Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Landarbeiterfrage

emporzuschwingen, so wird er eine solche Stellung in der Maschinenbananstalt
vorziehen; er trifft in diesem Falle seine Wahl vollkommen frei. Ebenso liegen
die Dinge beim Schiffsbau, bei der Reederei, beim Großhandel, beim Bücher-
Verlag, bei der Glockengießerei, beim Orgelbau u. s. w., kurz, überall wo ge¬
sellschaftlich notwendige Dinge nur durch das Zusammenwirken vieler hergestellt
werden können; hier haben wir also Arbeitsgemeinschaften, aber, wo sie nicht
ausarten, kein Sklavenverhältnis. Dagegen ein Rock, ein Stiefel kann von
einem einzigen Schneider oder Schuster ganz so gut fertig gemacht werden,
wie in einer Fabrik oder unter der Oberleitung eines Unternehmers; Schweisz-
treiberwerkstätten und Konfektionsgeschäfte siud schlechterdings nicht dazu er¬
forderlich, die Volksgenossen mit Kleidungsstücken zu versorgen. Treten der
Schneider, der Schuster, die Nähterin in die Dienste eines Unternehmers, der
reich wird, während sie bei sechzehnstündiger Arbeit kaum das trockne Brot
haben, so thun sie das nicht freiwillig, auch nicht durch die Natur des zu er¬
zeugenden Gutes gezwungen, sondern ganz allein durch die Macht des Gcld-
kapitals bezwungen: sie sind Lohnsklaven.

Bei der Landwirtschaft liegt nun die Sache so, daß jeder tüchtige Knecht
und Tagelöhner fähig ist und daher auch das Verlangen hat, ein eignes kleines
Gut zu bewirtschaften, und nnr so lange für einen Gutsherrn arbeitet, als er
muß, wie denn überhaupt kein tüchtiger Mensch freiwillig für einen andern
arbeitet, menn er für eigne Rechnung arbeiten kann. Die untüchtigen freilich
stehen sich als Knechte eines Herrn besser, weil sie auf einer eignen Wirtschaft
nicht durchkommen würden, und der Slave, dieser geborne Sklave, der die ihn
schlagende Hand küßt, verlangt gar nichts andres. Allerdings haben ihn der
Kulturkampf, die Polengesetze und die Schule in den letzten zwanzig Jahren
dermaßen aufgerüttelt, daß er anfängt, zum Selbstbewußtsein zu erwachen, sich
gegen seine Herren aufzulehnen, aus der Sklaverei zu flüchten und sozial¬
demokratische Vereine zu gründen. Also der Hofearbeiter des ostelbischeu Landes
ist im allgemeinen unfrei. Da jedoch die große Gutswirtschaft keineswegs über¬
flüssig ist, ja des landwirtschaftlichen Fortschritts wegen gar nicht entbehrt
werden kann, so mag auch der Jnstmaun, wofern er sein Auskommen hat, vor
Kündigung sicher ist und gut behandelt wird, seine Stellung als Arbeits¬
gemeinschaft ansehen und erträglich finden, wenn sie auch einen patriarchalischen
Anstrich hat, der sie der Hörigkeit nahe bringt.

Bei der gegenwärtigen Lage des Landarbeiterstandcs und noch mehr bei
der Lage, die ihm die Gutsbesitzer in einer in ihrem Sinne bessern Zukunft
zugedacht haben, ist nnn seine verfassungsmäßige Stellung im Reiche und im
Staat eine Ungeheuerlichkeit; geprügelter Höriger und zugleich freier Staats¬
bürger, so ein Unsinn ist noch nicht dagewesen, so lange die Welt steht. V. d. Goltz
findet denn auch wenigstens die Reichsverfassung bedenklich. "Die Sozialdemo¬
kraten -- meint er S. 153 -- steigern das selbstbewußtem der Arbeiter in


