Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Flüchtlinge

Soll ich noch weitere Beweise bringen, soll ich zeigen, wie auch das ent¬
gegengesetzte Prinzip in der Seele des Arbeiters im Zollingschen Romane
thätig wird, oder wie auf Seiten der Arbeitgeber Gewährung und Versagung
lebendig werden? Ich denke, dem Leser die Mühe sparen zu dürfe". Wenn
er selbst das Buch in die Hand nimmt, wird er finden, daß überall jene Ob¬
jektivität herrscht, an die allein die volle künstlerische Wirkung geknüpft ist.
"Jenseits von Gut und Böse" ist die moderne Forderung: hier ist sie erfüllt.
Nicht, als ob der Dichter selber kein Urteil hätte, er hat es sogar überall,
nur hält er sorgfältig damit zurück. Denn nicht er will entscheiden, sondern
der Leser soll das Urteil fällen, und selbst wenn er diesem damit vorzugreifen
scheint, daß er schließlich dem Guten zum Siege verhilft, so thut er es doch
mit einer so fest an die Thatsachen geknüpften Motivirung, daß über die Not¬
wendigkeit des Ausgangs nirgends ein Zweifel aufkommen kann.

Wenn ich trotzdem über einen Punkt einen Tadel nicht unterdrücke, so
erstreckt er sich doch auf etwas Nebensächliches. Lene, die schon erwähnte
Kammerzofe der Frau Leuz, ist augenscheinlich vom Dichter mit besondrer
Vorliebe gezeichnet worden. Sie ist auch von ihm dazu ausersehen, das
Hindernis hinwegzuräumen, das dem Glück der beiden Liebenden im Roman
entgegensteht. Dagegen ist nichts einzuwenden, und sie muß es auch, so wie
ihre Natur sie treibt. Aber war es nötig, daß sie, um das Glück andrer zu
fördern, selber mit dem Bewußtsein eines schweren Verbrechens auf der Seele
in deu Tod ging? Hier klafft eine Lücke in der Erzählung, die das tiefe
Gefühl der Befriedigung, das deu Leser überall sonst erfüllt, wesentlich be¬
einträchtigt.


Arnold Fo?ke


Die Flüchtlinge
Line Geschichte von der Landstraße
(Fortsetzung)

war tief in der Nacht, als sie endlich erwachten. Lucie fuhr
erschrocken empor und mußte sich erst besinnen, wie es kam, daß sie
sich mitten im Walde befand. Franz bedürfte der Überlegung nicht,
ihm waren die Ereignisse des vergangnen Tages in die Träume
gefolgt und hatte" ihn geängstigt. Als er der Geliebten davon
erzählte, dachte sie nach.

Mir hat mich geträumt, tröstete sie ihn, und nun weiß ichs wieder, Liebster, es
war etwas Schönes und Holdes. Wir sichren aus dem Meere, auf schwankendem


Die Flüchtlinge

Soll ich noch weitere Beweise bringen, soll ich zeigen, wie auch das ent¬
gegengesetzte Prinzip in der Seele des Arbeiters im Zollingschen Romane
thätig wird, oder wie auf Seiten der Arbeitgeber Gewährung und Versagung
lebendig werden? Ich denke, dem Leser die Mühe sparen zu dürfe». Wenn
er selbst das Buch in die Hand nimmt, wird er finden, daß überall jene Ob¬
jektivität herrscht, an die allein die volle künstlerische Wirkung geknüpft ist.
„Jenseits von Gut und Böse" ist die moderne Forderung: hier ist sie erfüllt.
Nicht, als ob der Dichter selber kein Urteil hätte, er hat es sogar überall,
nur hält er sorgfältig damit zurück. Denn nicht er will entscheiden, sondern
der Leser soll das Urteil fällen, und selbst wenn er diesem damit vorzugreifen
scheint, daß er schließlich dem Guten zum Siege verhilft, so thut er es doch
mit einer so fest an die Thatsachen geknüpften Motivirung, daß über die Not¬
wendigkeit des Ausgangs nirgends ein Zweifel aufkommen kann.

