Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschafte"

man in demselben Augenblicke prahlerisch verkündet, es müsse mit Naturnot¬
wendigkeit in kurzer Zeit die soziale Umwälzung erfolgen? Werden sich dann nicht
logisch denkende Leute sagen müssen, wozu sie sich eigentlich den Mühen der
Gewerkschaftsarbeit aussetzen sollen, wenn es doch so wie so bald mit der heu¬
tigen Gesellschaftsordnung zu Ende ist und das neue Zeitalter der Sozial¬
demokratie demnächst anbricht?

Noch reicht der Einfluß Vebels und Liebknechts ans, viele Genossen über
die wahre Lage der Dinge hinwegzutäuschen, noch empfinden selbst die selb¬
ständiger" unter ihnen nur dunkel, wie man sie hinters Licht sührt, und hegen
nur ein unbestimmtes Mißtrauen, ohne ihren Vorwurf scharf formuliren zu
können. Aber die Erkenntnis der Thatsache, daß die Partei da nicht stille
stehen kann, wo sie jetzt steht, nimmt zu.

Die Politik nach dem Sprichwort: Wahns mir den Pelz, aber mach mich
nicht naß, kann auf die Dauer nicht beibehalten werden; zwischen der Marx-
schen Verzweiflungstheorie und der gesunden und nüchternen Praxis der Ge¬
werkschaftsbewegung liegt ein Abgrund, der mit dialektischen Kunststückchen nicht
zu überbrücke": ist. Die Partei muß sich entscheiden, ob sie die soziale Revo¬
lution weiter fördern oder ob sie sie durch Verbesserung der Lage der Arbeiter
in dem bestehenden Staate, namentlich durch eine ehrliche Unterstützung der
Gewerkschaften, hintanhalten und mehr und mehr unmöglich machen will. Wenn
sie den erstern Weg wühlt, so werden sich die vielen verständigen Männer, die
in der gewerkschaftlichen Organisation vereinigt sind und das Rückgrat der
Partei bilden, von ihr zurückziehen, und sie wird, wenn auch vielleicht uach
schweren innern Kämpfen, in das Nichts zurückgeschaudert werden, ans dem
sie hervorgegangen ist. Wählt aber die Partei den letztern Weg, dann steht
sie mit beiden Füßen auf dem Boden des bestehenden Staats, dann hat sie
begonnen, ein gesundes und berechtigtes Glied im Staate zu werden. Wir
wünschen im Interesse unsers ganzen Volks, insbesondre aber der Arbeiter
selbst, daß die sozialdemokratische Partei dem Zuge nach rechts folge.




Die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschafte»

man in demselben Augenblicke prahlerisch verkündet, es müsse mit Naturnot¬
wendigkeit in kurzer Zeit die soziale Umwälzung erfolgen? Werden sich dann nicht
logisch denkende Leute sagen müssen, wozu sie sich eigentlich den Mühen der
Gewerkschaftsarbeit aussetzen sollen, wenn es doch so wie so bald mit der heu¬
tigen Gesellschaftsordnung zu Ende ist und das neue Zeitalter der Sozial¬
demokratie demnächst anbricht?

Noch reicht der Einfluß Vebels und Liebknechts ans, viele Genossen über
die wahre Lage der Dinge hinwegzutäuschen, noch empfinden selbst die selb¬
ständiger» unter ihnen nur dunkel, wie man sie hinters Licht sührt, und hegen
nur ein unbestimmtes Mißtrauen, ohne ihren Vorwurf scharf formuliren zu
können. Aber die Erkenntnis der Thatsache, daß die Partei da nicht stille
stehen kann, wo sie jetzt steht, nimmt zu.

