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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Bildung

Geister und Gemüter des Volks ausübte? Wie, wenn man es einmal mit ihr
im Bunde versuchte? Jedermann weiß: der Versuch mißlang in doppelter Be¬
ziehung; die Kirche, als deren Organe nun Polizeisoldaten und Pmiduren er¬
schienen, verlor viel von ihrem alten Ansehn auch in den breiten Schichten des
Volks, und der Staat wurde um so verhaßter, weil er von den Überliefe¬
rungen abwich, die mich sehr vielen Anhängern des absolutistischen Systems
als geheiligt galten.

Die Männer der neuen Zeit, sowohl die, die der scheidenden Negierung
angehörten, wie die andern, die eben jetzt an die Spitze der Geschäfte getreten
sind, haben zu der politischen Persönlichkeit Bachs keine Beziehungen. Der
Name Windischgrätz mag bei allen Radikalen einen unangenehmen .Klang haben;
für uns aber, die wir in der energischen Zurückweisung aller Elemente des
Umsturzes, ob sie nun ihren Ausgangspunkt von nationalen Überschwenglich¬
keiten oder vou sozialen Theorien nehmen, eine der Hauptaufgaben des neuen
Kabinetts sehen, uns gilt er eher als eine gute Vorbedeutung.




Bildung
von Friedrich paulsen (Schluß)
4

achten wir uns über das Wesen der Bildung verständigt habe",
ziehen wir daraus ein paar Folgerungen über Form und Mittel
ihrer Erwerbung.

Unmittelbar ist mit dieser Austastung vou ihrem Wesen ge¬
geben, daß sie nur durch Entwicklung von innen heraus ent¬
stehen kann. Es ist das Grundgesetz alles organischen Lebens, daß es nur
durch Entfaltung von innen heraus Gestalt gewinnt. Eine Wachsfigur wird
durch Drücken und Streichen, eine Marmorstatue durch BeHauen und Meißeln
geformt, ein organischer Körper kann durch mechanische Eingriffe wohl ver¬
krüppelt oder zerstört, aber nicht gebildet werden. Ganz dasselbe gilt von
dem geistigen Leben; es kann nicht von außen durch Ankleben von "Bildungs-
stoffeu," sondern nur durch die Thätigkeit des innern Formprinzips Gestalt
erlangen. Man kann die Jugend Namen und Wörter, Formeln und Para¬
graphen und ganze Lehrbücher der "Bildung" auswendig lernen lassen, und
das geschieht ja täglich in allen Ländern des gebildeten Europas in Tausenden


Bildung

Geister und Gemüter des Volks ausübte? Wie, wenn man es einmal mit ihr
im Bunde versuchte? Jedermann weiß: der Versuch mißlang in doppelter Be¬
ziehung; die Kirche, als deren Organe nun Polizeisoldaten und Pmiduren er¬
schienen, verlor viel von ihrem alten Ansehn auch in den breiten Schichten des
Volks, und der Staat wurde um so verhaßter, weil er von den Überliefe¬
rungen abwich, die mich sehr vielen Anhängern des absolutistischen Systems
als geheiligt galten.

Die Männer der neuen Zeit, sowohl die, die der scheidenden Negierung
angehörten, wie die andern, die eben jetzt an die Spitze der Geschäfte getreten
sind, haben zu der politischen Persönlichkeit Bachs keine Beziehungen. Der
Name Windischgrätz mag bei allen Radikalen einen unangenehmen .Klang haben;
für uns aber, die wir in der energischen Zurückweisung aller Elemente des
Umsturzes, ob sie nun ihren Ausgangspunkt von nationalen Überschwenglich¬
keiten oder vou sozialen Theorien nehmen, eine der Hauptaufgaben des neuen
Kabinetts sehen, uns gilt er eher als eine gute Vorbedeutung.




Bildung
von Friedrich paulsen (Schluß)
4

achten wir uns über das Wesen der Bildung verständigt habe»,
ziehen wir daraus ein paar Folgerungen über Form und Mittel
ihrer Erwerbung.

Unmittelbar ist mit dieser Austastung vou ihrem Wesen ge¬
geben, daß sie nur durch Entwicklung von innen heraus ent¬
stehen kann. Es ist das Grundgesetz alles organischen Lebens, daß es nur
durch Entfaltung von innen heraus Gestalt gewinnt. Eine Wachsfigur wird
durch Drücken und Streichen, eine Marmorstatue durch BeHauen und Meißeln
geformt, ein organischer Körper kann durch mechanische Eingriffe wohl ver¬
krüppelt oder zerstört, aber nicht gebildet werden. Ganz dasselbe gilt von
dem geistigen Leben; es kann nicht von außen durch Ankleben von „Bildungs-
stoffeu," sondern nur durch die Thätigkeit des innern Formprinzips Gestalt
erlangen. Man kann die Jugend Namen und Wörter, Formeln und Para¬
graphen und ganze Lehrbücher der „Bildung" auswendig lernen lassen, und
das geschieht ja täglich in allen Ländern des gebildeten Europas in Tausenden


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[0468] Bildung Geister und Gemüter des Volks ausübte? Wie, wenn man es einmal mit ihr im Bunde versuchte? Jedermann weiß: der Versuch mißlang in doppelter Be¬ ziehung; die Kirche, als deren Organe nun Polizeisoldaten und Pmiduren er¬ schienen, verlor viel von ihrem alten Ansehn auch in den breiten Schichten des Volks, und der Staat wurde um so verhaßter, weil er von den Überliefe¬ rungen abwich, die mich sehr vielen Anhängern des absolutistischen Systems als geheiligt galten. Die Männer der neuen Zeit, sowohl die, die der scheidenden Negierung angehörten, wie die andern, die eben jetzt an die Spitze der Geschäfte getreten sind, haben zu der politischen Persönlichkeit Bachs keine Beziehungen. Der Name Windischgrätz mag bei allen Radikalen einen unangenehmen .Klang haben; für uns aber, die wir in der energischen Zurückweisung aller Elemente des Umsturzes, ob sie nun ihren Ausgangspunkt von nationalen Überschwenglich¬ keiten oder vou sozialen Theorien nehmen, eine der Hauptaufgaben des neuen Kabinetts sehen, uns gilt er eher als eine gute Vorbedeutung. Bildung von Friedrich paulsen (Schluß) 4 achten wir uns über das Wesen der Bildung verständigt habe», ziehen wir daraus ein paar Folgerungen über Form und Mittel ihrer Erwerbung. Unmittelbar ist mit dieser Austastung vou ihrem Wesen ge¬ geben, daß sie nur durch Entwicklung von innen heraus ent¬ stehen kann. Es ist das Grundgesetz alles organischen Lebens, daß es nur durch Entfaltung von innen heraus Gestalt gewinnt. Eine Wachsfigur wird durch Drücken und Streichen, eine Marmorstatue durch BeHauen und Meißeln geformt, ein organischer Körper kann durch mechanische Eingriffe wohl ver¬ krüppelt oder zerstört, aber nicht gebildet werden. Ganz dasselbe gilt von dem geistigen Leben; es kann nicht von außen durch Ankleben von „Bildungs- stoffeu," sondern nur durch die Thätigkeit des innern Formprinzips Gestalt erlangen. Man kann die Jugend Namen und Wörter, Formeln und Para¬ graphen und ganze Lehrbücher der „Bildung" auswendig lernen lassen, und das geschieht ja täglich in allen Ländern des gebildeten Europas in Tausenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/468>, abgerufen am 04.07.2024.