Grenzboten IV 1893 52
Die Landarbeiterfrage

emporzuschwingen, so wird er eine solche Stellung in der Maschinenbananstalt
vorziehen; er trifft in diesem Falle seine Wahl vollkommen frei. Ebenso liegen
die Dinge beim Schiffsbau, bei der Reederei, beim Großhandel, beim Bücher-
Verlag, bei der Glockengießerei, beim Orgelbau u. s. w., kurz, überall wo ge¬
sellschaftlich notwendige Dinge nur durch das Zusammenwirken vieler hergestellt
werden können; hier haben wir also Arbeitsgemeinschaften, aber, wo sie nicht
ausarten, kein Sklavenverhältnis. Dagegen ein Rock, ein Stiefel kann von
einem einzigen Schneider oder Schuster ganz so gut fertig gemacht werden,
wie in einer Fabrik oder unter der Oberleitung eines Unternehmers; Schweisz-
treiberwerkstätten und Konfektionsgeschäfte siud schlechterdings nicht dazu er¬
forderlich, die Volksgenossen mit Kleidungsstücken zu versorgen. Treten der
Schneider, der Schuster, die Nähterin in die Dienste eines Unternehmers, der
reich wird, während sie bei sechzehnstündiger Arbeit kaum das trockne Brot
haben, so thun sie das nicht freiwillig, auch nicht durch die Natur des zu er¬
zeugenden Gutes gezwungen, sondern ganz allein durch die Macht des Gcld-
kapitals bezwungen: sie sind Lohnsklaven.

Bei der Landwirtschaft liegt nun die Sache so, daß jeder tüchtige Knecht
und Tagelöhner fähig ist und daher auch das Verlangen hat, ein eignes kleines
Gut zu bewirtschaften, und nnr so lange für einen Gutsherrn arbeitet, als er
muß, wie denn überhaupt kein tüchtiger Mensch freiwillig für einen andern
arbeitet, menn er für eigne Rechnung arbeiten kann. Die untüchtigen freilich
stehen sich als Knechte eines Herrn besser, weil sie auf einer eignen Wirtschaft
nicht durchkommen würden, und der Slave, dieser geborne Sklave, der die ihn
schlagende Hand küßt, verlangt gar nichts andres. Allerdings haben ihn der
Kulturkampf, die Polengesetze und die Schule in den letzten zwanzig Jahren
dermaßen aufgerüttelt, daß er anfängt, zum Selbstbewußtsein zu erwachen, sich
gegen seine Herren aufzulehnen, aus der Sklaverei zu flüchten und sozial¬
demokratische Vereine zu gründen. Also der Hofearbeiter des ostelbischeu Landes
ist im allgemeinen unfrei. Da jedoch die große Gutswirtschaft keineswegs über¬
flüssig ist, ja des landwirtschaftlichen Fortschritts wegen gar nicht entbehrt
werden kann, so mag auch der Jnstmaun, wofern er sein Auskommen hat, vor
Kündigung sicher ist und gut behandelt wird, seine Stellung als Arbeits¬
gemeinschaft ansehen und erträglich finden, wenn sie auch einen patriarchalischen
Anstrich hat, der sie der Hörigkeit nahe bringt.

Bei der gegenwärtigen Lage des Landarbeiterstandcs und noch mehr bei
der Lage, die ihm die Gutsbesitzer in einer in ihrem Sinne bessern Zukunft
zugedacht haben, ist nnn seine verfassungsmäßige Stellung im Reiche und im
Staat eine Ungeheuerlichkeit; geprügelter Höriger und zugleich freier Staats¬
bürger, so ein Unsinn ist noch nicht dagewesen, so lange die Welt steht. V. d. Goltz
findet denn auch wenigstens die Reichsverfassung bedenklich. „Die Sozialdemo¬
kraten — meint er S. 153 — steigern das selbstbewußtem der Arbeiter in


