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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Jugend

würdigerweise um eines Umstmids willen, auf den man bisher nicht viel Ge¬
wicht legte, der nun aber doch anfängt, als Borzug betrachtet zu werden:
die "Jugend" soll nämlich von echt deutschem Geiste durchweht sein. Das
haben nicht nur Blatter behauptet, die, wenn sie auch in deutscher Sprache
schreiben, sonst ganz andern Geistes Kinder sind, sondern auch Blätter vou
unverfälschter, ehrlicher deutscher Gesinnung. Ich habe dies Urteil mindestens
ein Dutzend mal gelesen. Ganz begeistert rief der Kritiker der Täglichen Rund¬
schau aus: "Das französische Schauspiel ist in völliger Auflösung begriffen,
das deutsche geht siegreich empor. Endlich hört man doch wieder die Zauber¬
weisen einer echten Poesie.... Ich möchte diejenigen, welche der jungdeutschen
Poesie immer wieder vorwerfen, daß sie kein nationales Gewächs sei, in die
"Jugend" hineinführen und fragen: Wenn das keine nationale Poesie ist, was
ist dann eine?"

Donnerwetter! dachte ich bei mir, es sind doch Mordskerle, diese Jung¬
deutschen; sie können alles, nun können sie sogar deutsche Stücke schreiben. Das
muß ich sehn! Und so pilgerte ich denn während meines letzten Aufenthalts in
Berlin nach dem "Neuen Theater" am Schiffbauerdamm, betrat die üppigen
Räume fast in feierlicher Stimmung und sah, als sich der kostbare, resedafarbue
Plüschvorhang teilte, mit hochgespannter Erwartungen den kommenden Dingen
entgegen.

Der Inhalt der "Jugend" ist bald erzählt. Bei einem alten, jovialen
katholischen Landpfarrer in Westpreußen lebt die Tochter feiner verstorbnen
Schwester, das achtzehnjährige Ankleben. Das Mädchen ist in nicht ganz ge¬
regelten Verhältnissen zur Welt gekommen, denn der Vater -- na, kurz, "Vater
is nich," wie der Berliner sagt. Eine uneheliche Geburt gehört ja zu den
unumgänglichen Erfordernissen eines modernen Theaterstücks. Das ist also
nur "natürlich." Weniger natürlich erscheint es schon, daß das Kind über
diesen Punkt genau Bescheid weiß und unbefangen darüber spricht, was aller¬
dings zum Teil der junge polnische Kaplan verschuldet, ein strenger Eiferer,
der als Beichtvater dem Mädchen fort und fort die Sünde der Mutter vor¬
hält und, um wenigstens die ihm anvertraute Seele der Tochter, in der er
allerlei angeerbte Triebe vermutet, zu retten, dem lebensfroher Kinde das
Kloster als einzigen sichern Hafen vorstellt.

Da kommt ein Brief, worin der Besuch Hünschens, eines Vetters von
Annchen, angemeldet wird. Hänschen ist der Sohn einer Jugendliebe des alten
Pfarrers und daher diesem sehr ans Herz gewachsen. Er hat eben sein Abi¬
turientenexamen bestanden und will nach Heidelberg; er kommt nur auf einen
Tag, um sich dem väterlichen Freunde zu zeigen, Abschied zu nehmen und
dann in die goldne Freiheit hinauszustürmen. Aber da sieht er "herrlich in
der Jugend Pranger die Jungfrau vor sich stehn" und verliebt sich in sie,
und Annchen, bereu zurückgedrängte Lebenslust durch den frischen Windhauch,


Jugend

würdigerweise um eines Umstmids willen, auf den man bisher nicht viel Ge¬
wicht legte, der nun aber doch anfängt, als Borzug betrachtet zu werden:
die „Jugend" soll nämlich von echt deutschem Geiste durchweht sein. Das
haben nicht nur Blatter behauptet, die, wenn sie auch in deutscher Sprache
schreiben, sonst ganz andern Geistes Kinder sind, sondern auch Blätter vou
unverfälschter, ehrlicher deutscher Gesinnung. Ich habe dies Urteil mindestens
ein Dutzend mal gelesen. Ganz begeistert rief der Kritiker der Täglichen Rund¬
schau aus: „Das französische Schauspiel ist in völliger Auflösung begriffen,
das deutsche geht siegreich empor. Endlich hört man doch wieder die Zauber¬
weisen einer echten Poesie.... Ich möchte diejenigen, welche der jungdeutschen
Poesie immer wieder vorwerfen, daß sie kein nationales Gewächs sei, in die
»Jugend« hineinführen und fragen: Wenn das keine nationale Poesie ist, was
ist dann eine?"

Donnerwetter! dachte ich bei mir, es sind doch Mordskerle, diese Jung¬
deutschen; sie können alles, nun können sie sogar deutsche Stücke schreiben. Das
muß ich sehn! Und so pilgerte ich denn während meines letzten Aufenthalts in
Berlin nach dem „Neuen Theater" am Schiffbauerdamm, betrat die üppigen
Räume fast in feierlicher Stimmung und sah, als sich der kostbare, resedafarbue
Plüschvorhang teilte, mit hochgespannter Erwartungen den kommenden Dingen
entgegen.

