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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Million

zu Homers Zeiten die Forderung äußerster Sachlichkeit unerbittlich, und kann
sie jetzt, wo das Epos die Form des Romans angenommen hat, außer Acht
gelassen werden?

Der soziale Roman beherrscht das Feld von Friedrich Spielhagen bis zu
Zola. Mit Absicht habe ich die beiden hierher gestellt, weil sie die Pole einer
Achse darstellen, die durch die Romanlitteratur der modernen Völker hindurch¬
geht. Beide behandeln in ihren Werken das soziale Problem, aber wie grund¬
verschieden sind sie in der Form dieser Behandlung! Der eine vorzugsweise
reflektirend, der andre immer und bis ins kleinste hinein beschreibend, der eine
der Mann des Gefühls und der starken Überzeugungen, die er mit mehr oder
minder erregtem Raisonnement auch dein Leser beizubringen sucht, der andre
der Mann der trocknen Wissenschaft, der ätiologisch ein Datum ans andre fügt
und in seiner horizontalen Weiterbewegung kaum irgendwo eine krönende Höhe
zu einem zusammenfassenden Überblick zu gewinnen vermag, der eine mit Ge¬
fühlen, mit Vermlnftgrnnden und Ideen auf uns eindringend, der andre im
wechselnden Spiel der Erscheinungen die Realität erblickend und nur damit zu
wirken versuchend.

Es ist augenscheinlich, daß, wie sehr auch beide von der Nichtigkeit des
eingenommnen Standpunkts überzeugt siud, doch der eine von der künstlerischen
Wahrheit so weit entfernt ist, wie der andre. Um kurz zu sein: diese künstle¬
rische Wahrheit ist noch immer dieselbe, wie zu den Zeiten des alten Homer.
Nicht selber predigen, sondern die bewegende Kraft in das Thun der Menschen
hineinlegen, nicht dieses Thun bloß äußerlich beschreiben und die einzelnen Er¬
eignisse mechanisch aneinanderreihen, sondern aus dem Grunde ihres Seins sie
hervorspringen lassen, das ist es, worauf es ankommt, und noch immer ist der
der größte Dichter, der so die Kunst mit Sicherheit zu üben vermag.

Von diesem Standpunkte der Beurteilung aus verdient auch der neueste
Roman Theophil Zollings: Die Million, der zuerst in der Deutschen Ro¬
manbibliothek erschien und jetzt die Buchform erhalten hat,*) die höchste Aner¬
kennung. Schon aus dem Titel kann man sehen, daß der Stoff dein Wellen¬
schlage des augenblicklich flutenden Lebens entnommen ist. Es ist der Kampf
ums Dasein, wo er in der Gegenwart am unerbittlichsten tobt, an der Börse,
in den Kontors der reichen Kaufleute und großen Fabrikherren, in den Spinn-
sülen der mit Dampf arbeitenden Textilindustrie. Andre Punkte liegen ans der
Peripherie der Handlung: die Bier- und Schnapskneipen der arbeitenden Masse,
die Boudoirs der vornehmen Frauen aus der großen Welt des Adels und
des bürgerlichen Reichtums, die Sport- und Rennplätze der goldnen Inter¬
nationale. Die Handlung selbst geht ans den uralten Gegensätzen hervor, die
von jeher das Leben der Menschen in Bewegung gesetzt haben: auf der einen



*) Verlag der Gegenwart, Berlin ^V, 57.
Die Million

zu Homers Zeiten die Forderung äußerster Sachlichkeit unerbittlich, und kann
sie jetzt, wo das Epos die Form des Romans angenommen hat, außer Acht
gelassen werden?

Der soziale Roman beherrscht das Feld von Friedrich Spielhagen bis zu
Zola. Mit Absicht habe ich die beiden hierher gestellt, weil sie die Pole einer
Achse darstellen, die durch die Romanlitteratur der modernen Völker hindurch¬
geht. Beide behandeln in ihren Werken das soziale Problem, aber wie grund¬
verschieden sind sie in der Form dieser Behandlung! Der eine vorzugsweise
reflektirend, der andre immer und bis ins kleinste hinein beschreibend, der eine
der Mann des Gefühls und der starken Überzeugungen, die er mit mehr oder
minder erregtem Raisonnement auch dein Leser beizubringen sucht, der andre
der Mann der trocknen Wissenschaft, der ätiologisch ein Datum ans andre fügt
und in seiner horizontalen Weiterbewegung kaum irgendwo eine krönende Höhe
zu einem zusammenfassenden Überblick zu gewinnen vermag, der eine mit Ge¬
fühlen, mit Vermlnftgrnnden und Ideen auf uns eindringend, der andre im
wechselnden Spiel der Erscheinungen die Realität erblickend und nur damit zu
wirken versuchend.