Grenzboten IV 1893 52
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0417" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216141"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Landarbeiterfrage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1438" prev="#ID_1437"> emporzuschwingen, so wird er eine solche Stellung in der Maschinenbananstalt<lb/>
vorziehen; er trifft in diesem Falle seine Wahl vollkommen frei. Ebenso liegen<lb/>
die Dinge beim Schiffsbau, bei der Reederei, beim Großhandel, beim Bücher-<lb/>
Verlag, bei der Glockengießerei, beim Orgelbau u. s. w., kurz, überall wo ge¬<lb/>
sellschaftlich notwendige Dinge nur durch das Zusammenwirken vieler hergestellt<lb/>
werden können; hier haben wir also Arbeitsgemeinschaften, aber, wo sie nicht<lb/>
ausarten, kein Sklavenverhältnis. Dagegen ein Rock, ein Stiefel kann von<lb/>
einem einzigen Schneider oder Schuster ganz so gut fertig gemacht werden,<lb/>
wie in einer Fabrik oder unter der Oberleitung eines Unternehmers; Schweisz-<lb/>
treiberwerkstätten und Konfektionsgeschäfte siud schlechterdings nicht dazu er¬<lb/>
forderlich, die Volksgenossen mit Kleidungsstücken zu versorgen. Treten der<lb/>
Schneider, der Schuster, die Nähterin in die Dienste eines Unternehmers, der<lb/>
reich wird, während sie bei sechzehnstündiger Arbeit kaum das trockne Brot<lb/>
haben, so thun sie das nicht freiwillig, auch nicht durch die Natur des zu er¬<lb/>
zeugenden Gutes gezwungen, sondern ganz allein durch die Macht des Gcld-<lb/>
kapitals bezwungen: sie sind Lohnsklaven.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1439"> Bei der Landwirtschaft liegt nun die Sache so, daß jeder tüchtige Knecht<lb/>
und Tagelöhner fähig ist und daher auch das Verlangen hat, ein eignes kleines<lb/>
Gut zu bewirtschaften, und nnr so lange für einen Gutsherrn arbeitet, als er<lb/>
muß, wie denn überhaupt kein tüchtiger Mensch freiwillig für einen andern<lb/>
arbeitet, menn er für eigne Rechnung arbeiten kann. Die untüchtigen freilich<lb/>
stehen sich als Knechte eines Herrn besser, weil sie auf einer eignen Wirtschaft<lb/>
nicht durchkommen würden, und der Slave, dieser geborne Sklave, der die ihn<lb/>
schlagende Hand küßt, verlangt gar nichts andres. Allerdings haben ihn der<lb/>
Kulturkampf, die Polengesetze und die Schule in den letzten zwanzig Jahren<lb/>
dermaßen aufgerüttelt, daß er anfängt, zum Selbstbewußtsein zu erwachen, sich<lb/>
gegen seine Herren aufzulehnen, aus der Sklaverei zu flüchten und sozial¬<lb/>
demokratische Vereine zu gründen. Also der Hofearbeiter des ostelbischeu Landes<lb/>
ist im allgemeinen unfrei. Da jedoch die große Gutswirtschaft keineswegs über¬<lb/>
flüssig ist, ja des landwirtschaftlichen Fortschritts wegen gar nicht entbehrt<lb/>
werden kann, so mag auch der Jnstmaun, wofern er sein Auskommen hat, vor<lb/>
Kündigung sicher ist und gut behandelt wird, seine Stellung als Arbeits¬<lb/>
gemeinschaft ansehen und erträglich finden, wenn sie auch einen patriarchalischen<lb/>
Anstrich hat, der sie der Hörigkeit nahe bringt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1440" next="#ID_1441"> Bei der gegenwärtigen Lage des Landarbeiterstandcs und noch mehr bei<lb/>
der Lage, die ihm die Gutsbesitzer in einer in ihrem Sinne bessern Zukunft<lb/>
zugedacht haben, ist nnn seine verfassungsmäßige Stellung im Reiche und im<lb/>
Staat eine Ungeheuerlichkeit; geprügelter Höriger und zugleich freier Staats¬<lb/>
bürger, so ein Unsinn ist noch nicht dagewesen, so lange die Welt steht. V. d. Goltz<lb/>
