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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Herrn von Vollmar. Dem oberflächliche" Beobachter, der sich darauf beschränkt,
die Verhandlungen des Parteitags zu lesen, mag dies unglaublich erscheinen,
und er wird zu der Annahme geneigt sein, daß es sich diesmal um einen rein
persönlichen Streit zwischen Herrn Legler, der "Zentralsvnne" der Gewerk-
schaftsbeweguug, und Herrn Alter gehandelt habe, während in dem Streite
mit Herrn von Vollmar tiefgehende politische Meinungsverschiedenheiten zu
Tage getreten seien. In Wirklichkeit liegt aber die Sache so, daß dem Streite
mit Herrn von Vollmar nur dessen eigne Persönlichkeit, seine überlegne Bil¬
dung und die unerbittliche Logik seiner Gründe Bedeutung verlieh, während
der Opposition der Gewerkschafter nicht die Persönlichkeit ihres Vertreters,
sondern die allgemeine Mißstimmung Bedeutung verlieh, zu deren Organ sich
Herr Legler gemacht hatte.

Wie tiefgehend diese Mißstimmung ist, beweisen setzt die allerorten ab¬
gehaltenen sozialdemokratischen Versammlungen, in denen für Legler Partei ge¬
nommen und das Vorgehen Auers gegen ihn entschieden mißbilligt wird, und
in denen der ganzen Parteileitung, Bebel eingeschlossen, der Vorwurf gemacht
wird, daß sie es mit ihrer angeblichen Freundschaft gegenüber der Gewerk¬
schaftsbewegung nicht aufrichtig meine. Namentlich in Hamburg, dem Mittel¬
punkte der Gewerkschaftsorganisation, dem Sitze des Gewerkschaftskartells, dessen
Borsitzender Legler ist, findet Bersammlnng auf Versammlung statt, in denen
gegen die Art der Behandlung Legiens Resolutionen angenommen und der
Parteileitung unter dem Beifall Tausender von Genossen über ihre einseitige
Bevorzugung der politischen Agitation, über die Unterdrückung der freien
Meinungsäußerung und über ihren Mangel an Aufrichtigkeit Dinge gesagt
werden, die man vor wenigen Jahren noch für unmöglich gehalten hätte.

So wenig Berührungspunkte auch auf den ersten Blick die scheinbar ganz
theoretische Meinungsverschiedenheit zwischen Herrn von Vollmar und den
andern Parteigrößen mit der scheinbar nur praktischen Meinungsverschiedenheit
zwischen Gewerkschaftern und Partei zu haben scheint, so nahe sind sie doch
mit einander verwandt. Was Vollmar in der Studierstube logisch erkannt
hatte, den innern Widerspruch und die Halbheit der Partei, die aus taktischen
Gründen die Revolution zur Zeit verwirft und die Lage der Arbeiter in dem
bestehenden Staate verbessern will, damit sie dadurch immer kampffähiger werden,
die aber gleichwohl darauf hofft, daß die Lage der Arbeiter immer schlechter
und schlechter werde, damit der große Kladderadatsch baldigst eintrete, der sie
zur Herrschaft bringen soll, das haben Legler und Genossen in der praktischen
Arbeit der Gewerkschaftsbewegung empfunden. Und was Vollmar dahin for-
mulirt hat: "Die sozialistische Zukunftsgesellschnft kann nur das Ergebnis einer
langsamen organischen Entwicklung aus dem bestehenden Staate sein, und die
Sozialdemokratie hat die Aufgabe, diese Entwicklung durch ehrliche Mitarbeit
in dem bestehenden Staate zu beschleunigen, nicht aber diese Mitarbeit als eine


Herrn von Vollmar. Dem oberflächliche» Beobachter, der sich darauf beschränkt,
die Verhandlungen des Parteitags zu lesen, mag dies unglaublich erscheinen,
und er wird zu der Annahme geneigt sein, daß es sich diesmal um einen rein
persönlichen Streit zwischen Herrn Legler, der „Zentralsvnne" der Gewerk-
schaftsbeweguug, und Herrn Alter gehandelt habe, während in dem Streite
mit Herrn von Vollmar tiefgehende politische Meinungsverschiedenheiten zu
Tage getreten seien. In Wirklichkeit liegt aber die Sache so, daß dem Streite
mit Herrn von Vollmar nur dessen eigne Persönlichkeit, seine überlegne Bil¬
dung und die unerbittliche Logik seiner Gründe Bedeutung verlieh, während
der Opposition der Gewerkschafter nicht die Persönlichkeit ihres Vertreters,
sondern die allgemeine Mißstimmung Bedeutung verlieh, zu deren Organ sich
Herr Legler gemacht hatte.

Wie tiefgehend diese Mißstimmung ist, beweisen setzt die allerorten ab¬
gehaltenen sozialdemokratischen Versammlungen, in denen für Legler Partei ge¬
nommen und das Vorgehen Auers gegen ihn entschieden mißbilligt wird, und
in denen der ganzen Parteileitung, Bebel eingeschlossen, der Vorwurf gemacht
wird, daß sie es mit ihrer angeblichen Freundschaft gegenüber der Gewerk¬
schaftsbewegung nicht aufrichtig meine. Namentlich in Hamburg, dem Mittel¬
punkte der Gewerkschaftsorganisation, dem Sitze des Gewerkschaftskartells, dessen
Borsitzender Legler ist, findet Bersammlnng auf Versammlung statt, in denen
gegen die Art der Behandlung Legiens Resolutionen angenommen und der
Parteileitung unter dem Beifall Tausender von Genossen über ihre einseitige
Bevorzugung der politischen Agitation, über die Unterdrückung der freien
Meinungsäußerung und über ihren Mangel an Aufrichtigkeit Dinge gesagt
werden, die man vor wenigen Jahren noch für unmöglich gehalten hätte.