Es ist augenscheinlich, daß, wie sehr auch beide von der Nichtigkeit des
eingenommnen Standpunkts überzeugt siud, doch der eine von der künstlerischen
Wahrheit so weit entfernt ist, wie der andre. Um kurz zu sein: diese künstle¬
rische Wahrheit ist noch immer dieselbe, wie zu den Zeiten des alten Homer.
Nicht selber predigen, sondern die bewegende Kraft in das Thun der Menschen
hineinlegen, nicht dieses Thun bloß äußerlich beschreiben und die einzelnen Er¬
eignisse mechanisch aneinanderreihen, sondern aus dem Grunde ihres Seins sie
hervorspringen lassen, das ist es, worauf es ankommt, und noch immer ist der
der größte Dichter, der so die Kunst mit Sicherheit zu üben vermag.

Von diesem Standpunkte der Beurteilung aus verdient auch der neueste
Roman Theophil Zollings: Die Million, der zuerst in der Deutschen Ro¬
manbibliothek erschien und jetzt die Buchform erhalten hat,*) die höchste Aner¬
kennung. Schon aus dem Titel kann man sehen, daß der Stoff dein Wellen¬
schlage des augenblicklich flutenden Lebens entnommen ist. Es ist der Kampf
ums Dasein, wo er in der Gegenwart am unerbittlichsten tobt, an der Börse,
in den Kontors der reichen Kaufleute und großen Fabrikherren, in den Spinn-
sülen der mit Dampf arbeitenden Textilindustrie. Andre Punkte liegen ans der
Peripherie der Handlung: die Bier- und Schnapskneipen der arbeitenden Masse,
die Boudoirs der vornehmen Frauen aus der großen Welt des Adels und
des bürgerlichen Reichtums, die Sport- und Rennplätze der goldnen Inter¬
nationale. Die Handlung selbst geht ans den uralten Gegensätzen hervor, die
von jeher das Leben der Menschen in Bewegung gesetzt haben: auf der einen



*) Verlag der Gegenwart, Berlin ^V, 57.
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[0434] Die Million zu Homers Zeiten die Forderung äußerster Sachlichkeit unerbittlich, und kann sie jetzt, wo das Epos die Form des Romans angenommen hat, außer Acht gelassen werden? Der soziale Roman beherrscht das Feld von Friedrich Spielhagen bis zu Zola. Mit Absicht habe ich die beiden hierher gestellt, weil sie die Pole einer Achse darstellen, die durch die Romanlitteratur der modernen Völker hindurch¬ geht. Beide behandeln in ihren Werken das soziale Problem, aber wie grund¬ verschieden sind sie in der Form dieser Behandlung! Der eine vorzugsweise reflektirend, der andre immer und bis ins kleinste hinein beschreibend, der eine der Mann des Gefühls und der starken Überzeugungen, die er mit mehr oder minder erregtem Raisonnement auch dein Leser beizubringen sucht, der andre der Mann der trocknen Wissenschaft, der ätiologisch ein Datum ans andre fügt und in seiner horizontalen Weiterbewegung kaum irgendwo eine krönende Höhe zu einem zusammenfassenden Überblick zu gewinnen vermag, der eine mit Ge¬ fühlen, mit Vermlnftgrnnden und Ideen auf uns eindringend, der andre im wechselnden Spiel der Erscheinungen die Realität erblickend und nur damit zu wirken versuchend. Es ist augenscheinlich, daß, wie sehr auch beide von der Nichtigkeit des eingenommnen Standpunkts überzeugt siud, doch der eine von der künstlerischen Wahrheit so weit entfernt ist, wie der andre. Um kurz zu sein: diese künstle¬ rische Wahrheit ist noch immer dieselbe, wie zu den Zeiten des alten Homer. Nicht selber predigen, sondern die bewegende Kraft in das Thun der Menschen hineinlegen, nicht dieses Thun bloß äußerlich beschreiben und die einzelnen Er¬ eignisse mechanisch aneinanderreihen, sondern aus dem Grunde ihres Seins sie hervorspringen lassen, das ist es, worauf es ankommt, und noch immer ist der der größte Dichter, der so die Kunst mit Sicherheit zu üben vermag. Von diesem Standpunkte der Beurteilung aus verdient auch der neueste Roman Theophil Zollings: Die Million, der zuerst in der Deutschen Ro¬ manbibliothek erschien und jetzt die Buchform erhalten hat,*) die höchste Aner¬ kennung. Schon aus dem Titel kann man sehen, daß der Stoff dein Wellen¬ schlage des augenblicklich flutenden Lebens entnommen ist. Es ist der Kampf ums Dasein, wo er in der Gegenwart am unerbittlichsten tobt, an der Börse, in den Kontors der reichen Kaufleute und großen Fabrikherren, in den Spinn- sülen der mit Dampf arbeitenden Textilindustrie. Andre Punkte liegen ans der Peripherie der Handlung: die Bier- und Schnapskneipen der arbeitenden Masse, die Boudoirs der vornehmen Frauen aus der großen Welt des Adels und des bürgerlichen Reichtums, die Sport- und Rennplätze der goldnen Inter¬ nationale. Die Handlung selbst geht ans den uralten Gegensätzen hervor, die von jeher das Leben der Menschen in Bewegung gesetzt haben: auf der einen *) Verlag der Gegenwart, Berlin ^V, 57.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/434>, abgerufen am 24.07.2024.