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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Recht hat. Es wird ein Obergutachteu verlangt. Der Verletzte klagt über
Schmerzen, die vom Rücken in die Beine ausstrahlen, über leichte Ermüdung,
über Unfähigkeit, längere Zeit zu stehen. Der objektive Befund unmittelbar
nach der Verletzung fehlt, ebenso fehlen bestimmte Angaben über den schwere",
dem Unfall folgenden Verlauf der Erkrankung. Dagegen ergiebt die Unter¬
suchung des Rückens eigentümliche Formen und Bewegungsverhältnisse an
dem Verletzten, die die Beschwerden vollkommen erklären, unter der Voraus¬
setzung, daß sie durch deu Unfall hervorgerufen worden sind. Der Unfall würde
dann eine Wirbelsäuleuverletzung herbeigeführt haben. Aber diese Erscheinungen
von Formveränderung um der Wirbelsäule können auch die Folge einer
frühern Erkrankung der Knochen sein. Ob das eine oder das andre die Er¬
klärung abgiebt, läßt sich gar nicht bestimmen, wenn der objektive Befund un¬
mittelbar, nachdem sich der Unfall ereignet hat, fehlt. Die Billigkeit verlangt,
daß man, da der Unfall in der Art stattgefunden hat, daß er die fragliche Ver¬
letzung herbeiführen kaun, und da die subjektiven Erscheinungen mit der An¬
nahme stimmen, dem Klagenden Recht giebt.

In diesem Falle kommt das Fehlen des objektiven Thatbestandes dem
Vetrvsfnen zu Gute und schädigt möglicherweise die Genossenschaft; in andern
Fällen ist es umgekehrt. Es würde zu weit führen, anch dieses nicht seltene
Vorkommnis durch Mitteilung einzelner Fälle zu belegen.

Nicht minder mangelhaft können aber nnter den jetzt bestehenden Verhält¬
nissen die Entscheidungen der Bernfsgenossenschaftsvvrstände und der Schieds¬
gerichte sei", wenn es sich darum handelt, Beschlüsse zu fassen über halbe oder
ganze Invalidität und über zweckmüßige Mittel und Wege, sie zu beseitigen.
Wer wird, bei aller Achtung für den Geschäftseifer und die Pflichttreue der
betreffenden Vorstandsmitglieder, ihnen zumuten und zutrauen, daß sie die
nichtigen Mittel wählen, ihren Schutzbefohlenen der Genesung zuzuführen? Auch
hier kann wieder nur das Hui bono äiAnc"8on, thus inöävlütur maßgebend sein.
Dn die Vorstandsmitglieder weder eine Krankheit und ihre Ursachen zu er¬
kennen vermögen, noch auch eine Einsicht in die Heilmittelwirkung haben, so
werden sie selbstverständlich bei ihrer Entscheidung von den verschiedensten
Regungen getrieben. Vor allem herrscht die Mode, und da heute die Medieo-
mechauik überall ihre Flagge entfaltet hat, so ist es begreiflich, wenn von ihr
auch lMr weit mehr verlangt wird, als sie zu leisten vermag. Das Nichtige
'se also auch hier, daß zuerst bestimmt werden muß, was dem Verletzten fehlt,
^se das geschehen, so muß das für den Fall passende Mittel gereicht werden.
Die Vorschlüge dazu können selbstverständlich nnr von Sachverständigen ge¬
geben werden.

Zum Schlich komme ich noch zu einem wunden Punkt der Geschäfts¬
ordnung, richtiger Geschäftsunvrdnnng, der wohl von allen Seiten als solcher
unerkannt wird. Dies ist das Gutachtenwesen, die Anfertigung der wiederholt


Recht hat. Es wird ein Obergutachteu verlangt. Der Verletzte klagt über
Schmerzen, die vom Rücken in die Beine ausstrahlen, über leichte Ermüdung,
über Unfähigkeit, längere Zeit zu stehen. Der objektive Befund unmittelbar
nach der Verletzung fehlt, ebenso fehlen bestimmte Angaben über den schwere»,
dem Unfall folgenden Verlauf der Erkrankung. Dagegen ergiebt die Unter¬
suchung des Rückens eigentümliche Formen und Bewegungsverhältnisse an
dem Verletzten, die die Beschwerden vollkommen erklären, unter der Voraus¬
setzung, daß sie durch deu Unfall hervorgerufen worden sind. Der Unfall würde
dann eine Wirbelsäuleuverletzung herbeigeführt haben. Aber diese Erscheinungen
von Formveränderung um der Wirbelsäule können auch die Folge einer
frühern Erkrankung der Knochen sein. Ob das eine oder das andre die Er¬
klärung abgiebt, läßt sich gar nicht bestimmen, wenn der objektive Befund un¬
mittelbar, nachdem sich der Unfall ereignet hat, fehlt. Die Billigkeit verlangt,
daß man, da der Unfall in der Art stattgefunden hat, daß er die fragliche Ver¬
letzung herbeiführen kaun, und da die subjektiven Erscheinungen mit der An¬
nahme stimmen, dem Klagenden Recht giebt.

In diesem Falle kommt das Fehlen des objektiven Thatbestandes dem
Vetrvsfnen zu Gute und schädigt möglicherweise die Genossenschaft; in andern
Fällen ist es umgekehrt. Es würde zu weit führen, anch dieses nicht seltene
Vorkommnis durch Mitteilung einzelner Fälle zu belegen.