Wenn ich trotzdem über einen Punkt einen Tadel nicht unterdrücke, so
erstreckt er sich doch auf etwas Nebensächliches. Lene, die schon erwähnte
Kammerzofe der Frau Leuz, ist augenscheinlich vom Dichter mit besondrer
Vorliebe gezeichnet worden. Sie ist auch von ihm dazu ausersehen, das
Hindernis hinwegzuräumen, das dem Glück der beiden Liebenden im Roman
entgegensteht. Dagegen ist nichts einzuwenden, und sie muß es auch, so wie
ihre Natur sie treibt. Aber war es nötig, daß sie, um das Glück andrer zu
fördern, selber mit dem Bewußtsein eines schweren Verbrechens auf der Seele
in deu Tod ging? Hier klafft eine Lücke in der Erzählung, die das tiefe
Gefühl der Befriedigung, das deu Leser überall sonst erfüllt, wesentlich be¬
einträchtigt.


Arnold Fo?ke


Die Flüchtlinge
Line Geschichte von der Landstraße
(Fortsetzung)

war tief in der Nacht, als sie endlich erwachten. Lucie fuhr
erschrocken empor und mußte sich erst besinnen, wie es kam, daß sie
sich mitten im Walde befand. Franz bedürfte der Überlegung nicht,
ihm waren die Ereignisse des vergangnen Tages in die Träume
gefolgt und hatte« ihn geängstigt. Als er der Geliebten davon
erzählte, dachte sie nach.

