daran, daß hinter seinen Reihen noch
unzählige Menge des arbeitenden Volks stand, der eine Verfassung mit der
Gewährleistung gleicher Rechte keineswegs genügte. Die dachte, wenn auch
^or der Hand noch träumend und in unartikulirter Lauten redend, nicht an
das Recht und die Freiheit des Besitzes, denn den hatte sie nicht, sondern an
das Recht und die Freiheit der Arbeit, denn die sollte sie zwar haben, aber
»hre ein Wort zu ihrer Regelung sprechen zu dürfen. Aber aus dem unsichern
Stammeln wurde bald ein festes, die Ziele klar bezeichnendes Reden. Hinter
der Phalanx der Bürger marschierten nnter der Führung bedeutender Männer
alsbald die Arbeiterbataillone auf. So geschah, was zu aller Zeit an andern
Orten auch geschehen ist. Als die athenischen Bourgeois, die in Attikn Pnrnler


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/611>, abgerufen am 24.07.2024.