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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Das letzte Ziel der Bildung in dieser Absicht wäre, dnß jemand von sich in
Wahrheit sagen konnte, es sei ihm nichts Menschliches fremd; freilich ein un¬
erreichbares Ziel, dies Ziel Faustischen Begehrens:


Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
Will ich in meinem innern Selbst genießen.

(Schluß folgt)



Die Million

eit deu frühestem Tagen der Menschheit ist zur Beurteilung eines
Epos, wenn es anders den vollgiltigen menschlichen Inhalt hatte,
nichts andres maßgebend gewesen als die Frage, wie es erzählt
ist. Zu eiuer guten Erzählung aber gehört nicht bloß die folge¬
richtige Durchführung des Gedankens, die sichere Motivirung der
Handlung, nicht bloß die entsprechende Diktion, die Sinnlichkeit des Ausdrucks
und was dergleichen mehr ist, sondern in erster Linie das Vermögen des
Dichters, die Dinge, die er behandelt, selber zu uns sprechen zu lassen. Wenn
sich der Dichter der Odhssee hätte verleiten lassen können, den Kampf einer
mächtigen Aristokratie mit dem patriarchalischen Königtum, der den Inhalt
seines Epos bildet, in der Weise zu schildern, daß er nicht einen thatsächlichen
Bericht natürlicher Vorgänge an Menschen und Dingen gegeben, sondern seine
eigne-Meinung von diesen Geschehnissen in den Vordergrund gestellt hätte, so
würde er nicht zu der Geltung in den Gemütern der Menschen gekommen
sein, die er noch jetzt hat, und die er auch immer behaupten wird.

A"es in unsern Tagen tobt ein heftiger Kampf, ein Krieg, der seinem
Wesen nach auf dieselben Gründe zurückzuführen ist, wie alle ihm voraus-
gegangnen Ständekämpfe, der aber doch in der Form sehr von ihnen verschieden
ist. Unsre gegenwärtige Zeit steht unter dem Zeichen des Sozialismus, das
heißt, daß auf allen Gebieten des Lebens, nicht bloß in den Niederungen,
sondern auch auf den Höhen, von hüben und drüben das heiße Streben thätig
ist, dem Dasein der Völker in der Form des Staats die möglichst breite Grund¬
lage zu geben. Kein Wunder, wenn auch die Kunst in allen ihren Richtungen
bemüht ist, diesem Ringen den angemessenen Ausdruck zu geben. Welches kann
aber, oder welches muß der Ausdruck sein, der in der Kunstthätigkeit die eben
bezeichnete Lebensbewegung zu begleiten hat? Ist es überhaupt notwendig,
daß sich in dem Fortschreiten der Zeit, wenn der Menschheit immer neue und
höhere Ziele winken, auch das innere Gesetz über jenen Ausdruck ändere? War


Grenzboten IV 1893 54

Das letzte Ziel der Bildung in dieser Absicht wäre, dnß jemand von sich in
Wahrheit sagen konnte, es sei ihm nichts Menschliches fremd; freilich ein un¬
erreichbares Ziel, dies Ziel Faustischen Begehrens:


Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
Will ich in meinem innern Selbst genießen.

(Schluß folgt)



Die Million

eit deu frühestem Tagen der Menschheit ist zur Beurteilung eines
Epos, wenn es anders den vollgiltigen menschlichen Inhalt hatte,
nichts andres maßgebend gewesen als die Frage, wie es erzählt
ist. Zu eiuer guten Erzählung aber gehört nicht bloß die folge¬
richtige Durchführung des Gedankens, die sichere Motivirung der
Handlung, nicht bloß die entsprechende Diktion, die Sinnlichkeit des Ausdrucks
und was dergleichen mehr ist, sondern in erster Linie das Vermögen des
Dichters, die Dinge, die er behandelt, selber zu uns sprechen zu lassen. Wenn
sich der Dichter der Odhssee hätte verleiten lassen können, den Kampf einer
mächtigen Aristokratie mit dem patriarchalischen Königtum, der den Inhalt
seines Epos bildet, in der Weise zu schildern, daß er nicht einen thatsächlichen
Bericht natürlicher Vorgänge an Menschen und Dingen gegeben, sondern seine
eigne-Meinung von diesen Geschehnissen in den Vordergrund gestellt hätte, so
würde er nicht zu der Geltung in den Gemütern der Menschen gekommen
sein, die er noch jetzt hat, und die er auch immer behaupten wird.