Der Inhalt der „Jugend" ist bald erzählt. Bei einem alten, jovialen
katholischen Landpfarrer in Westpreußen lebt die Tochter feiner verstorbnen
Schwester, das achtzehnjährige Ankleben. Das Mädchen ist in nicht ganz ge¬
regelten Verhältnissen zur Welt gekommen, denn der Vater — na, kurz, „Vater
is nich," wie der Berliner sagt. Eine uneheliche Geburt gehört ja zu den
unumgänglichen Erfordernissen eines modernen Theaterstücks. Das ist also
nur „natürlich." Weniger natürlich erscheint es schon, daß das Kind über
diesen Punkt genau Bescheid weiß und unbefangen darüber spricht, was aller¬
dings zum Teil der junge polnische Kaplan verschuldet, ein strenger Eiferer,
der als Beichtvater dem Mädchen fort und fort die Sünde der Mutter vor¬
hält und, um wenigstens die ihm anvertraute Seele der Tochter, in der er
allerlei angeerbte Triebe vermutet, zu retten, dem lebensfroher Kinde das
Kloster als einzigen sichern Hafen vorstellt.

Da kommt ein Brief, worin der Besuch Hünschens, eines Vetters von
Annchen, angemeldet wird. Hänschen ist der Sohn einer Jugendliebe des alten
Pfarrers und daher diesem sehr ans Herz gewachsen. Er hat eben sein Abi¬
turientenexamen bestanden und will nach Heidelberg; er kommt nur auf einen
Tag, um sich dem väterlichen Freunde zu zeigen, Abschied zu nehmen und
dann in die goldne Freiheit hinauszustürmen. Aber da sieht er „herrlich in
der Jugend Pranger die Jungfrau vor sich stehn" und verliebt sich in sie,
und Annchen, bereu zurückgedrängte Lebenslust durch den frischen Windhauch,


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[0477] Jugend würdigerweise um eines Umstmids willen, auf den man bisher nicht viel Ge¬ wicht legte, der nun aber doch anfängt, als Borzug betrachtet zu werden: die „Jugend" soll nämlich von echt deutschem Geiste durchweht sein. Das haben nicht nur Blatter behauptet, die, wenn sie auch in deutscher Sprache schreiben, sonst ganz andern Geistes Kinder sind, sondern auch Blätter vou unverfälschter, ehrlicher deutscher Gesinnung. Ich habe dies Urteil mindestens ein Dutzend mal gelesen. Ganz begeistert rief der Kritiker der Täglichen Rund¬ schau aus: „Das französische Schauspiel ist in völliger Auflösung begriffen, das deutsche geht siegreich empor. Endlich hört man doch wieder die Zauber¬ weisen einer echten Poesie.... Ich möchte diejenigen, welche der jungdeutschen Poesie immer wieder vorwerfen, daß sie kein nationales Gewächs sei, in die »Jugend« hineinführen und fragen: Wenn das keine nationale Poesie ist, was ist dann eine?" Donnerwetter! dachte ich bei mir, es sind doch Mordskerle, diese Jung¬ deutschen; sie können alles, nun können sie sogar deutsche Stücke schreiben. Das muß ich sehn! Und so pilgerte ich denn während meines letzten Aufenthalts in Berlin nach dem „Neuen Theater" am Schiffbauerdamm, betrat die üppigen Räume fast in feierlicher Stimmung und sah, als sich der kostbare, resedafarbue Plüschvorhang teilte, mit hochgespannter Erwartungen den kommenden Dingen entgegen. Der Inhalt der „Jugend" ist bald erzählt. Bei einem alten, jovialen katholischen Landpfarrer in Westpreußen lebt die Tochter feiner verstorbnen Schwester, das achtzehnjährige Ankleben. Das Mädchen ist in nicht ganz ge¬ regelten Verhältnissen zur Welt gekommen, denn der Vater — na, kurz, „Vater is nich," wie der Berliner sagt. Eine uneheliche Geburt gehört ja zu den unumgänglichen Erfordernissen eines modernen Theaterstücks. Das ist also nur „natürlich." Weniger natürlich erscheint es schon, daß das Kind über diesen Punkt genau Bescheid weiß und unbefangen darüber spricht, was aller¬ dings zum Teil der junge polnische Kaplan verschuldet, ein strenger Eiferer, der als Beichtvater dem Mädchen fort und fort die Sünde der Mutter vor¬ hält und, um wenigstens die ihm anvertraute Seele der Tochter, in der er allerlei angeerbte Triebe vermutet, zu retten, dem lebensfroher Kinde das Kloster als einzigen sichern Hafen vorstellt. Da kommt ein Brief, worin der Besuch Hünschens, eines Vetters von Annchen, angemeldet wird. Hänschen ist der Sohn einer Jugendliebe des alten Pfarrers und daher diesem sehr ans Herz gewachsen. Er hat eben sein Abi¬ turientenexamen bestanden und will nach Heidelberg; er kommt nur auf einen Tag, um sich dem väterlichen Freunde zu zeigen, Abschied zu nehmen und dann in die goldne Freiheit hinauszustürmen. Aber da sieht er „herrlich in der Jugend Pranger die Jungfrau vor sich stehn" und verliebt sich in sie, und Annchen, bereu zurückgedrängte Lebenslust durch den frischen Windhauch,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/477>, abgerufen am 24.07.2024.