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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Der Arzt und das Unfallgesetz

Sorge für das "zu früh" weit geringer als die. daß der Kranke oder Ver¬
letzte über die wirklich notwendige Zeit hinaus von der Arbeit wegbleibt.

3. Für den Fall eintretender Invalidität muß der Grad festgestellt werden.
Es muß erwogen werden, welche Arbeit der Invalid übernehmen kann, wenn
er für die. die er bisher betrieben hat, vollkommen leistungsunfähig geworden
ist. und wieviel er bei der Arbeit, die er nun übernimmt, verdienen kann.

Betrachten wir zunächst den ersten Punkt, so müssen wir ohne weiteres
einräumen, daß die bis jetzt bestehenden Einrichtungen eine in allen Stücken
sachgemäße Behandlung nicht verbürgen. Sehr störend ist in dieser Beziehung
namentlich die Verquickung der Krankenkasse und der Berufsgenossenschaft. In
den ersten dreizehn Wochen fällt der Verletzte der Krankenkasse zur Last, zu
der er gehört. Leider ist es nicht möglich, in allen Fällen von dieser
Gemeinschaft loszukommen. Denn einer großen Anzahl von Kranken sieht man
zunächst gar nicht an, daß sie unter das Unfallgesctz gehören, bei vielen wird
der Anspruch dnranf zunächst gar nicht erhoben. Erst ganz spät kommen sie
oder ein andrer darauf, daß ihre Krankheit einem Unfall ihre Entstehung ver¬
dankt. Daß ein Mensch, der das Bein, den Arm, den Schädel zerbricht, seine
Krankheit auf einen Unfall zurückführt, ist selbstverständlich. Ganz anders
steht die Sache, wenn z. B. einer, der an Knvchenentzündung. an Gelenktuber¬
kulose erkrankt ist, behauptet, ein Unfall bei der Arbeit habe die Krankheit
verschuldet. Nehmen wir einen Fall, der dem Laien am unwahrscheinlichsten
erscheint: der Kranke behauptet von einer unzweifelhaften Tuberkulose der Hand,
daß sie durch Arbeitsuufall herbeigeführt worden sei. Jeder Gebildete weiß
heute, daß die Tuberkulose eine durch bestimmte Bazillen hervorgerufne Ju-
fektiouskraukheit ist. Was hat nnn der Unfall damit zu thun? In dem hier
besprochnen Falle handelte es sich um das Entstehe" der Krankheit unmittelbar
uach einem Stoße, der die Hand bei der Arbeit getroffen hatte, einem Stoße
von solcher Geringfügigkeit, daß der betreffende zunächst ruhig weiterarbeitete.
Nun lehrt die Erfahrung, daß in der That leichte Verletzungen an Knochen
und Gelenken öfter tuberkulöse Erkrankungen nach sich ziehen. Der Arzt
bezeichnet eine Stelle, die ein Stoß getroffen hat und wo durch den Stoß
leichte Gewebsveränderungen herbeigeführt worden sind, als eine schwache Stelle
(loeu-z rmnoris resiswitiach. An dieser schwachen Stelle lassen sich Kraukheits-
swffe, infieirende Mikroben gern nieder, wenn sie im Blute kreisen, mögen sie
uun frisch von anßen aufgenommen werden oder schon anderwärts im Körper,
wie in den Drüsen, in den Lungen u. s. w., vorhanden gewesen sein. Der hier
besprochne Patient hatte nun nachweisbar einen alten umschriebnen tuberkulös-
phthisischen Lnngenprozeß. Hier mußte mau zugeben, daß sich höchst wahr¬
scheinlich die im Blute kreisenden Tuberkelbazillen, die ans dem Lungeuprozeß
dahin gekommen waren, in den Gelenkknochen der Hand niedergelassen hatten,
weil ihnen der Stoß dort den geeigneten Boden geschaffen hatte: der Kranke


Der Arzt und das Unfallgesetz

Sorge für das „zu früh" weit geringer als die. daß der Kranke oder Ver¬
letzte über die wirklich notwendige Zeit hinaus von der Arbeit wegbleibt.

3. Für den Fall eintretender Invalidität muß der Grad festgestellt werden.
Es muß erwogen werden, welche Arbeit der Invalid übernehmen kann, wenn
er für die. die er bisher betrieben hat, vollkommen leistungsunfähig geworden
ist. und wieviel er bei der Arbeit, die er nun übernimmt, verdienen kann.