Nicht minder mangelhaft können aber nnter den jetzt bestehenden Verhält¬
nissen die Entscheidungen der Bernfsgenossenschaftsvvrstände und der Schieds¬
gerichte sei», wenn es sich darum handelt, Beschlüsse zu fassen über halbe oder
ganze Invalidität und über zweckmüßige Mittel und Wege, sie zu beseitigen.
Wer wird, bei aller Achtung für den Geschäftseifer und die Pflichttreue der
betreffenden Vorstandsmitglieder, ihnen zumuten und zutrauen, daß sie die
nichtigen Mittel wählen, ihren Schutzbefohlenen der Genesung zuzuführen? Auch
hier kann wieder nur das Hui bono äiAnc»8on, thus inöävlütur maßgebend sein.
Dn die Vorstandsmitglieder weder eine Krankheit und ihre Ursachen zu er¬
kennen vermögen, noch auch eine Einsicht in die Heilmittelwirkung haben, so
werden sie selbstverständlich bei ihrer Entscheidung von den verschiedensten
Regungen getrieben. Vor allem herrscht die Mode, und da heute die Medieo-
mechauik überall ihre Flagge entfaltet hat, so ist es begreiflich, wenn von ihr
auch lMr weit mehr verlangt wird, als sie zu leisten vermag. Das Nichtige
'se also auch hier, daß zuerst bestimmt werden muß, was dem Verletzten fehlt,
^se das geschehen, so muß das für den Fall passende Mittel gereicht werden.
Die Vorschlüge dazu können selbstverständlich nnr von Sachverständigen ge¬
geben werden.

Zum Schlich komme ich noch zu einem wunden Punkt der Geschäfts¬
ordnung, richtiger Geschäftsunvrdnnng, der wohl von allen Seiten als solcher
unerkannt wird. Dies ist das Gutachtenwesen, die Anfertigung der wiederholt


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[0517] Recht hat. Es wird ein Obergutachteu verlangt. Der Verletzte klagt über Schmerzen, die vom Rücken in die Beine ausstrahlen, über leichte Ermüdung, über Unfähigkeit, längere Zeit zu stehen. Der objektive Befund unmittelbar nach der Verletzung fehlt, ebenso fehlen bestimmte Angaben über den schwere», dem Unfall folgenden Verlauf der Erkrankung. Dagegen ergiebt die Unter¬ suchung des Rückens eigentümliche Formen und Bewegungsverhältnisse an dem Verletzten, die die Beschwerden vollkommen erklären, unter der Voraus¬ setzung, daß sie durch deu Unfall hervorgerufen worden sind. Der Unfall würde dann eine Wirbelsäuleuverletzung herbeigeführt haben. Aber diese Erscheinungen von Formveränderung um der Wirbelsäule können auch die Folge einer frühern Erkrankung der Knochen sein. Ob das eine oder das andre die Er¬ klärung abgiebt, läßt sich gar nicht bestimmen, wenn der objektive Befund un¬ mittelbar, nachdem sich der Unfall ereignet hat, fehlt. Die Billigkeit verlangt, daß man, da der Unfall in der Art stattgefunden hat, daß er die fragliche Ver¬ letzung herbeiführen kaun, und da die subjektiven Erscheinungen mit der An¬ nahme stimmen, dem Klagenden Recht giebt. In diesem Falle kommt das Fehlen des objektiven Thatbestandes dem Vetrvsfnen zu Gute und schädigt möglicherweise die Genossenschaft; in andern Fällen ist es umgekehrt. Es würde zu weit führen, anch dieses nicht seltene Vorkommnis durch Mitteilung einzelner Fälle zu belegen. Nicht minder mangelhaft können aber nnter den jetzt bestehenden Verhält¬ nissen die Entscheidungen der Bernfsgenossenschaftsvvrstände und der Schieds¬ gerichte sei», wenn es sich darum handelt, Beschlüsse zu fassen über halbe oder ganze Invalidität und über zweckmüßige Mittel und Wege, sie zu beseitigen. Wer wird, bei aller Achtung für den Geschäftseifer und die Pflichttreue der betreffenden Vorstandsmitglieder, ihnen zumuten und zutrauen, daß sie die nichtigen Mittel wählen, ihren Schutzbefohlenen der Genesung zuzuführen? Auch hier kann wieder nur das Hui bono äiAnc»8on, thus inöävlütur maßgebend sein. Dn die Vorstandsmitglieder weder eine Krankheit und ihre Ursachen zu er¬ kennen vermögen, noch auch eine Einsicht in die Heilmittelwirkung haben, so werden sie selbstverständlich bei ihrer Entscheidung von den verschiedensten Regungen getrieben. Vor allem herrscht die Mode, und da heute die Medieo- mechauik überall ihre Flagge entfaltet hat, so ist es begreiflich, wenn von ihr auch lMr weit mehr verlangt wird, als sie zu leisten vermag. Das Nichtige 'se also auch hier, daß zuerst bestimmt werden muß, was dem Verletzten fehlt, ^se das geschehen, so muß das für den Fall passende Mittel gereicht werden. Die Vorschlüge dazu können selbstverständlich nnr von Sachverständigen ge¬ geben werden. Zum Schlich komme ich noch zu einem wunden Punkt der Geschäfts¬ ordnung, richtiger Geschäftsunvrdnnng, der wohl von allen Seiten als solcher unerkannt wird. Dies ist das Gutachtenwesen, die Anfertigung der wiederholt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/517>, abgerufen am 22.07.2024.