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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Liu Aufruf zur Grgamsatwn der Volksbildung

diese Synthese dem einzelnen vermittelt, wenn sie ihm zum Durchleben und
Nachleben vorgeführt wird. Die dritte "Epoche" ist gegeben mit der geschicht¬
lichen Entwicklung seit der Reformation, in dem Umschwung vou der "egoistisch-
individnalistischen zu der human-sozialen Gesellschaftsauschannug"; indem der
einzelne über diesen Umschwung aufgeklärt und so dazu gebracht wird, ihn in
der eignen Brust mitzumachen, wird "die Pflege des sozialen Faktors in den
universellen Bildnngszweck organisch eingefügt."

Was Hummel noch weiter zum Kapitel der "allumfassenden Praxis" bei¬
bringt, interessirt hier nicht. Seine Vorschläge in dieser Beziehung sind nicht
neu, sondern fast nur eine Sammlung dessen, was auch von andern schon
verlangt worden ist. Einen selbständigen Wert hätte die Zusammenstellung
bloß dann, wenn der Verfasser die von andern übernommncn und von ihnen
vereinzelt vorgebrachten Gedanken systematisch ordnete, was ihm nicht gelingt --
wenn das Prinzip, nach dem er ordnen will, wenigstens in den Haupt-
Punkten begründet würde.

Wie steht es aber mit dieser Begründung? Hummel versucht sie gar nicht,
er setzt an die Stelle des Beweises eine gewisse Behauptnngsfrendigkeit. So
hat es zunächst doch bloß den Wert einer Behauptung, wenn gefordert wird,
das; die Entwicklung des Menschen gerade nach dem Schema: sittlich-religiöser,
intellektueller Faktor, Versöhnung beider, Einfügung des sozialen Faktors
verlaufen müßte, und ein Beweis dafür wäre nicht überflüssig. Aber selbst
Angestanden, diese Stufenfolge sei berechtigt, so wäre die nächste Frage doch
die: ist nnn beim Gegensatz von Glanben und Wissen die Synthese mir so
möglich, daß der Verstand bekehrt wird? Kann dieser nicht mich die religiöse
Vorstellungsweise auflösen und auf diesem Wege den innern Zwiespalt über¬
brücken, die geistige Einheit herstellen? Hummel verliert kein Wort an eine
solche Möglichkeit, ihm steht ohne weiteres sest. daß bei dem großen innern
Ausgleich der Glaube, das heißt ein bestimmter dogmatischer Glnnbensinhalt,
der wesentliche Teil der "alten Glanbenssnbstanz" unerschüttert bleibe. Und
der Reformation soll eben diese Versöhnung der Gegensätze in vorbildlicher
Weise gelungen sein. Ich denke, das trifft keineswegs zu. Luther hat dieses
Problem für uns nicht gelöst und konnte es nicht lösen. Das folgt - ab¬
gesehen von andern Gründen schon ans dem einen Umstände, daß Luther
"och auf dem Boden der alten Weltbetrachtung stand, die die Erde als den
Mittelpunkt der Welt ansah, während gerade aus der Entdeckung des Kopernikus
gmiz neue Schwierigkeiten in dem Streite zwischen Religion und Wissenschaft
erwachsen sind. Luther hat uns am Ende im Prinzip die Möglichkeit jener
Versöhnung gewiesen, aber diese Versöhnung selbst ist nicht einmal für das
Zeitalter der Reformation, geschweige denn für die Gegenwart zur Wirklichkeit
geworden. Es gehört ein gutes Teil Optimismus zu der Annahme Hummels,
die gegenwärtige Kulturstufe sei "wesentlich durch die Verknüpfung des sittlich-


Liu Aufruf zur Grgamsatwn der Volksbildung

diese Synthese dem einzelnen vermittelt, wenn sie ihm zum Durchleben und
Nachleben vorgeführt wird. Die dritte „Epoche" ist gegeben mit der geschicht¬
lichen Entwicklung seit der Reformation, in dem Umschwung vou der „egoistisch-
individnalistischen zu der human-sozialen Gesellschaftsauschannug"; indem der
einzelne über diesen Umschwung aufgeklärt und so dazu gebracht wird, ihn in
der eignen Brust mitzumachen, wird „die Pflege des sozialen Faktors in den
universellen Bildnngszweck organisch eingefügt."

Was Hummel noch weiter zum Kapitel der „allumfassenden Praxis" bei¬
bringt, interessirt hier nicht. Seine Vorschläge in dieser Beziehung sind nicht
neu, sondern fast nur eine Sammlung dessen, was auch von andern schon
verlangt worden ist. Einen selbständigen Wert hätte die Zusammenstellung
bloß dann, wenn der Verfasser die von andern übernommncn und von ihnen
vereinzelt vorgebrachten Gedanken systematisch ordnete, was ihm nicht gelingt —
wenn das Prinzip, nach dem er ordnen will, wenigstens in den Haupt-
Punkten begründet würde.