A»es in unsern Tagen tobt ein heftiger Kampf, ein Krieg, der seinem
Wesen nach auf dieselben Gründe zurückzuführen ist, wie alle ihm voraus-
gegangnen Ständekämpfe, der aber doch in der Form sehr von ihnen verschieden
ist. Unsre gegenwärtige Zeit steht unter dem Zeichen des Sozialismus, das
heißt, daß auf allen Gebieten des Lebens, nicht bloß in den Niederungen,
sondern auch auf den Höhen, von hüben und drüben das heiße Streben thätig
ist, dem Dasein der Völker in der Form des Staats die möglichst breite Grund¬
lage zu geben. Kein Wunder, wenn auch die Kunst in allen ihren Richtungen
bemüht ist, diesem Ringen den angemessenen Ausdruck zu geben. Welches kann
aber, oder welches muß der Ausdruck sein, der in der Kunstthätigkeit die eben
bezeichnete Lebensbewegung zu begleiten hat? Ist es überhaupt notwendig,
daß sich in dem Fortschreiten der Zeit, wenn der Menschheit immer neue und
höhere Ziele winken, auch das innere Gesetz über jenen Ausdruck ändere? War


Grenzboten IV 1893 54
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[0433] Das letzte Ziel der Bildung in dieser Absicht wäre, dnß jemand von sich in Wahrheit sagen konnte, es sei ihm nichts Menschliches fremd; freilich ein un¬ erreichbares Ziel, dies Ziel Faustischen Begehrens: Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, Will ich in meinem innern Selbst genießen. (Schluß folgt) [Abbildung] Die Million eit deu frühestem Tagen der Menschheit ist zur Beurteilung eines Epos, wenn es anders den vollgiltigen menschlichen Inhalt hatte, nichts andres maßgebend gewesen als die Frage, wie es erzählt ist. Zu eiuer guten Erzählung aber gehört nicht bloß die folge¬ richtige Durchführung des Gedankens, die sichere Motivirung der Handlung, nicht bloß die entsprechende Diktion, die Sinnlichkeit des Ausdrucks und was dergleichen mehr ist, sondern in erster Linie das Vermögen des Dichters, die Dinge, die er behandelt, selber zu uns sprechen zu lassen. Wenn sich der Dichter der Odhssee hätte verleiten lassen können, den Kampf einer mächtigen Aristokratie mit dem patriarchalischen Königtum, der den Inhalt seines Epos bildet, in der Weise zu schildern, daß er nicht einen thatsächlichen Bericht natürlicher Vorgänge an Menschen und Dingen gegeben, sondern seine eigne-Meinung von diesen Geschehnissen in den Vordergrund gestellt hätte, so würde er nicht zu der Geltung in den Gemütern der Menschen gekommen sein, die er noch jetzt hat, und die er auch immer behaupten wird. A»es in unsern Tagen tobt ein heftiger Kampf, ein Krieg, der seinem Wesen nach auf dieselben Gründe zurückzuführen ist, wie alle ihm voraus- gegangnen Ständekämpfe, der aber doch in der Form sehr von ihnen verschieden ist. Unsre gegenwärtige Zeit steht unter dem Zeichen des Sozialismus, das heißt, daß auf allen Gebieten des Lebens, nicht bloß in den Niederungen, sondern auch auf den Höhen, von hüben und drüben das heiße Streben thätig ist, dem Dasein der Völker in der Form des Staats die möglichst breite Grund¬ lage zu geben. Kein Wunder, wenn auch die Kunst in allen ihren Richtungen bemüht ist, diesem Ringen den angemessenen Ausdruck zu geben. Welches kann aber, oder welches muß der Ausdruck sein, der in der Kunstthätigkeit die eben bezeichnete Lebensbewegung zu begleiten hat? Ist es überhaupt notwendig, daß sich in dem Fortschreiten der Zeit, wenn der Menschheit immer neue und höhere Ziele winken, auch das innere Gesetz über jenen Ausdruck ändere? War Grenzboten IV 1893 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/433>, abgerufen am 04.07.2024.