Die Politik nach dem Sprichwort: Wahns mir den Pelz, aber mach mich
nicht naß, kann auf die Dauer nicht beibehalten werden; zwischen der Marx-
schen Verzweiflungstheorie und der gesunden und nüchternen Praxis der Ge¬
werkschaftsbewegung liegt ein Abgrund, der mit dialektischen Kunststückchen nicht
zu überbrücke«: ist. Die Partei muß sich entscheiden, ob sie die soziale Revo¬
lution weiter fördern oder ob sie sie durch Verbesserung der Lage der Arbeiter
in dem bestehenden Staate, namentlich durch eine ehrliche Unterstützung der
Gewerkschaften, hintanhalten und mehr und mehr unmöglich machen will. Wenn
sie den erstern Weg wühlt, so werden sich die vielen verständigen Männer, die
in der gewerkschaftlichen Organisation vereinigt sind und das Rückgrat der
Partei bilden, von ihr zurückziehen, und sie wird, wenn auch vielleicht uach
schweren innern Kämpfen, in das Nichts zurückgeschaudert werden, ans dem
sie hervorgegangen ist. Wählt aber die Partei den letztern Weg, dann steht
sie mit beiden Füßen auf dem Boden des bestehenden Staats, dann hat sie
begonnen, ein gesundes und berechtigtes Glied im Staate zu werden. Wir
wünschen im Interesse unsers ganzen Volks, insbesondre aber der Arbeiter
selbst, daß die sozialdemokratische Partei dem Zuge nach rechts folge.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0464" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216188"/>
          <fw type="header" place="top"> Die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschafte»</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1697" prev="#ID_1696"> man in demselben Augenblicke prahlerisch verkündet, es müsse mit Naturnot¬<lb/>
wendigkeit in kurzer Zeit die soziale Umwälzung erfolgen? Werden sich dann nicht<lb/>
logisch denkende Leute sagen müssen, wozu sie sich eigentlich den Mühen der<lb/>
Gewerkschaftsarbeit aussetzen sollen, wenn es doch so wie so bald mit der heu¬<lb/>
tigen Gesellschaftsordnung zu Ende ist und das neue Zeitalter der Sozial¬<lb/>
demokratie demnächst anbricht?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1698"> Noch reicht der Einfluß Vebels und Liebknechts ans, viele Genossen über<lb/>
die wahre Lage der Dinge hinwegzutäuschen, noch empfinden selbst die selb¬<lb/>
ständiger» unter ihnen nur dunkel, wie man sie hinters Licht sührt, und hegen<lb/>
nur ein unbestimmtes Mißtrauen, ohne ihren Vorwurf scharf formuliren zu<lb/>
können. Aber die Erkenntnis der Thatsache, daß die Partei da nicht stille<lb/>
stehen kann, wo sie jetzt steht, nimmt zu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1699"> Die Politik nach dem Sprichwort: Wahns mir den Pelz, aber mach mich<lb/>
nicht naß, kann auf die Dauer nicht beibehalten werden; zwischen der Marx-<lb/>
schen Verzweiflungstheorie und der gesunden und nüchternen Praxis der Ge¬<lb/>
werkschaftsbewegung liegt ein Abgrund, der mit dialektischen Kunststückchen nicht<lb/>
zu überbrücke«: ist. Die Partei muß sich entscheiden, ob sie die soziale Revo¬<lb/>
lution weiter fördern oder ob sie sie durch Verbesserung der Lage der Arbeiter<lb/>
in dem bestehenden Staate, namentlich durch eine ehrliche Unterstützung der<lb/>
Gewerkschaften, hintanhalten und mehr und mehr unmöglich machen will. Wenn<lb/>
sie den erstern Weg wühlt, so werden sich die vielen verständigen Männer, die<lb/>
in der gewerkschaftlichen Organisation vereinigt sind und das Rückgrat der<lb/>
Partei bilden, von ihr zurückziehen, und sie wird, wenn auch vielleicht uach<lb/>
schweren innern Kämpfen, in das Nichts zurückgeschaudert werden, ans dem<lb/>
sie hervorgegangen ist. Wählt aber die Partei den letztern Weg, dann steht<lb/>
sie mit beiden Füßen auf dem Boden des bestehenden Staats, dann hat sie<lb/>
begonnen, ein gesundes und berechtigtes Glied im Staate zu werden. Wir<lb/>
wünschen im Interesse unsers ganzen Volks, insbesondre aber der Arbeiter<lb/>
selbst, daß die sozialdemokratische Partei dem Zuge nach rechts folge.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0464] Die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschafte» man in demselben Augenblicke prahlerisch verkündet, es müsse mit Naturnot¬ wendigkeit in kurzer Zeit die soziale Umwälzung erfolgen? Werden sich dann nicht logisch denkende Leute sagen müssen, wozu sie sich eigentlich den Mühen der Gewerkschaftsarbeit aussetzen sollen, wenn es doch so wie so bald mit der heu¬ tigen Gesellschaftsordnung zu Ende ist und das neue Zeitalter der Sozial¬ demokratie demnächst anbricht? Noch reicht der Einfluß Vebels und Liebknechts ans, viele Genossen über die wahre Lage der Dinge hinwegzutäuschen, noch empfinden selbst die selb¬ ständiger» unter ihnen nur dunkel, wie man sie hinters Licht sührt, und hegen nur ein unbestimmtes Mißtrauen, ohne ihren Vorwurf scharf formuliren zu können. Aber die Erkenntnis der Thatsache, daß die Partei da nicht stille stehen kann, wo sie jetzt steht, nimmt zu. Die Politik nach dem Sprichwort: Wahns mir den Pelz, aber mach mich nicht naß, kann auf die Dauer nicht beibehalten werden; zwischen der Marx- schen Verzweiflungstheorie und der gesunden und nüchternen Praxis der Ge¬ werkschaftsbewegung liegt ein Abgrund, der mit dialektischen Kunststückchen nicht zu überbrücke«: ist. Die Partei muß sich entscheiden, ob sie die soziale Revo¬ lution weiter fördern oder ob sie sie durch Verbesserung der Lage der Arbeiter in dem bestehenden Staate, namentlich durch eine ehrliche Unterstützung der Gewerkschaften, hintanhalten und mehr und mehr unmöglich machen will. Wenn sie den erstern Weg wühlt, so werden sich die vielen verständigen Männer, die in der gewerkschaftlichen Organisation vereinigt sind und das Rückgrat der Partei bilden, von ihr zurückziehen, und sie wird, wenn auch vielleicht uach schweren innern Kämpfen, in das Nichts zurückgeschaudert werden, ans dem sie hervorgegangen ist. Wählt aber die Partei den letztern Weg, dann steht sie mit beiden Füßen auf dem Boden des bestehenden Staats, dann hat sie begonnen, ein gesundes und berechtigtes Glied im Staate zu werden. Wir wünschen im Interesse unsers ganzen Volks, insbesondre aber der Arbeiter selbst, daß die sozialdemokratische Partei dem Zuge nach rechts folge.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/464
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/464>, abgerufen am 22.07.2024.