findet denn auch wenigstens die Reichsverfassung bedenklich. &#x201E;Die Sozialdemo¬<lb/>
kraten &#x2014; meint er S. 153 &#x2014; steigern das selbstbewußtem der Arbeiter in</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1893 52</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0417] Die Landarbeiterfrage emporzuschwingen, so wird er eine solche Stellung in der Maschinenbananstalt vorziehen; er trifft in diesem Falle seine Wahl vollkommen frei. Ebenso liegen die Dinge beim Schiffsbau, bei der Reederei, beim Großhandel, beim Bücher- Verlag, bei der Glockengießerei, beim Orgelbau u. s. w., kurz, überall wo ge¬ sellschaftlich notwendige Dinge nur durch das Zusammenwirken vieler hergestellt werden können; hier haben wir also Arbeitsgemeinschaften, aber, wo sie nicht ausarten, kein Sklavenverhältnis. Dagegen ein Rock, ein Stiefel kann von einem einzigen Schneider oder Schuster ganz so gut fertig gemacht werden, wie in einer Fabrik oder unter der Oberleitung eines Unternehmers; Schweisz- treiberwerkstätten und Konfektionsgeschäfte siud schlechterdings nicht dazu er¬ forderlich, die Volksgenossen mit Kleidungsstücken zu versorgen. Treten der Schneider, der Schuster, die Nähterin in die Dienste eines Unternehmers, der reich wird, während sie bei sechzehnstündiger Arbeit kaum das trockne Brot haben, so thun sie das nicht freiwillig, auch nicht durch die Natur des zu er¬ zeugenden Gutes gezwungen, sondern ganz allein durch die Macht des Gcld- kapitals bezwungen: sie sind Lohnsklaven. Bei der Landwirtschaft liegt nun die Sache so, daß jeder tüchtige Knecht und Tagelöhner fähig ist und daher auch das Verlangen hat, ein eignes kleines Gut zu bewirtschaften, und nnr so lange für einen Gutsherrn arbeitet, als er muß, wie denn überhaupt kein tüchtiger Mensch freiwillig für einen andern arbeitet, menn er für eigne Rechnung arbeiten kann. Die untüchtigen freilich stehen sich als Knechte eines Herrn besser, weil sie auf einer eignen Wirtschaft nicht durchkommen würden, und der Slave, dieser geborne Sklave, der die ihn schlagende Hand küßt, verlangt gar nichts andres. Allerdings haben ihn der Kulturkampf, die Polengesetze und die Schule in den letzten zwanzig Jahren dermaßen aufgerüttelt, daß er anfängt, zum Selbstbewußtsein zu erwachen, sich gegen seine Herren aufzulehnen, aus der Sklaverei zu flüchten und sozial¬ demokratische Vereine zu gründen. Also der Hofearbeiter des ostelbischeu Landes ist im allgemeinen unfrei. Da jedoch die große Gutswirtschaft keineswegs über¬ flüssig ist, ja des landwirtschaftlichen Fortschritts wegen gar nicht entbehrt werden kann, so mag auch der Jnstmaun, wofern er sein Auskommen hat, vor Kündigung sicher ist und gut behandelt wird, seine Stellung als Arbeits¬ gemeinschaft ansehen und erträglich finden, wenn sie auch einen patriarchalischen Anstrich hat, der sie der Hörigkeit nahe bringt. Bei der gegenwärtigen Lage des Landarbeiterstandcs und noch mehr bei der Lage, die ihm die Gutsbesitzer in einer in ihrem Sinne bessern Zukunft zugedacht haben, ist nnn seine verfassungsmäßige Stellung im Reiche und im Staat eine Ungeheuerlichkeit; geprügelter Höriger und zugleich freier Staats¬ bürger, so ein Unsinn ist noch nicht dagewesen, so lange die Welt steht. V. d. Goltz findet denn auch wenigstens die Reichsverfassung bedenklich. „Die Sozialdemo¬ kraten — meint er S. 153 — steigern das selbstbewußtem der Arbeiter in Grenzboten IV 1893 52

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/417
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/417>, abgerufen am 22.07.2024.