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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Der Arzt und das Unfallgesetz

des Gesetzes liegt ganz im Argen, in der Regel liegen die Dinge so, das; an
ein Gutachten erst gedacht wird, wenn Holland in Not ist, werin über die
Wahrheit der Klagen des Verletzten Bedenken auftauchen, während doch ver¬
langt werden müßte, daß sich ein objektiver Befund und ein kurzes Gutachten
bei den Uufallspaviereu jedes Verletzten findet. Man muß nur einmal in der
Lage gewesen sein -- wie es mir nur allzuoft begegnet --, ein schließliches
Gutachten über einen solchen verfahrneu Fall abgeben zu müssen. Da kommt
ein großes Bündel Akten. Die Geschichte beginnt mit dem gelben Bogen des
Vertrauensmannes, und sie setzt sich fort in der polizeiliche" Erhebung des
Thatbestandes. Wesentlich sind darin nur die Personalverhältnisse und die Art,
wie die Verletzung entstanden ist. Und der objektive Befund bei dem Ver¬
letzten? Der fehlt so gut wie immer. Denn aus der gewöhnlich noch während
der Krankenkassenzeit abgegebnen Erklärung des Arztes, daß der Kranke noch
arbeitsunfähig, <daß sein Bein, sein Arm noch zu schwach sei, läßt sich selbstver¬
ständlich nichts entnehmen. Erst wenn die Schwierigkeiten eintreten, meist nach
der dreizehnten Woche, dann kommen die Gutachten. Ein Glück, wenn dann
wenigstens der erste Arzt auch das erste Gutachten abzugeben hat und aus
seinem Gedächtnis oder seinen dürftigen Aufzeichnungen so etwas ähnliches wie
einen objektiven Befund giebt, der den Zustand des Kranken unmittelbar nach
der Verletzung schildert. Dann kommen aber meist mehrere Gutachten, zu¬
weilen mehr, als gut send. Durch diese Planlosigkeit erwachsen aber dem Ver¬
letzten wie der Genossenschaft die schwersten Nachteile.

Ich will einen konkreten Fall anführen, der sich in dem Buche, das meine
Uufallsgutachten enthält, wiederholt findet. Ein Mensch ist verletzt worden,
lind die Umstände bei dem Unfall waren derart, daß eine Wirbelsäulenver-
letznng möglich erscheint. Das ersieht mau aus der Mitteilung des Ver¬
trauensmannes. Daneben sehlt jede ärztliche Mitteilung über den ersten ob¬
jektiven Befund, obwohl der Verletzte nach dem Unfall schwer krank war. Erst
gegen Ende der Krankenkassenbehandlung erscheint die erste ärztliche Kund¬
gebung, die etwa dahin geht, daß der Verletzte noch nicht arbeitsfähig sei,
weil er über dieses oder jenes klage. Darauf vergehen wieder einige Monate,
der Verletzte geht herum, aber er klagt über Ermüdung beim Gehen, über
Schmerzen im Rücken und in den Beinen. Die Gutachter halten den Mann
für einen Übertreiber oder Simulanten, und es wird ihm die Rente entzogen.
Er legt Berufung ein. Das Schiedsgericht giebt ihm auf Grund eines neuen
Gutachtens eiuen Teil der Rente zurück. Dann wird der Verletzte noch ein¬
mal in eine Heilanstalt geschickt und, "weil es sich um die Nachwehe" eines
Unfalls handelt," meist in ein sogenanntes medico-mechanisches Institut. Hier
wird er eine Zeit lang behandelt und schließlich nach dein Ausspruch des Leiters
"sehr gebessert," nach seiner eignen Ansicht unverändert oder gar mit ver¬
mehrten Schmerzen entlassen. Jetzt muß die Frage entschieden werden, wer


Der Arzt und das Unfallgesetz

des Gesetzes liegt ganz im Argen, in der Regel liegen die Dinge so, das; an
ein Gutachten erst gedacht wird, wenn Holland in Not ist, werin über die
Wahrheit der Klagen des Verletzten Bedenken auftauchen, während doch ver¬
langt werden müßte, daß sich ein objektiver Befund und ein kurzes Gutachten
bei den Uufallspaviereu jedes Verletzten findet. Man muß nur einmal in der
Lage gewesen sein — wie es mir nur allzuoft begegnet —, ein schließliches
Gutachten über einen solchen verfahrneu Fall abgeben zu müssen. Da kommt
ein großes Bündel Akten. Die Geschichte beginnt mit dem gelben Bogen des
Vertrauensmannes, und sie setzt sich fort in der polizeiliche» Erhebung des
Thatbestandes. Wesentlich sind darin nur die Personalverhältnisse und die Art,
wie die Verletzung entstanden ist. Und der objektive Befund bei dem Ver¬
letzten? Der fehlt so gut wie immer. Denn aus der gewöhnlich noch während
der Krankenkassenzeit abgegebnen Erklärung des Arztes, daß der Kranke noch
arbeitsunfähig, <daß sein Bein, sein Arm noch zu schwach sei, läßt sich selbstver¬
ständlich nichts entnehmen. Erst wenn die Schwierigkeiten eintreten, meist nach
der dreizehnten Woche, dann kommen die Gutachten. Ein Glück, wenn dann
wenigstens der erste Arzt auch das erste Gutachten abzugeben hat und aus
seinem Gedächtnis oder seinen dürftigen Aufzeichnungen so etwas ähnliches wie
einen objektiven Befund giebt, der den Zustand des Kranken unmittelbar nach
der Verletzung schildert. Dann kommen aber meist mehrere Gutachten, zu¬
weilen mehr, als gut send. Durch diese Planlosigkeit erwachsen aber dem Ver¬
letzten wie der Genossenschaft die schwersten Nachteile.

Ich will einen konkreten Fall anführen, der sich in dem Buche, das meine
Uufallsgutachten enthält, wiederholt findet. Ein Mensch ist verletzt worden,
lind die Umstände bei dem Unfall waren derart, daß eine Wirbelsäulenver-
letznng möglich erscheint. Das ersieht mau aus der Mitteilung des Ver¬
trauensmannes. Daneben sehlt jede ärztliche Mitteilung über den ersten ob¬
jektiven Befund, obwohl der Verletzte nach dem Unfall schwer krank war. Erst
gegen Ende der Krankenkassenbehandlung erscheint die erste ärztliche Kund¬
gebung, die etwa dahin geht, daß der Verletzte noch nicht arbeitsfähig sei,
weil er über dieses oder jenes klage. Darauf vergehen wieder einige Monate,
der Verletzte geht herum, aber er klagt über Ermüdung beim Gehen, über
Schmerzen im Rücken und in den Beinen. Die Gutachter halten den Mann
für einen Übertreiber oder Simulanten, und es wird ihm die Rente entzogen.
Er legt Berufung ein. Das Schiedsgericht giebt ihm auf Grund eines neuen
Gutachtens eiuen Teil der Rente zurück. Dann wird der Verletzte noch ein¬
mal in eine Heilanstalt geschickt und, „weil es sich um die Nachwehe» eines
Unfalls handelt," meist in ein sogenanntes medico-mechanisches Institut. Hier
wird er eine Zeit lang behandelt und schließlich nach dein Ausspruch des Leiters
„sehr gebessert," nach seiner eignen Ansicht unverändert oder gar mit ver¬
mehrten Schmerzen entlassen. Jetzt muß die Frage entschieden werden, wer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/516>, abgerufen am 22.07.2024.