Mir hat mich geträumt, tröstete sie ihn, und nun weiß ichs wieder, Liebster, es
war etwas Schönes und Holdes. Wir sichren aus dem Meere, auf schwankendem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0437" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216161"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Flüchtlinge</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1493"> Soll ich noch weitere Beweise bringen, soll ich zeigen, wie auch das ent¬<lb/>
gegengesetzte Prinzip in der Seele des Arbeiters im Zollingschen Romane<lb/>
thätig wird, oder wie auf Seiten der Arbeitgeber Gewährung und Versagung<lb/>
lebendig werden? Ich denke, dem Leser die Mühe sparen zu dürfe». Wenn<lb/>
er selbst das Buch in die Hand nimmt, wird er finden, daß überall jene Ob¬<lb/>
jektivität herrscht, an die allein die volle künstlerische Wirkung geknüpft ist.<lb/>
&#x201E;Jenseits von Gut und Böse" ist die moderne Forderung: hier ist sie erfüllt.<lb/>
Nicht, als ob der Dichter selber kein Urteil hätte, er hat es sogar überall,<lb/>
nur hält er sorgfältig damit zurück. Denn nicht er will entscheiden, sondern<lb/>
der Leser soll das Urteil fällen, und selbst wenn er diesem damit vorzugreifen<lb/>
scheint, daß er schließlich dem Guten zum Siege verhilft, so thut er es doch<lb/>
mit einer so fest an die Thatsachen geknüpften Motivirung, daß über die Not¬<lb/>
wendigkeit des Ausgangs nirgends ein Zweifel aufkommen kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1494"> Wenn ich trotzdem über einen Punkt einen Tadel nicht unterdrücke, so<lb/>
erstreckt er sich doch auf etwas Nebensächliches. Lene, die schon erwähnte<lb/>
Kammerzofe der Frau Leuz, ist augenscheinlich vom Dichter mit besondrer<lb/>
Vorliebe gezeichnet worden. Sie ist auch von ihm dazu ausersehen, das<lb/>
Hindernis hinwegzuräumen, das dem Glück der beiden Liebenden im Roman<lb/>
entgegensteht. Dagegen ist nichts einzuwenden, und sie muß es auch, so wie<lb/>
ihre Natur sie treibt. Aber war es nötig, daß sie, um das Glück andrer zu<lb/>
fördern, selber mit dem Bewußtsein eines schweren Verbrechens auf der Seele<lb/>
in deu Tod ging? Hier klafft eine Lücke in der Erzählung, die das tiefe<lb/>
Gefühl der Befriedigung, das deu Leser überall sonst erfüllt, wesentlich be¬<lb/>
einträchtigt.</p><lb/>
          <note type="byline"> Arnold Fo?ke</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Flüchtlinge<lb/>
Line Geschichte von der Landstraße<lb/>
(Fortsetzung)</head><lb/>
          <div n="2">
            <head/><lb/>
            <p xml:id="ID_1495"> war tief in der Nacht, als sie endlich erwachten. Lucie fuhr<lb/>
erschrocken empor und mußte sich erst besinnen, wie es kam, daß sie<lb/>
sich mitten im Walde befand. Franz bedürfte der Überlegung nicht,<lb/>
ihm waren die Ereignisse des vergangnen Tages in die Träume<lb/>
gefolgt und hatte« ihn geängstigt. Als er der Geliebten davon<lb/>
erzählte, dachte sie nach.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1496" next="#ID_1497"> Mir hat mich geträumt, tröstete sie ihn, und nun weiß ichs wieder, Liebster, es<lb/>
war etwas Schönes und Holdes.  Wir sichren aus dem Meere, auf schwankendem</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0437] Die Flüchtlinge Soll ich noch weitere Beweise bringen, soll ich zeigen, wie auch das ent¬ gegengesetzte Prinzip in der Seele des Arbeiters im Zollingschen Romane thätig wird, oder wie auf Seiten der Arbeitgeber Gewährung und Versagung lebendig werden? Ich denke, dem Leser die Mühe sparen zu dürfe». Wenn er selbst das Buch in die Hand nimmt, wird er finden, daß überall jene Ob¬ jektivität herrscht, an die allein die volle künstlerische Wirkung geknüpft ist. „Jenseits von Gut und Böse" ist die moderne Forderung: hier ist sie erfüllt. Nicht, als ob der Dichter selber kein Urteil hätte, er hat es sogar überall, nur hält er sorgfältig damit zurück. Denn nicht er will entscheiden, sondern der Leser soll das Urteil fällen, und selbst wenn er diesem damit vorzugreifen scheint, daß er schließlich dem Guten zum Siege verhilft, so thut er es doch mit einer so fest an die Thatsachen geknüpften Motivirung, daß über die Not¬ wendigkeit des Ausgangs nirgends ein Zweifel aufkommen kann. Wenn ich trotzdem über einen Punkt einen Tadel nicht unterdrücke, so erstreckt er sich doch auf etwas Nebensächliches. Lene, die schon erwähnte Kammerzofe der Frau Leuz, ist augenscheinlich vom Dichter mit besondrer Vorliebe gezeichnet worden. Sie ist auch von ihm dazu ausersehen, das Hindernis hinwegzuräumen, das dem Glück der beiden Liebenden im Roman entgegensteht. Dagegen ist nichts einzuwenden, und sie muß es auch, so wie ihre Natur sie treibt. Aber war es nötig, daß sie, um das Glück andrer zu fördern, selber mit dem Bewußtsein eines schweren Verbrechens auf der Seele in deu Tod ging? Hier klafft eine Lücke in der Erzählung, die das tiefe Gefühl der Befriedigung, das deu Leser überall sonst erfüllt, wesentlich be¬ einträchtigt. Arnold Fo?ke Die Flüchtlinge Line Geschichte von der Landstraße (Fortsetzung) war tief in der Nacht, als sie endlich erwachten. Lucie fuhr erschrocken empor und mußte sich erst besinnen, wie es kam, daß sie sich mitten im Walde befand. Franz bedürfte der Überlegung nicht, ihm waren die Ereignisse des vergangnen Tages in die Träume gefolgt und hatte« ihn geängstigt. Als er der Geliebten davon erzählte, dachte sie nach. Mir hat mich geträumt, tröstete sie ihn, und nun weiß ichs wieder, Liebster, es war etwas Schönes und Holdes. Wir sichren aus dem Meere, auf schwankendem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/437
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/437>, abgerufen am 22.07.2024.