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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die richtige Art und Weise, wie dem Bürger des modernen Großstaats eine
wirksame und wohlthätige Teilnahme an der Gesetzgebung möglich gemacht
werden könnte, ist noch nicht entdeckt. Nur gewisse Zielpunkte sind sichtbar,
die bei Umgestaltungen im Auge behalten werden müssen. Auf seinen Anteil
an der gesetzgebenden Gewalt, der noch nicht den zwanzigsten Teil eines Mil¬
liontels beträgt (denn der Bundesrat hat die stärkere Hälfte, und wahlberech¬
tigt sind etwa zehn Millionen), wird jeder Verstündige um so lieber verzichten,
als es lediglich von dem dümmsten aller Götter, vom Zufall abhängt, was
das winzige Zipfelchen Staatsbürgerrecht, das er in den Hexenkessel zu werfen
hat, für eine Verwendung finden und für eine Wirkung hervorbringen wird.
Was der Staatsbürger, der wirklich ein Staatsbürger und kein Sklave ist,
unzweifelhaft zu verlangen hat, ist nur zweierlei: erstens, daß kein seinen Stand
betreffendes Gesetz gemacht werde ohne Anhörung dieses Standes, zweitens,
daß keines gemacht werde wider den Willen dieses Standes, wenn nicht die
Zahl der Angehörigen der übrigen Stände, die ein seinen Stand schädigendes
Gesetz notwendig finden, die Zahl seiner Standesgenossen ganz bedeutend über¬
wiegt. Demnach muß jeder Stand eine Vertretung haben, die bei ihn an¬
gehenden Fragen ihr Gutachten abzugeben und ein Einspruchsrecht hat. Für
Angelegenheiten, die das ganze Volk angehen und keines einzelnen Verständnis
übersteigen, ist das Referendum nach Schweizer Art eine ganz vortreffliche
Einrichtung.

Die bisherigen Wahlbräuche verwirft auch Wittenberg. Freilich, meint
er, müsse der Gutsbesitzer zur Abwehr fvzialdemokratischer und freisinniger Ver¬
führung auf die Einsicht seiner Arbeiter einwirken. "Etwas anders ist es aber,
wenn man mit Gewalt vorgeht, z. V. nach den Wahlen Leute entläßt, die
freisinnig oder sozialdemokratisch gewählt haben, oder auch solche, die bei der
Arbeit ihren politischen Gesinnungen Ausdruck zu geben pflegen. Wenn solche
in den Fabriken des Fiskus abgelohnt werden, so gönne man diesem Arbeit¬
geber dies geschmackvolle mittelalterliche s?'> Verfahren; aber man ahme es nicht
uach. Mit äußern Mitteln ist noch nie eine Geistesbewegung aus der Welt
geschafft worden." (S. 48.) Im folgenden stellt Wittenberg dann die That¬
sache ins hellste Licht, daß der kleine Mann auf dem Lande bis auf den heu¬
tigen Tag überhaupt noch keine Vertretung hat. In Baiern steht es damit
besser, wie die Verhandlungen der dortigen Abgeordnetenkammer über die Futter-
uot zeigen, aber in Preußen ist das, was man Vertretung der Landwirtschaft
nennt, weiter nichts als die Vertretung der Rittergutsbesitzer, mit deren
Interesse allerdings daß der größern Bauern bis zu einem gewissen Punkte
zusammenfällt. Daß über diesen Punkt hinaus die Interessen beider Stände
auseinandergehen, und daß zwischen dem Kleinbauer und dem Großgrund¬
besitzer überhaupt keine Interessengemeinschaft besteht, sangen die Bauern hie
und da um zu begreifen. Aber sie haben keine eignen Organe, durch die sie


Die richtige Art und Weise, wie dem Bürger des modernen Großstaats eine
wirksame und wohlthätige Teilnahme an der Gesetzgebung möglich gemacht
werden könnte, ist noch nicht entdeckt. Nur gewisse Zielpunkte sind sichtbar,
die bei Umgestaltungen im Auge behalten werden müssen. Auf seinen Anteil
an der gesetzgebenden Gewalt, der noch nicht den zwanzigsten Teil eines Mil¬
liontels beträgt (denn der Bundesrat hat die stärkere Hälfte, und wahlberech¬
tigt sind etwa zehn Millionen), wird jeder Verstündige um so lieber verzichten,
als es lediglich von dem dümmsten aller Götter, vom Zufall abhängt, was
das winzige Zipfelchen Staatsbürgerrecht, das er in den Hexenkessel zu werfen
hat, für eine Verwendung finden und für eine Wirkung hervorbringen wird.
Was der Staatsbürger, der wirklich ein Staatsbürger und kein Sklave ist,
unzweifelhaft zu verlangen hat, ist nur zweierlei: erstens, daß kein seinen Stand
betreffendes Gesetz gemacht werde ohne Anhörung dieses Standes, zweitens,
daß keines gemacht werde wider den Willen dieses Standes, wenn nicht die
Zahl der Angehörigen der übrigen Stände, die ein seinen Stand schädigendes
Gesetz notwendig finden, die Zahl seiner Standesgenossen ganz bedeutend über¬
wiegt. Demnach muß jeder Stand eine Vertretung haben, die bei ihn an¬
gehenden Fragen ihr Gutachten abzugeben und ein Einspruchsrecht hat. Für
Angelegenheiten, die das ganze Volk angehen und keines einzelnen Verständnis
übersteigen, ist das Referendum nach Schweizer Art eine ganz vortreffliche
Einrichtung.

Die bisherigen Wahlbräuche verwirft auch Wittenberg. Freilich, meint
er, müsse der Gutsbesitzer zur Abwehr fvzialdemokratischer und freisinniger Ver¬
führung auf die Einsicht seiner Arbeiter einwirken. „Etwas anders ist es aber,
wenn man mit Gewalt vorgeht, z. V. nach den Wahlen Leute entläßt, die
freisinnig oder sozialdemokratisch gewählt haben, oder auch solche, die bei der
Arbeit ihren politischen Gesinnungen Ausdruck zu geben pflegen. Wenn solche
in den Fabriken des Fiskus abgelohnt werden, so gönne man diesem Arbeit¬
geber dies geschmackvolle mittelalterliche s?'> Verfahren; aber man ahme es nicht
uach. Mit äußern Mitteln ist noch nie eine Geistesbewegung aus der Welt
geschafft worden." (S. 48.) Im folgenden stellt Wittenberg dann die That¬
sache ins hellste Licht, daß der kleine Mann auf dem Lande bis auf den heu¬
tigen Tag überhaupt noch keine Vertretung hat. In Baiern steht es damit
besser, wie die Verhandlungen der dortigen Abgeordnetenkammer über die Futter-
uot zeigen, aber in Preußen ist das, was man Vertretung der Landwirtschaft
nennt, weiter nichts als die Vertretung der Rittergutsbesitzer, mit deren
Interesse allerdings daß der größern Bauern bis zu einem gewissen Punkte
zusammenfällt. Daß über diesen Punkt hinaus die Interessen beider Stände
auseinandergehen, und daß zwischen dem Kleinbauer und dem Großgrund¬
besitzer überhaupt keine Interessengemeinschaft besteht, sangen die Bauern hie
und da um zu begreifen. Aber sie haben keine eignen Organe, durch die sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/419>, abgerufen am 22.07.2024.