Betrachten wir zunächst den ersten Punkt, so müssen wir ohne weiteres
einräumen, daß die bis jetzt bestehenden Einrichtungen eine in allen Stücken
sachgemäße Behandlung nicht verbürgen. Sehr störend ist in dieser Beziehung
namentlich die Verquickung der Krankenkasse und der Berufsgenossenschaft. In
den ersten dreizehn Wochen fällt der Verletzte der Krankenkasse zur Last, zu
der er gehört. Leider ist es nicht möglich, in allen Fällen von dieser
Gemeinschaft loszukommen. Denn einer großen Anzahl von Kranken sieht man
zunächst gar nicht an, daß sie unter das Unfallgesctz gehören, bei vielen wird
der Anspruch dnranf zunächst gar nicht erhoben. Erst ganz spät kommen sie
oder ein andrer darauf, daß ihre Krankheit einem Unfall ihre Entstehung ver¬
dankt. Daß ein Mensch, der das Bein, den Arm, den Schädel zerbricht, seine
Krankheit auf einen Unfall zurückführt, ist selbstverständlich. Ganz anders
steht die Sache, wenn z. B. einer, der an Knvchenentzündung. an Gelenktuber¬
kulose erkrankt ist, behauptet, ein Unfall bei der Arbeit habe die Krankheit
verschuldet. Nehmen wir einen Fall, der dem Laien am unwahrscheinlichsten
erscheint: der Kranke behauptet von einer unzweifelhaften Tuberkulose der Hand,
daß sie durch Arbeitsuufall herbeigeführt worden sei. Jeder Gebildete weiß
heute, daß die Tuberkulose eine durch bestimmte Bazillen hervorgerufne Ju-
fektiouskraukheit ist. Was hat nnn der Unfall damit zu thun? In dem hier
besprochnen Falle handelte es sich um das Entstehe» der Krankheit unmittelbar
uach einem Stoße, der die Hand bei der Arbeit getroffen hatte, einem Stoße
von solcher Geringfügigkeit, daß der betreffende zunächst ruhig weiterarbeitete.
Nun lehrt die Erfahrung, daß in der That leichte Verletzungen an Knochen
und Gelenken öfter tuberkulöse Erkrankungen nach sich ziehen. Der Arzt
bezeichnet eine Stelle, die ein Stoß getroffen hat und wo durch den Stoß
leichte Gewebsveränderungen herbeigeführt worden sind, als eine schwache Stelle
(loeu-z rmnoris resiswitiach. An dieser schwachen Stelle lassen sich Kraukheits-
swffe, infieirende Mikroben gern nieder, wenn sie im Blute kreisen, mögen sie
uun frisch von anßen aufgenommen werden oder schon anderwärts im Körper,
wie in den Drüsen, in den Lungen u. s. w., vorhanden gewesen sein. Der hier
besprochne Patient hatte nun nachweisbar einen alten umschriebnen tuberkulös-
phthisischen Lnngenprozeß. Hier mußte mau zugeben, daß sich höchst wahr¬
scheinlich die im Blute kreisenden Tuberkelbazillen, die ans dem Lungeuprozeß
dahin gekommen waren, in den Gelenkknochen der Hand niedergelassen hatten,
weil ihnen der Stoß dort den geeigneten Boden geschaffen hatte: der Kranke


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[0511] Der Arzt und das Unfallgesetz Sorge für das „zu früh" weit geringer als die. daß der Kranke oder Ver¬ letzte über die wirklich notwendige Zeit hinaus von der Arbeit wegbleibt. 3. Für den Fall eintretender Invalidität muß der Grad festgestellt werden. Es muß erwogen werden, welche Arbeit der Invalid übernehmen kann, wenn er für die. die er bisher betrieben hat, vollkommen leistungsunfähig geworden ist. und wieviel er bei der Arbeit, die er nun übernimmt, verdienen kann. Betrachten wir zunächst den ersten Punkt, so müssen wir ohne weiteres einräumen, daß die bis jetzt bestehenden Einrichtungen eine in allen Stücken sachgemäße Behandlung nicht verbürgen. Sehr störend ist in dieser Beziehung namentlich die Verquickung der Krankenkasse und der Berufsgenossenschaft. In den ersten dreizehn Wochen fällt der Verletzte der Krankenkasse zur Last, zu der er gehört. Leider ist es nicht möglich, in allen Fällen von dieser Gemeinschaft loszukommen. Denn einer großen Anzahl von Kranken sieht man zunächst gar nicht an, daß sie unter das Unfallgesctz gehören, bei vielen wird der Anspruch dnranf zunächst gar nicht erhoben. Erst ganz spät kommen sie oder ein andrer darauf, daß ihre Krankheit einem Unfall ihre Entstehung ver¬ dankt. Daß ein Mensch, der das Bein, den Arm, den Schädel zerbricht, seine Krankheit auf einen Unfall zurückführt, ist selbstverständlich. Ganz anders steht die Sache, wenn z. B. einer, der an Knvchenentzündung. an Gelenktuber¬ kulose erkrankt ist, behauptet, ein Unfall bei der Arbeit habe die Krankheit verschuldet. Nehmen wir einen Fall, der dem Laien am unwahrscheinlichsten erscheint: der Kranke behauptet von einer unzweifelhaften Tuberkulose der Hand, daß sie durch Arbeitsuufall herbeigeführt worden sei. Jeder Gebildete weiß heute, daß die Tuberkulose eine durch bestimmte Bazillen hervorgerufne Ju- fektiouskraukheit ist. Was hat nnn der Unfall damit zu thun? In dem hier besprochnen Falle handelte es sich um das Entstehe» der Krankheit unmittelbar uach einem Stoße, der die Hand bei der Arbeit getroffen hatte, einem Stoße von solcher Geringfügigkeit, daß der betreffende zunächst ruhig weiterarbeitete. Nun lehrt die Erfahrung, daß in der That leichte Verletzungen an Knochen und Gelenken öfter tuberkulöse Erkrankungen nach sich ziehen. Der Arzt bezeichnet eine Stelle, die ein Stoß getroffen hat und wo durch den Stoß leichte Gewebsveränderungen herbeigeführt worden sind, als eine schwache Stelle (loeu-z rmnoris resiswitiach. An dieser schwachen Stelle lassen sich Kraukheits- swffe, infieirende Mikroben gern nieder, wenn sie im Blute kreisen, mögen sie uun frisch von anßen aufgenommen werden oder schon anderwärts im Körper, wie in den Drüsen, in den Lungen u. s. w., vorhanden gewesen sein. Der hier besprochne Patient hatte nun nachweisbar einen alten umschriebnen tuberkulös- phthisischen Lnngenprozeß. Hier mußte mau zugeben, daß sich höchst wahr¬ scheinlich die im Blute kreisenden Tuberkelbazillen, die ans dem Lungeuprozeß dahin gekommen waren, in den Gelenkknochen der Hand niedergelassen hatten, weil ihnen der Stoß dort den geeigneten Boden geschaffen hatte: der Kranke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/511>, abgerufen am 22.07.2024.