So wenig Berührungspunkte auch auf den ersten Blick die scheinbar ganz
theoretische Meinungsverschiedenheit zwischen Herrn von Vollmar und den
andern Parteigrößen mit der scheinbar nur praktischen Meinungsverschiedenheit
zwischen Gewerkschaftern und Partei zu haben scheint, so nahe sind sie doch
mit einander verwandt. Was Vollmar in der Studierstube logisch erkannt
hatte, den innern Widerspruch und die Halbheit der Partei, die aus taktischen
Gründen die Revolution zur Zeit verwirft und die Lage der Arbeiter in dem
bestehenden Staate verbessern will, damit sie dadurch immer kampffähiger werden,
die aber gleichwohl darauf hofft, daß die Lage der Arbeiter immer schlechter
und schlechter werde, damit der große Kladderadatsch baldigst eintrete, der sie
zur Herrschaft bringen soll, das haben Legler und Genossen in der praktischen
Arbeit der Gewerkschaftsbewegung empfunden. Und was Vollmar dahin for-
mulirt hat: „Die sozialistische Zukunftsgesellschnft kann nur das Ergebnis einer
langsamen organischen Entwicklung aus dem bestehenden Staate sein, und die
Sozialdemokratie hat die Aufgabe, diese Entwicklung durch ehrliche Mitarbeit
in dem bestehenden Staate zu beschleunigen, nicht aber diese Mitarbeit als eine


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[0461] Herrn von Vollmar. Dem oberflächliche» Beobachter, der sich darauf beschränkt, die Verhandlungen des Parteitags zu lesen, mag dies unglaublich erscheinen, und er wird zu der Annahme geneigt sein, daß es sich diesmal um einen rein persönlichen Streit zwischen Herrn Legler, der „Zentralsvnne" der Gewerk- schaftsbeweguug, und Herrn Alter gehandelt habe, während in dem Streite mit Herrn von Vollmar tiefgehende politische Meinungsverschiedenheiten zu Tage getreten seien. In Wirklichkeit liegt aber die Sache so, daß dem Streite mit Herrn von Vollmar nur dessen eigne Persönlichkeit, seine überlegne Bil¬ dung und die unerbittliche Logik seiner Gründe Bedeutung verlieh, während der Opposition der Gewerkschafter nicht die Persönlichkeit ihres Vertreters, sondern die allgemeine Mißstimmung Bedeutung verlieh, zu deren Organ sich Herr Legler gemacht hatte. Wie tiefgehend diese Mißstimmung ist, beweisen setzt die allerorten ab¬ gehaltenen sozialdemokratischen Versammlungen, in denen für Legler Partei ge¬ nommen und das Vorgehen Auers gegen ihn entschieden mißbilligt wird, und in denen der ganzen Parteileitung, Bebel eingeschlossen, der Vorwurf gemacht wird, daß sie es mit ihrer angeblichen Freundschaft gegenüber der Gewerk¬ schaftsbewegung nicht aufrichtig meine. Namentlich in Hamburg, dem Mittel¬ punkte der Gewerkschaftsorganisation, dem Sitze des Gewerkschaftskartells, dessen Borsitzender Legler ist, findet Bersammlnng auf Versammlung statt, in denen gegen die Art der Behandlung Legiens Resolutionen angenommen und der Parteileitung unter dem Beifall Tausender von Genossen über ihre einseitige Bevorzugung der politischen Agitation, über die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung und über ihren Mangel an Aufrichtigkeit Dinge gesagt werden, die man vor wenigen Jahren noch für unmöglich gehalten hätte. So wenig Berührungspunkte auch auf den ersten Blick die scheinbar ganz theoretische Meinungsverschiedenheit zwischen Herrn von Vollmar und den andern Parteigrößen mit der scheinbar nur praktischen Meinungsverschiedenheit zwischen Gewerkschaftern und Partei zu haben scheint, so nahe sind sie doch mit einander verwandt. Was Vollmar in der Studierstube logisch erkannt hatte, den innern Widerspruch und die Halbheit der Partei, die aus taktischen Gründen die Revolution zur Zeit verwirft und die Lage der Arbeiter in dem bestehenden Staate verbessern will, damit sie dadurch immer kampffähiger werden, die aber gleichwohl darauf hofft, daß die Lage der Arbeiter immer schlechter und schlechter werde, damit der große Kladderadatsch baldigst eintrete, der sie zur Herrschaft bringen soll, das haben Legler und Genossen in der praktischen Arbeit der Gewerkschaftsbewegung empfunden. Und was Vollmar dahin for- mulirt hat: „Die sozialistische Zukunftsgesellschnft kann nur das Ergebnis einer langsamen organischen Entwicklung aus dem bestehenden Staate sein, und die Sozialdemokratie hat die Aufgabe, diese Entwicklung durch ehrliche Mitarbeit in dem bestehenden Staate zu beschleunigen, nicht aber diese Mitarbeit als eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/461>, abgerufen am 22.07.2024.