Wie steht es aber mit dieser Begründung? Hummel versucht sie gar nicht,
er setzt an die Stelle des Beweises eine gewisse Behauptnngsfrendigkeit. So
hat es zunächst doch bloß den Wert einer Behauptung, wenn gefordert wird,
das; die Entwicklung des Menschen gerade nach dem Schema: sittlich-religiöser,
intellektueller Faktor, Versöhnung beider, Einfügung des sozialen Faktors
verlaufen müßte, und ein Beweis dafür wäre nicht überflüssig. Aber selbst
Angestanden, diese Stufenfolge sei berechtigt, so wäre die nächste Frage doch
die: ist nnn beim Gegensatz von Glanben und Wissen die Synthese mir so
möglich, daß der Verstand bekehrt wird? Kann dieser nicht mich die religiöse
Vorstellungsweise auflösen und auf diesem Wege den innern Zwiespalt über¬
brücken, die geistige Einheit herstellen? Hummel verliert kein Wort an eine
solche Möglichkeit, ihm steht ohne weiteres sest. daß bei dem großen innern
Ausgleich der Glaube, das heißt ein bestimmter dogmatischer Glnnbensinhalt,
der wesentliche Teil der „alten Glanbenssnbstanz" unerschüttert bleibe. Und
der Reformation soll eben diese Versöhnung der Gegensätze in vorbildlicher
Weise gelungen sein. Ich denke, das trifft keineswegs zu. Luther hat dieses
Problem für uns nicht gelöst und konnte es nicht lösen. Das folgt - ab¬
gesehen von andern Gründen schon ans dem einen Umstände, daß Luther
"och auf dem Boden der alten Weltbetrachtung stand, die die Erde als den
Mittelpunkt der Welt ansah, während gerade aus der Entdeckung des Kopernikus
gmiz neue Schwierigkeiten in dem Streite zwischen Religion und Wissenschaft
erwachsen sind. Luther hat uns am Ende im Prinzip die Möglichkeit jener
Versöhnung gewiesen, aber diese Versöhnung selbst ist nicht einmal für das
Zeitalter der Reformation, geschweige denn für die Gegenwart zur Wirklichkeit
geworden. Es gehört ein gutes Teil Optimismus zu der Annahme Hummels,
die gegenwärtige Kulturstufe sei „wesentlich durch die Verknüpfung des sittlich-


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[0523] Liu Aufruf zur Grgamsatwn der Volksbildung diese Synthese dem einzelnen vermittelt, wenn sie ihm zum Durchleben und Nachleben vorgeführt wird. Die dritte „Epoche" ist gegeben mit der geschicht¬ lichen Entwicklung seit der Reformation, in dem Umschwung vou der „egoistisch- individnalistischen zu der human-sozialen Gesellschaftsauschannug"; indem der einzelne über diesen Umschwung aufgeklärt und so dazu gebracht wird, ihn in der eignen Brust mitzumachen, wird „die Pflege des sozialen Faktors in den universellen Bildnngszweck organisch eingefügt." Was Hummel noch weiter zum Kapitel der „allumfassenden Praxis" bei¬ bringt, interessirt hier nicht. Seine Vorschläge in dieser Beziehung sind nicht neu, sondern fast nur eine Sammlung dessen, was auch von andern schon verlangt worden ist. Einen selbständigen Wert hätte die Zusammenstellung bloß dann, wenn der Verfasser die von andern übernommncn und von ihnen vereinzelt vorgebrachten Gedanken systematisch ordnete, was ihm nicht gelingt — wenn das Prinzip, nach dem er ordnen will, wenigstens in den Haupt- Punkten begründet würde. Wie steht es aber mit dieser Begründung? Hummel versucht sie gar nicht, er setzt an die Stelle des Beweises eine gewisse Behauptnngsfrendigkeit. So hat es zunächst doch bloß den Wert einer Behauptung, wenn gefordert wird, das; die Entwicklung des Menschen gerade nach dem Schema: sittlich-religiöser, intellektueller Faktor, Versöhnung beider, Einfügung des sozialen Faktors verlaufen müßte, und ein Beweis dafür wäre nicht überflüssig. Aber selbst Angestanden, diese Stufenfolge sei berechtigt, so wäre die nächste Frage doch die: ist nnn beim Gegensatz von Glanben und Wissen die Synthese mir so möglich, daß der Verstand bekehrt wird? Kann dieser nicht mich die religiöse Vorstellungsweise auflösen und auf diesem Wege den innern Zwiespalt über¬ brücken, die geistige Einheit herstellen? Hummel verliert kein Wort an eine solche Möglichkeit, ihm steht ohne weiteres sest. daß bei dem großen innern Ausgleich der Glaube, das heißt ein bestimmter dogmatischer Glnnbensinhalt, der wesentliche Teil der „alten Glanbenssnbstanz" unerschüttert bleibe. Und der Reformation soll eben diese Versöhnung der Gegensätze in vorbildlicher Weise gelungen sein. Ich denke, das trifft keineswegs zu. Luther hat dieses Problem für uns nicht gelöst und konnte es nicht lösen. Das folgt - ab¬ gesehen von andern Gründen schon ans dem einen Umstände, daß Luther "och auf dem Boden der alten Weltbetrachtung stand, die die Erde als den Mittelpunkt der Welt ansah, während gerade aus der Entdeckung des Kopernikus gmiz neue Schwierigkeiten in dem Streite zwischen Religion und Wissenschaft erwachsen sind. Luther hat uns am Ende im Prinzip die Möglichkeit jener Versöhnung gewiesen, aber diese Versöhnung selbst ist nicht einmal für das Zeitalter der Reformation, geschweige denn für die Gegenwart zur Wirklichkeit geworden. Es gehört ein gutes Teil Optimismus zu der Annahme Hummels, die gegenwärtige Kulturstufe sei „wesentlich durch die Verknüpfung des sittlich-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/523>, abgerufen am 22.07.2024.